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DILJA/004: Beispiel Türkei - der Nicht-EU-Staat braucht keinen Rettungsschirm (SB)


Rette sich aus der EU, wer kann ...

Drohender Staatsbankrott in Griechenland, Portugal, Spanien, Irland und Italien nicht trotz, sondern aufgrund ihrer EU-Mitgliedschaft?


Am 8. Juli erreichten die Arbeitskämpfe in Griechenland ihren Höhepunkt, ohne daß dies in den übrigen EU-Staaten noch zu einem nennenswerten Widerhall in Medien und Politik geführt hätte. Die griechischen Gewerkschaften hatten zum insgesamt sechsten Generalstreik dieses Jahres, dem zweiten innerhalb von nur zehn Tagen, aufgerufen, um gegen die von der sozialdemokratischen Regierungspartei PASOK auf Diktat der Europäischen Union (EU) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) verlangte "Rentenreform" zu protestieren. Die Beteiligung an diesem Streik war wie bei allen vorangegangenen ungebrochen hoch, dieser blieb jedoch ohne ein unmittelbares politisches Resultat. Die "Rentenreform", mit der Krise und drohender Staatsbankrott abermals, verbrämt als "Sparpolitik", auf die nicht vermögende griechische Bevölkerung umgelastet werden soll, wurde von der Regierungspartei verabschiedet.

Die politischen Organisatoren, führende Gewerkschaften und linke Parteien, haben sich längst auf einen längeren, um nicht zu sagen unbefristeten Kampf eingestellt, basierend auf der Einschätzung, daß die wirtschaftlichen und staatsfinanziellen Probleme des Landes entgegen der vorherrschenden Meinung nicht durch "die Weltwirtschaftskrise" monokausal zu begründen sind, sondern daß den volksfeindlichen Maßnahmen von Regierung, EU und internationalen Organisationen wie dem IWF nur begegnet werden kann durch eine grundlegende Infragestellung und Inangriffnahme der gesellschaftlichen Macht- und Gewaltverhältnisse, sprich des kapitalistischen Wachtumsmodells.

Die Krise bzw. vielmehr die Krisenbewältigungsmaßnahmen, die insbesondere seitens der Europäischen Union Athen scheinbar alternativlos auferlegt bzw. aufgezwungen werden konnten, haben den griechischen Staat in eine extreme Form der Abhängigkeit, um nicht zu sagen der Schuldknechtschaft gebracht. Mit dem Habitus eines mondänen Imperators längst vergangen geglaubter Zeiten werden in Brüssel die Bedingungen ausgehandelt, zu denen das inzwischen von der Ratingagentur Moody's bereits auf "Ramschstatus" gesetzte Griechenland an den für sein nacktes Überleben notwendigen finanziellen Tropf von EU und IWF gehängt wird. Nun scheint es in der in kapitalistisch strukturierten Gesellschaftsformen geltenden Wertordnung eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß der Schuldner nicht nur zur Rückzahlung seiner Schulden nebst Zins und Zinseszins verpflichtet wird, sondern daß er, um überhaupt in diese Abwärtsspirale anwachsender Schulden und Abhängigkeiten gelangen zu können, seine persönliche Freiheit aufgeben muß.

Im Falle tiefverschuldeter Staaten bedeutet dies die faktische Preisgabe der nationalen Souveränität. Die Häme, mit der die griechische Regierung ungeachtet ihrer (volksfeindlichen) Bemühungen, die ihr gesetzten Bedingungen zu erfüllen, seitens der EU-Akteure übergossen wird, spricht für sich bzw. gegen eine Europäische Union, die sich längst als ein Moloch erwiesen hat, der mit dem Anwachsen seiner geographischen Größe und seines administrativen Zugriffspotentials gegenüber seinen kleineren und schwächeren Mitgliedern eine Haltung an den Tag legt, die weder solidarisch noch uneigennützig hilfsbereit ist. Der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou, Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen, hat als sozialdemokratischer Regierungschef, da er sich und sein Land diesem Schlangennest überantwortet hat, nur noch die "Wahl", die Griechenland vom Kapital in Gestalt der EU gestellten Knebelbedingungen zu erfüllen.

