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SCHULDEN/044: Schulden und Schuldige - Deutsche Krisendeutungen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 137/September 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Schulden und Schuldige
Deutsche Krisendeutungen

von Reinhard Blomert



Kurzgefasst: Die weltweite Finanzkrise hat in der Eurozone zu einer Staatskrise geführt, weil einige Mitgliedsstaaten die Schulden ihrer vom Bankrott bedrohten Banken übernommen haben. Durch Spekulationen mit ihren Staatsanleihen sind sie in Finanzierungsnot geraten. Zwischen diesen und einem Teil der übrigen Staaten, die die notwendigen Kapitalhilfen oder Bürgschaften zur Unterstützung der in Not geratenen Staaten aufbringen sollen, spielt sich das Drama von Gläubiger und Schuldner ab. Um die Eurozone zu bewahren, bedarf es der Überwindung dieser Polarisierung im Rahmen eines neuen europäischen Gesamtkonzepts, das künftig auch die Ursachen der Krise, die Kapitalfehlallokationen, begrenzt.


Nach der Lehman-Pleite im September 2008 wurde schnell deutlich, dass auch europäische Banken ungehemmt gigantische Fehlinvestitionen getätigt hatten. Die Schulden der Banken in Deutschland, Großbritannien, Island, Irland und in den südlichen Eurozonenländern, die sich verspekuliert hatten, wurden aufgrund eines Beschlusses der G8-Staaten von ihren Heimatstaaten übernommen, um die Finanzmärkte zu retten. Die Folge: Staaten gaben Bürgschaften ohne strenge Bedingungen und kauften Bankanleihen ohne Stimmrechte, um die höchst lückenhaft gewordene Kapitaldecke zu schließen und den Geldinstituten die Fortführung ihrer Geschäfte zu ermöglichen.

Die Schulden belasteten nun die Staatshaushalte. Die Lage in Irland, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien wurde prekär und durch die einsetzende Rezession noch verstärkt. Seit 2010 können die Länder neue Staatsanleihen, mit denen sie fällig gewordene Staatspapiere refinanzieren müssen, nur gegen überhöhte Zinsen absetzen. Die auf den Auktionen für Staatsanleihen zugelassenen Investmentbanken übernehmen seitdem die Anleihen dieser Länder erst ab einem Zinssatz von mehr als sechs Prozent - einem Satz also, der über dem Dreifachen der Wachstumsrate liegt und diese Staaten tiefer in die Schulden treibt.

Das war zugleich ein Angriff auf die Eurozone. Bis dahin hatte für alle Länder ein etwa gleicher Zinssatz gegolten, da man davon ausging, dass es sich um eine echte Währungsgemeinschaft handelt. Die Länder in der Eurozone waren auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet und reagierten mit einer hektischen Folge von Sitzungen und Gesetzespaketen. Eine langfristige Lösung ist bislang nicht abzusehen.

Die deutsche Bundesregierung, unterstützt von großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit, beharrt darauf, dass jedes Mitgliedsland seine Verteidigung gegen die Spekulanten auf den Devisenmärkten selbst organisiert. Luxemburg, Finnland und Österreich teilen die deutsche Position. Die übrigen Euroländer vermissen die Solidarität zwischen den Mitgliedern der Eurozone, zumal die Deutschen gut an der Immobilienkonjunktur in den südlichen Euroländern und an Bauprojekten wie dem neuen Athener Olympiastadion und dem Athener Flughafen verdient haben. Sie fragen sich: Sind die Kapitalfehlallokationen in der Eurozone Schuld der Nationalstaaten? Hat der Euro nicht sein Ziel verfehlt, Staaten vor Spekulationen zu schützen? Warum werden einzelne Mitgliedsstaaten der Eurozone haftbar gemacht für die Folgen einer schrankenlosen Kapitalmobilität in der Europäischen Union?

Diagnose und Therapie der Eurokrise sind höchst umstritten. In Deutschland dominieren die Auseinandersetzung mit der "Schuld" der Krisenländer und der Ruf nach mehr Kontrolle. Die von den Banken bevorzugte Sprachregelung wird auch von der Bundesregierung benutzt: Statt Eurokrise wird vorrangig von "Staatsschuldenkrise" gesprochen, womit suggeriert wird, nicht die Banken, sondern die Staaten seien "schuld" an der Krise. Der deutsche Begriff "Schuld" vereint die beiden Bedeutungen von Schulden und Schuld, die im Englischen getrennt sind: "debt" und "guilt". Josef Joffe, der Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, nennt die Länder Frankreich, Italien und Spanien "Sünder". Bundesfinanzminister Schäuble beschrieb die hohen Zinsen für Staatsanleihen sogar als eine "berechtigte Strafe", die darin bestehe, dass diese Länder sparen müssten.

