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SCHULDEN/009: Griechische Tragödie in vier Akten (SOLIDAR WERKSTATT)


SOLIDAR WERKSTATT für ein solidarisches, neutrales und weltoffenes ÖSTERREICH
WERKSTATT-Blatt Nr. 2/2011


Griechische Tragödie in vier Akten

Vom EU-Binnenmarkt zur politischen Entmündigung


Die Deregulierung und Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte durch die EU hat einen Teufelskreis in Gang gesetzt: Niederkonkurrieren auf den Gütermärkten - Verschuldung und Überschuldung auf den Finanzmärkten - politische Unterwerfung der im Konkurrenzkampf Unterlegenen.


1. Akt: - Jubel und Unkenrufe (90er Jahre)

Noch schaut gar nichts nach Tragödie aus: Freier EU-Binnenmarkt - Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs; und schließlich auch noch: Währungsunion - keine Wechselkursschwankungen und Umtauschkosten mehr. Europa wächst zusammen, erzählen uns Politik und Medien. Ewige Bedenkenträger wie z.B. die Friedenswerkstatt (heute Solidarwerkstatt) vermiesen den Jubel schon damals mit der Kritik, dass Binnenmarkt und Währungsunion "Europa nicht integrieren, sondern spalten und dem Rechtsextremismus den Boden aufbereiten werden" (Positionspapier, November 1998).


2. Akt: - Exportschlachten (2000 bis 2008)

Die Realität hält sich nicht an die regierungsamtliche Propaganda. Europa wächst nicht zusammen, sondern driftet ökonomisch auseinander. Denn mit Binnenmarkt und Währungsunion werden alle Dämme geschleift, die einer hemmungslosen Konkurrenz noch im Weg gestanden sind. Im Propagandataumel hat man vergessen zu erwähnen, dass Wechselkurse ein Puffer sind, der schwächere Länder davor schützen kann, vollkommen unter die Räder übermächtiger Konkurrenten zu kommen. Die deutsche Exportindustrie (und im Windschatten auch die österreichische) gewinnen überlegen die 10-jährige Exportschlacht seit Einführung der Währungsunion - nicht, weil ihre Produktivität rascher als die der Griechen wächst, sondern weil "ihre" Gewerkschaften Gewehr bei Fuß stehen und eine in der Nachkriegszeit einmalige Umverteilung von Arbeit zu Kapital akzeptieren. Die Lohnquote in Deutschland sinkt von 2000 bis 2007 um 7%, in Österreich um 5%, im Euro-Raum ohne Deutschland jedoch nur um rd. 1%. Vor allem die südeuropäischen Gewerkschaften sind kämpferischer: Sie können die Lohnquote zumindest halten, manchmal sogar leicht erhöhen. Das Resultat: Deutschland wird - zum Großteil auf Kosten der EU-"Partner" - Exportweltmeister mit einem Handelsbilanzüberschuss von 194 Mrd. im Jahr 2007. Die Leistungsbilanzen der Mittelmeer-Länder schmieren spiegelbildlich dazu ab. Während der deutsche Exportüberschuss auf 5% des BIP klettert, wächst der griechische Importüberhang auf bedrohliche 14% des BIP.