Längst zeichnet sich ab, daß nicht nur Griechenland, sondern eine ganze Reihe weiterer, zu drohenden Pleitestaaten erklärter EU-Mitglieder kurz davorstehen, im Rahmen der EU ans Gängelband genommen zu werden und ihrer nationalen Souveränität endgültig verlustig zu gehen. Neben Griechenland gelten auch Portugal, Irland, Italien und Spanien als gefährdete Defizitländer. Durch die gesamte EU zieht sich in Gestalt der Kriterien von Maastricht, die bei Nichterfüllung für die Verhängung schwerster Sanktionen bis hin zur faktischen Übernahme durch Brüssel administrativen Anlaß bieten, ein Geist des Gegeneinanders, des Auf- und Gegenrechnens der jeweiligen Schuldenberge, Gesamtverschuldungs- und Neuverschuldungszahlen. Wer in diesem Hexenkessel, wie Griechenland, an den Rand bzw. das untere Ende gedrängt wird, erfährt eine explosionsartige Entuferung seiner wirtschaftlichen und finanziellen Probleme, weil der zum Pleitier erklärte Staat seine letzte Kreditwürdigkeit verliert und gar nicht anders kann, als die gegen ihn erstellte Prognose zu erfüllen.

Wer wollte sich da noch an die Versprechen erinnern wollen, mit denen einst für den Integrationsprozuß der Europäischen Union geworben worden war? Hatten nicht gerade die kleineren und mittleren europäischen Staaten geglaubt, weil ihnen dies suggeriert worden war, daß die Transformation der Europäischen Gemeinschaft in eine demgegenüber stärkere und noch größer werdende Union ihnen Vorteile und Stabilität verschaffen würde? Das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein. Mit dem Argument, die EU würde ihren Sorgenkindern selbst helfen, waren die zaghaften Versuche der Regierung in Athen, durch verstärkte wirtschaftliche Kooperationen und Kreditannahmen aus dem außereuropäischen Raum (China) die Misere zumindest entschärfen zu können, vereitelt worden.

Die EU akzeptiert neben sich (und dem IWF) keine anderen "Helfer". Mit dem sogenannten "Euro-Rettungsschirm", der per Verordnung am 11. Mai 2010 beschlossen worden war, um - angeblich - den finanzschwachen Mitgliedsstaaten helfen zu können, hat die EU Gelder ihrer Steuerzahler bereitgestellt, durch die das Bankensystem finanziell strauchelnder Staaten stabilisiert werden kann nicht zuletzt im Interesse der großen EU-Staaten bzw. ihrer Banken, die ihre gegebenen Kredite gesichert sehen wollen. So bemerkte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 14. Juni 2010: "Die Einschätzung, daß es sich bei dem 750 Milliarden Euro schweren Rettungspaket der EU um ein weiteres Hilfspaket für Banken handelt, trifft erst recht im Fall von Spanien zu." [1] Nicht nur Spanien, auch Portugal und Irland, wenn nicht noch weitere EU-Staaten, befinden sich in einer Lage, in der ihnen die Zwangsübernahme durch Brüssel infolge eines bevorstehenden Staatsbankrotts drohen könnte.