Die Diskussion endet in Deutschland fast immer mit Hinweisen auf juristische Grenzen und dem Wunsch nach einer allumfassenden Kontrolle. Es sind ordnungspolitische Prinzipien, auf die man sich beruft: "Verträge sind einzuhalten". In der deutschen Öffentlichkeit herrscht die Ansicht vor, dass der Euro "ins Schleudern gekommen sei, weil viele Staaten - zeitweise auch Deutschland - die vereinbarten Stabilitätsgesetze nicht eingehalten" hätten, wie es der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch formulierte. Der frühere Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), Jürgen Stark, beklagt, Umsetzungen der Empfehlungen der EU-Kommission an die nationale Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten seien nie kontrolliert worden.

Warum herrscht diese Ansicht in Deutschland vor? Vielleicht wird sie durch eine Einschätzung des britischen Historikers Timothy Garton Ash erklärbar. Ash sagte in einem Interview, er habe viel Sympathie für deutsche Steuerzahler, die sagten: Wir haben gespart, Lohnverzicht geübt und die anderen haben auf Pump gelebt - dafür wollen wir nicht noch geradestehen.

Das Argument, der deutsche Steuerzahler habe selbst Lohnverzicht geübt, legt nicht nur nahe, dass diese Opfer einen ökonomischen Sinn haben - sonst hätte man sie ja umsonst gebracht! Es impliziert auch, die anderen Länder hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Von ihnen könnten daher auch Opfer verlangt werden - ein weiterer Topos der Debatte, der in verschiedenen Varianten auftaucht und in der Forderung nach dem Verkauf von griechischen Ferieninseln gipfelte.

Was wir hier vorfinden, ist das klassische Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner. Obwohl nicht jeder Deutsche ein Gläubiger ist, so scheint sich doch die Mehrheit in dieser Position wiederzufinden, selbst wenn es eine Position ist, die seit Shakespeares Kaufmann von Venedig eher als unsympathisch empfunden wird. Allein die Exportbilanz scheint der Mehrheit recht zu geben: Der Ausfuhrüberschuss im Jahr 2010 betrug über 153 Milliarden Euro, davon mehr als 122 Milliarden Euro in EU-Länder. Kein Wunder, dass in der deutschen Öffentlichkeit das Bild des Gläubigers Deutschland gegenüber seinen Schuldnern, den Krisenländern, dominiert.

Gläubiger und Schuldner haben selten ein entspanntes Verhältnis zueinander: Trotz aller offiziellen Bekenntnisse trauen sie sich gegenseitig nicht über den Weg. Daher werden die Kreditbeziehungen in der Regel über Banken abgewickelt, weil der Verkäufer dadurch rascher an sein Geld kommt und seine Schulden nicht selbst eintreiben muss. Und so ist es die Finanzbranche, die zwischen Hoffnung und Ärger vermittelt.

Aber was passiert, wenn die Finanzbranche selbst unter massiven Schulden und Kapitaleinbrüchen leidet? Sie wendet sich an den Staat, der nun, weil er den Banken hilft, selbst zum Schuldner wird. Die Positionen von Gläubiger und Schuldner sind seither in der Eurozone klar auf Nationalstaaten und Nationalitäten verteilt. Gläubiger und Schuldner finden sich nicht mehr in derselben Gesellschaft, in der sie ein politisches Übereinkommen finden müssen. Vielmehr sind es ganze Nationen, die sich gegenseitig nicht trauen. Der Zankapfel ist die gemeinsame Währung: Die Gläubiger wollen mit Zinsen und gutem Geld ausgezahlt werden, die Schuldner können in Zeiten der Krise ihre mit Aufschlägen versehenen Schulden nicht zurückzahlen und verlangen Streckung und Abschreibungen.

Schon immer gilt: Schuldner werden mit allen Mitteln gedrängt, ihre Ausfälle zu bezahlen. In mittelalterlichen Handelsstädten galt die Gemeinschaftshaftung, Kaufleute wurden wegen der Schulden eines Gildenbruders gefangen gehalten, bis die Mitbrüder ihn auslösten. In England wurden Schuldner in den Schuldturm gesperrt, in der Kolonialzeit setzte man Kanonenboote ein und in den 1920er Jahren schickte Frankreich die Armee ins Ruhrgebiet, um die Reparationen einzutreiben.

Dass diese Mittel nicht immer zum Ziel führten, ist bekannt, aber sie trugen einer moralischen Dimension Rechnung. Die Mittel, um Staatsschulden einzutreiben, haben meist genauso wenig Erfolg: Durch verordnete Lohnsenkungen, Verkauf von Staatseigentum, Entlassung von Staatsangestellten und Senkung der Renten werden Staaten zu sweatshops: Ihre Souveränität wird aufgehoben, Tarif- und Parlamentshoheit werden ausgehebelt. Die Nationen werden an den Pranger gestellt.