3. Akt: - Vom Leistungsbilanzdefizit zur Schuldenkrise (2008 - 2010)

Negative Leistungsbilanz heißt: Man importiert mehr Güter und Dienstleistungen als man exportiert. Gegenfinanziert wird durch Verschuldung - großteils bei den Banken der Überschussländer, allen voran Deutschlands und Frankreichs. Ein solcher Verschuldungskreislauf kann nicht ewig gut gehen. Und es gibt viele solcher Verschuldungskreisläufe, in der EU, auf Weltebene - ausgelöst durch das, was die EU sogar im Primärrecht verankert: Freihandel und Liberalisierung der Kapitalmärkte. Das führt zu immer rascherer Umverteilung von unten nach oben, immer stärkere Ungleichgewichte zwischen Export- und Importüberschüssen, immer stärkerer Verschuldung. Die Folge: eine massive Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008. Die vormals viel geschmähten Staaten "retten" nun die Banken mit vielen Milliarden und verhindern den Totalabsturz der Konjunktur. Aus der Finanz- wird eine Budgetkrise der öffentlichen Haushalte, von der Defizitländer wie Griechenland ungleich stärker betroffen sind als die Überschussländer wie Deutschland oder Österreich. Die griechischen Staatsschulden klettern seit 2008 von 110% auf 150% seines BIPs. Da die EU-Staaten mit der Währungsunion zugleich die Verfügungsgewalt über die Geldpolitik an die Europäische Zentralbank abgetreten haben, ist die Verschuldung in Euro gleichbedeutend mit Verschuldung in einer fremden Währung. Das Instrument zinsenloser Notenbankkredite, das gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wirkungsvoll eingesetzt werden kann, um die Konjunktur ohne ausufernde Verschuldung zu stimulieren, ist durch die EU-Verträge ausdrücklich untersagt. Damit werden an den Finanzmärkten die Zinsen für Anleihen von Ländern wie Griechenland in astronomische Höhen getrieben. 2011 muss Athen für eine zweijährige Anleihe 25% Zinsen pro Jahr zahlen. Dafür dürfen sich die Griechen als "Faulenzer" und "Pleitegriechen" verhöhnen lassen. Der Hass von Arbeitslosen und prekär Arbeitenden in Deutschland und Öster reich wird auf die oft noch viel Ärmeren im Süden gelenkt, die Rechtsextremen feiern Hochkonjunktur. So lässt sich vortrefflich von den Profiteuren und Verursachern der Krise - insbesondere der EU-Politik - ablenken.


4. Akt: - Von der Schuldenkrise zum politischen Diktat (2011ff.)

Show-down. Die politische und ökonomische Ernte wird eingefahren. Die EU schnürt "Rettungspakete". Im Klartext heißt das:

• Den Banken werden die risikoreichen Wertpapiere, mit denen sie bereits gute Geschäfte betrieben haben, zu glänzenden Konditionen abgelöst. Die Haftung dafür übernehmen die Steuerzahler der EU-Staaten. Derzeitige Haftungssumme für die verschiedenen Euro-Hilfsprogramme: 1,542 Billionen Euro.

• Länder wie Griechenland werden ökonomisch und politisch enteignet: einerseits durch brutale Spar- und Privatisierungsprogramme (50 Milliarden Privatisierungspaket in Griechenland!), deren Profiteure wieder die Exportindustrien der Überschussländer sind; andererseits durch EU-Kommission, IWF und deutsche Regierung, die Länder wie Griechenland politisch "entmündigen" (Süddeutsche, 08.04.2011) und von nun an Politik und Geschäfte in Athen führen. Griechenland soll nach dem "Vorbild" der DDR mittels deutsch geführter "Treuhandgesellschaft" "abgewickelt" werden. Da die GriechInnen aber weder Transferzahlungen erhalten noch als Wahlvolk etwas mitreden können, gibt es dafür nur eine zutreffende Bezeichnung: Kolonialismus.

• Weil aber die Schulden in allen EU-Staaten im Zuge der Krise stark angestiegen sind, werden die demokratisch gewählten Parlamente aller EU-Staaten in ihrem letzten noch verbliebenen großen Entscheidungsbereich - der Budgetpolitik - weitgehend entmachtet. Dieser autoritäre EU-Putsch trägt harmlose Namen: "Europäisches Semester", "Verschärfung des Stabilitätspakt" und schließlich "Euro-Plus-Pakt". Das deutsche Modell der Exportweltmeisterschaft und Niedriglohnpolitik soll damit allen EU-Staaten vorgegeben werden. Jeder weiß, dass das nicht funktioniert. Wer wird als Nächster von Brüssel und Berlin "entmündigt" werden?


Epilog

Es gehört zu den dümmsten Gemeinplätzen, die derzeit von hochbezahlten Ökonomen feilgeboten werden, dass die EU mit dem "Rettungsschirm" den "Finanzmärkten" endlich Paroli geboten habe. Tatsächlich verhält es sich gerade andersrum. Die Deregulierung und Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte ist in Europa vor allem das Ergebnis einer gezielten Politik der EU-Machteliten, durch die EU-Verträge in Stein gemeißelt.

Dadurch wurde ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Niederkonkurrieren auf den Gütermärkten - Verschuldung/Überschuldung auf den Finanzmärkten - politische Unterwerfung. Die deutsche Regierung diktiert im Verbund mit EU-Kommission den EU-Staaten immer unverschämter neoliberale Rosskuren. EU und Finanzmärkte liefern sich kein Match gegeneinander, sondern im Doppelpass werden Sozialstaat und Demokratie an die Wand gespielt. Höchste Zeit, dieses Spielfeld zu verlassen.


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Quelle:
WERKSTATT-Blatt (guernica) 2/2011, Seite 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2011