Dabei arbeiten professionelle Institute, die Rating-Agenturen, die die Kreditwürdigkeit der Staaten einschätzen, mit EU und IWF Hand in Hand. Ein Staat nach dem nächsten wird in ein finanzielles und damit auch politisches Aus manövriert, aus dem es ohne Preisgabe der eigenen Souveränität kein Entkommen zu geben scheint. Irland beispielsweise wurde von der Agentur Moody's in diesen Tagen weiter herabgestuft, wenn auch noch lange nicht, wie Griechenland, auf "Ramschstatus". Zur Begründung wurde neben den hohen Kosten für die "Rekapitalisierung der Banken" [2] der "erhebliche Verlust der Finanzstärke des Landes" angeführt, der wiederum mit geringen Wachstumschancen infolge des dem Land aufgezwungenen rigiden Sparkurses, sprich den drastischen Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst und den Kürzungen im Sozialbereich, erklärt wird. Da aus diesen Gründen in den kommenden fünf Jahren laut Moody's auch nicht mit steigenden Steuereinnahmen zu rechnen ist, ging der Daumen nach unten.

Also hat Irland die Bereitschaft, die an die Kreditvergabe geknüpften Bedingungen zu erfüllen, mit schwersten Folgen für das Land, seine Wirtschaft und Bevölkerung "bezahlt", die die ursprüngliche Notlage nicht nur nicht beheben, sondern sogar noch verstärken und verewigen. Mit Spanien steht inzwischen sogar einer der großen EU-Staaten an der Schwelle einer solchen Schuldknechtschaft. Wie es heißt, bereiten sich die Euro-Staaten auf finanzielle "Hilfen" für Spanien vor, genauer gesagt für die spanischen Banken, noch genauer gesagt für Einlagen deutscher und anderer Großbanken in Spanien. Nach Angaben der Financial Times Deutschland vom 10. Juni [1] soll Spanien Kredite aus dem 750 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm von EU und IWF bekommen, sollten sich die Probleme im Bankensektor des Landes noch verschärfen. Bundeskanzlerin Merkel diktierte dem sozialistischen Ministerpräsidenten Spaniens, José Zapatero, beim EU-Gipfel am 7. Mai schon einmal die Bedingungen.

Wenige Tage zuvor hatte der spanische Regierungschef eine auf drastische Sparmaßnahmen abzielende Politik noch rundweg abgelehnt. Doch dann wurden er und sein portugiesischer Amtskollege José Sócrates von den EU-Oberen ins Gebet genommen mit dem Ergebnis, daß Spanien und Portugal sich zu zusätzlichen Einsparungen in den beiden kommenden Jahren bereit erklärten. Das Einknicken Zapateros wurde an der spanischen Börse mit plötzlichen Kursgewinnen belohnt. Bundeskanzlerin Merkel soll nach Angaben spanischer Zeitungen Einsparungen in Höhe von 35 Milliarden Euro verlangt haben, weil die sozialistisch geführte Regierung in Madrid beweisen müsse, daß es ihr mit dem Abbau des Staatsdefizits ernst sei.

Merkel dürfte als Interessenvertreterin der deutschen Banken in Erscheinung getreten sein, die Ende 2009 an Spanien eine Kreditsumme von insgesamt 202 Milliarden US-Dollar vergeben hatten. Nicht ganz so tief sind die zehn größten US-amerikanischen Banken in Spanien wie auch in den übrigen, zu drohenden Pleitegängern erklärten EU-Staaten (Griechenland, Portugal, Irland, Italien) involviert, wo mit Krediten in Höhe von 60 Milliarden Dollar immerhin fast zehn Prozent ihres Kernkapitals liegen [1] - Grund genug für den US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama, vom spanischen Ministerpräsidenten ein Einlenken in die geforderte Sparpolitik zu verlangen.