Auch die Hauptströmung der ökonomischen Wissenschaft steht aufseiten der Gläubiger, wenn sie vom moral hazard des Schuldners spricht, also dem moralisch verwerflichen Gewinn durch Unterlaufen von Regeln oder Ausnutzen von glücklichen Umständen, etwa wenn er der Zahlung des vollen Betrags entkommen kann, weil Inflation seine Schulden teilweise abtragen hilft. Sie schweigt jedoch vom moral hazard, wenn plötzlich Risikoaufschläge möglich werden, die Zinsen ansteigen und die Banken dasselbe, unverdiente Glück trifft. Dann sind es die Schuldner, die von "unverdientem Einkommen" sprechen, von Wucherzinsen oder von erpresserischem Geldverleih.

Die amerikanische Regierung wurde 2008 durch das Argument des moral hazard davon überzeugt, die Investmentbank Lehman Brothers nicht zu retten - mit dem bekannten Ergebnis der jüngsten Weltfinanzkrise. Mit diesem Argument Hilfen zu verweigern, hat den Zweck, leichtsinnige Geschäftsleute zu warnen, die bewusst das Scheitern und die nachfolgende Hilfe der Regierung einkalkulieren. Es enthält, wie man sogleich erkennt, eine tief verwurzelte Gläubigerangst - misstrauisch bis zur Menschenfeindschaft. Eine realistische Einschätzung der Situation findet aber nicht statt; Hilfsverweigerung wird in der moral-hazard-Argumentation zu einer moralischen Pflicht.

Die US-Regierung hat freilich diese Position rasch wieder verlassen. Zu lebendig wirkt noch immer das amerikanische Trauma der Großen Depression, die sich entwickeln konnte, weil die amerikanische Politik die Möglichkeit staatlichen Eingreifens in die Wirtschaft bis 1933 verweigerte. Das tiefe Misstrauen galt damals den Banken: "Vom organisierten Geld regiert zu werden, ist so schlimm, wie vom organisierten Verbrechen regiert zu werden", klagte Präsident Roosevelt bei einer Wahlveranstaltung 1936 im Madison Square Garden in New York. Roosevelt hat die Möglichkeiten des Staatseingriffs geschaffen und dem caveat emptor auch ein caveat venditor hinzugefügt: Nicht nur der Käufer - zum Beispiel eines Wertpapiers - muss aufpassen, sondern auch dem Verkäufer wird eine Verantwortung übertragen, für das, was er verkauft. Bis dahin galt das angelsächsische "Vertrag ist Vertrag" - es gab kein Wucherverbot wie in Kontinentaleuropa und keine allgemeinen gesetzlichen Vertrauensschutzregeln. Nun aber wurde darauf gedrungen, dass nicht nur die Käufer schuld sind, wenn sie etwas Kleingedrucktes in den Verträgen übersehen, sondern dass auch die Verkäufer die Verpflichtung haben, auf faire Vertragsgestaltung zu achten.

Eine Gläubigerposition ist in der Regel eine starke Position, aber sie ist nicht unumstößlich, denn der Gläubiger ist zumeist in der Minderheit, während die Schuldner in der Mehrheit sind. Seit der Wahl von François Hollande ist die Position Deutschlands in der Gläubigerrolle geschwächt: Denn Frankreich verlangt beides - Disziplin und Solidarität.

Deutschlands Angst, durch die Rettung ohne Auflagen zugleich das wirksamste Instrument zu verlieren, nämlich auf die Umwandlung der Schuldnerländer zu wettbewerbsfähigen Staaten einwirken zu können, mag berechtigt sein. Aber die Voraussetzung für eine Kontrolle ist ein europäischer Staat, der nicht nur Abgabe von Autonomie verlangt, sondern auch Schutz vor sozialen Einbrüchen bieten muss. Ein solcher Gedanke aber stößt auf breite Ablehnung in Deutschland. Die Nationalstaaten wurden moralisch bereits so diskreditiert, dass die Vorstellung, mit ihnen einen gemeinsamen Staat zu bilden, immer unrealistischer zu werden scheint.

Eine Währungsunion erfordert die Überwindung einer Haltung, die sich an den Ursachen der Krise für unschuldig hält: Caveat vendor - auch der Kreditgeber hat Verantwortung zu übernehmen, der Exporteur ebenso wie die Bank, die die Finanzierung übernommen hat. Die Identifikation mit dem Gläubigerstandpunkt ("keine Vergemeinschaftung der Schulden") führt in die Sackgasse. Ein zentralistisch kontrolliertes Europa, das den Mitgliedsstaaten die fiskalischen Spielräume gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs versagt, wird scheitern.

Wir müssen weiterhin in einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und der Varietäten leben, aber wer die Staaten fiskalisch einhegen will, muss auch die privaten Akteure begrenzen, um die wirtschaftlichen Schieflagen zu vermeiden, die zu Arbeitslosigkeit und Armut führen. Wer einer Schuldenbremse für die Staaten das Wort redet, darf über eine Schuldenbremse für Private nicht schweigen. Ein demokratisch-föderales Europa muss die Kapitalmobilität ebenso streng und demokratisch kontrollieren wie die Staatshaushalte.


Reinhard Blomert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projektgruppe bei der Präsidentin und Redakteur der Zeitschrift Leviathan.
reinhard.blomert@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 137, September 2012, Seite 21-24
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2012