Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → FAKTEN

FRAGEN/002: Buchautor Matthew Carr zu Menschenrechtsverletzungen vor den Toren der "Festung Europa" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Dezember 2012

Migration: Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung und Rassismus in der 'Festung Europa' - Interview mit Buchautor Carr

von Rebecca Hanser



New York, 6. Dezember (IPS) - Entlang der Grenzen des modernen Europas haben Migranten mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen: den widersprüchlichen und verwirrenden Einwanderungsgesetzen der verschiedenen Länder und den Gräueln, die sie in den Grenzgebieten erwarten. Von ihren Geschichten handelt das neue Buch von Matthew Carr, 'Fortress Europe: Dispatches from a Gated Community'. Der Leser wird auf 279 Seiten auf eine Reise mitgenommen, die das ganze Elend schildert, das vor allem nordafrikanische Migranten vor und hinter den Toren der Festung Europa erwartet.

Im Interview mit IPS spricht der Autor über die düsteren Geschichten, die er während seiner Recherchen erfahren hat. Die betroffenen Migranten, die vorwiegend aus Nordafrika stammen, riskierten ihr Leben, um Meere, Wüsten und Gebirge zu überqueren, um Europa in der Hoffnung auf Freiheit, Zuflucht und eine bessere Zukunft zu erreichen. Stattdessen erwartet sie Ausbeutung, Ausweisung, Rassendiskriminierung, Fremdenhass und Menschenrechtsverletzungen. Es folgen Auszüge aus dem Gespräch:

IPS: Mit 'Fortress Europe' betreten sie ein ähnliches Terrain wie mit ihrem vorherigen Buch 'Blood and Faith', in dem sie über die Vertreibung der Muslime aus Spanien im frühen 17. Jahrhundert schreiben. Warum haben Sie dieses Sujet ausgewählt, was interessiert Sie daran?

Matthew Carr: Die Vertreibung der muslimischen Minderheit aus Spanien im 17. Jahrhundert war ein frühes Beispiel für ein Phänomen, das sich in der Geschichte Europas oft wiederholt hat. Mächtige Gesellschaften stellen schwächere soziale Gruppen als fremd, minderwertig und inkompatibel dar und versuchen sich selbst durch Gewalt, Verfolgung und Ausgrenzung zu "reinigen".

Ich habe das Buch als eine "geschichtliche Warnung" geschrieben, im Zusammenhang mit der europäischen Besessenheit vom Thema Einwanderung. Muslime werden immer mehr als existenzielle und kulturelle Bedrohung dargestellt. Daher war es eine logische Weiterentwicklung, ein Buch über Migranten, Flüchtlinge und Grenzen zu schreiben.

IPS: Sie erwähnten, dass Sie zweieinhalb Jahre an der Fertigstellung Ihres Buches gearbeitet haben. Können Sie uns etwas über diese Reise erzählen? Was waren die besonderen Momente, und wie hat sich Ihr Leben geändert?

Carr: Jedes Buch, das man schreibt, verändert in gewisser Hinsicht die eigene Denkweise. Dieses Buch bildet keine Ausnahme. Als ich entlang der Grenzen unterwegs war, hörte ich einige sehr düstere Geschichten. Ich traf Migranten, die in Situationen waren, die sie sehr angreifbar machten. Anfangs war ich auf diesen Reisen sehr schockiert über das, was ich hörte. Nach kurzer Zeit wurden diese Geschichten aber fast zur Gewohnheit.

Zugleich war ich immer beeindruckter von der Stärke und Widerstandskraft vieler Migranten, die ich traf. Und überall wo ich hinfuhr, begegnete ich Männern und Frauen in nichtstaatlichen und wohltätigen Organisationen, die in außergewöhnlichem Maße zu helfen versuchten. Ohne ihre Unterstützung hätte ich dieses Buch nie geschrieben.

IPS: In 'Fortress Europe' beziehen Sie sich oft auf die europäische Geschichte, um die Gräuel zu beschreiben, denen Migranten ausgesetzt sind. Wiederholt sich die Geschichte in Europa?

Carr: Ich würde nicht sagen, dass sie sich wiederholt - das tut die Geschichte nie. Doch sowohl die Europäische Union als auch die 'Festung Europa' sind Produkte der Geschichte. Es gibt sicherlich einige beunruhigende Ähnlichkeiten, die in Europas gegenwärtigem Umgang mit Einwanderern ohne Papiere und Flüchtlingen fortbestehen.

Ebenso setzt sich die Art und Weise fort, in der die Gesellschaften in Europa sich im 20. Jahrhundert gegenüber bestimmten Gruppen von Einwanderern und Flüchtlingen verhalten haben. Diese Geschichte kann uns hoffentlich daran erinnern, welch gefährliche Konsequenzen die derzeitigen Einwanderungsbestimmungen haben können, und uns dazu bewegen, nach humaneren und kohärenteren Alternativen zu diesen Strategien zu suchen.

IPS: Bei Inkrafttreten des Schengener Abkommens von 1985, das die Grenzkontrollen zwischen 26 der EU-Mitgliedsstaaten abschaffte, wurde Europa für seine 'Politik ohne Grenzen' gelobt. Ihr Buch hat aber nicht nur die Schattenseite der Globalisierung, sondern auch die Europas gezeigt, indem Sie Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen hervorgehoben haben. Welche Auswirkung können diese Praktiken auf den Ruf Europas haben?

Carr: Einer der Gründe, weswegen die Architekten der Europäischen Union die Menschenrechte ins Zentrum ihrer politischen Identität gerückt haben, besteht darin, dass sie das neue Europa von den katastrophalen Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgrenzen wollten. Heute führen die verschärften Kontrollen an den EU-Außengrenzen aber dazu, dass Migranten Tod, Gewalt, Ausgrenzung und Schikanen seitens der Behörden drohen.

Diese Folgen werden von der breiten Öffentlichkeit oft übersehen. Sie stellen aber einen eklatanten Widerspruch zu dem europäischen Engagement für Menschenrechte, Offenheit und Solidarität dar.

IPS: In Ihrem Buch erwähnen Sie den nigerianischen Journalisten Emmanuel Mayah, der sich als Migrant ausgab, 2010 die Sahara durchquerte und mit anderen Migranten in überfüllten Lastwagen Spanien erreichen wollte. Könnte Sie sein Beispiel zu einer Fortsetzung von 'Fortress Europe' anregen?

Carr: Vielleicht, aber ich denke, dass die Geschichte der Sahara-Durchquerungen von jemand anderem erzählt werden sollte. Angesichts der aktuellen Lage in Mali und Libyen ist es sicherlich schwierig, diese Geschichte jetzt aufzuschreiben. Ein Journalist, der sich darauf einlassen würde, müsste unerschrockener sein als ich es bin und würde eine Menge Glück brauchen. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.ebook.de/de/product/19395577/matthew_carr_fortress_europe.html
http://www.ipsnews.net/2012/11/qa-for-europe-bound-migrants-rights-violations-await/

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 6. Dezember 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2012