Dabei könnte in Sachen Staatsverschuldung die Bundesrepublik Deutschland ein gehöriges Wörtchen mitreden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vom 30. Juni 2010 [3] ist das Finanzierungsdefizit, also die Lücke zwischen Ein- und Ausgaben bei Bund, Ländern und Kommunen, im ersten Quartal des laufenden Jahres gegenüber dem Vorjahresquartal um fast 40 Prozent auf 47,3 Milliarden Euro gestiegen [3]. Erklärt wurde dies mit sinkenden Staatseinnahmen bei gleichzeitig anwachsenden Ausgaben, bei denen insbesondere auch die Einzahlungen in den sogenannten Finanzmarktstabilisierungsfonds zur Rettung "notleidender" Banken zu Buche schlugen. Der deutschen Bundesregierung wie auch den übrigen EU-Staaten scheint der Erhalt des Banken- und Finanzsystems buchstäblich über alles zu gehen. Die sozialen Folgen der diesem Zweck geschuldeten repressiven "Sparpolitik" werden nicht etwa nur stillschweigend bis achselzuckend in Kauf genommen; sie sind der eigentliche Zweck eines der Umverteilung von unten nach oben verpflichteten Wirtschaftssystems.

Angesichts der ausweglos anmutenden Misere Griechenlands sowie der systematisch zugespitzten Notlage weiterer EU-Staaten kann die vergleichsweise positive Wirtschaftsentwicklung der Türkei und damit eines Nicht-EU- und Nicht-Euro-Landes der Frage Nachdruck verleihen, ob die drohenden Staatsbankrotte mit all ihren katastrophalen Folgen für die Bevölkerungen der betroffenen EU-Staaten und der damit verbundenen Zwangslage für das jeweilige Land nicht sogar der EU-Mitgliedschaft zu verdanken ist. In der Türkei, dem ewigen EU-Beitrittskandidaten, legte die Volkswirtschaft im ersten Quartal 2010 gegenüber dem Vorjahresquartal um 11,7 Prozent zu. Derartige Wachstumszahlen liegen weit über dem der Bundesrepublik Deutschland (knapp über null Prozent) [4]. An diese positive Wirtschaftsentwicklung knüpfte die Regierung in Ankara bereits ehrgeizige Pläne.

So möchte sie die Türkei, ein weiteres, kontinuierliches Wachstum vorausgesetzt, bis 2023 zu einer der zehn größten Volkswirtschaften der Welt machen. Selbstverständlich wurde und wird auch diese Erfolgsstory auf dem Rücken und zu Lasten der nicht vermögenden Bevölkerung der Türkei erwirtschaftet. Als mitverursachend für die Wachstumszahlen werden die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Schwellenländern angeführt. Namentlich Rußland und nicht die EU, die der beitrittswilligen Türkei seit langer, langer Zeit die Aufnahme verweigert, ist einer der größten Handelspartner geworden. In der Türkei glaubt man, bei diesem Wachstum in rund 15 Jahren das heutige Wirtschaftsniveau Deutschlands erreichen zu können.

In Istanbul wird man, auch wenn offiziell der EU-Beitrittswunsch aufrechterhalten wird, längst wissen, wie groß die Vorteile für die türkische Republik und ihr Kapital in den intensivierten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Nicht-EU-Staaten tatsächlich sind. Und so wird sich im Land des Erzkonkurrenten, Intimfeindes und NATO-Partners Griechenland so mancher längst gefragt haben, warum sich die in der jüngeren Geschichte keineswegs auf Rosen gebettete Türkei heute in einer Lage befindet, die nicht annähernd mit der im eigenen Land oder in den übrigen, an den Rand des Ruins gedrängten EU-Staaten zu vergleichen ist.

Anmerkungen

[1] Der nächste, bitte! Ökonomie. Nach Griechenland steht nun auch Spanien am Rande des Staatsbankrotts, von Andreas Wehr, junge Welt, 19.07.2010, S. 10

[2] Moody's stuft Kreditwürdigkeit Irlands zurück, von Ralf Streck, telepolis, 19.07.2010

[3] Defizit steigt um fast 40 Prozent, junge Welt, 01.07.2010, S. 1

[4] Auf Wachstumskurs. Die Türkei strebt den Sprung in die Gruppe der zehn größten Volkswirtschaften an, von Wolfgang Pomrehn, junge Welt, 09.07.2010, S. 9

22. Juli 2010