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DILJA/019: Neoliberale Diktatsverfassung in Ungarn - Modellfall für ganz Europa? (SB)


Die EU stimmt mit dem antikommunistischen Kern der neuen Verfassung Ungarns überein


Am 1. Januar 2012 ist in dem EU-Mitgliedsland Ungarn eine Verfassung in Kraft getreten, die in der Union (noch?) ihresgleichen suchen dürfte. Die rechtskonservative Regierung um Ministerpräsident Viktor Orbán von der Regierungspartei Fidesz (Bund Junger Demokraten) hat damit ihre eigene nationalkonservative, neoliberale und strikt antikommunistische Gesinnung und Positionierung in (Verfassungs-) Stein gemeißelt und damit ein nicht von ungefähr an die deutsche Verfassung erinnerndes Vertragswerk, genannt "Grundgesetz", geschaffen, das entgegen verbal-oberflächlicher Kritik auch seitens der EU und den USA voll und ganz im Trend der Zeit und auf der Linie dessen liegen dürfte, was in Brüssel und Washington tatsächlich geplant und betrieben wird. In Budapest haben am Montagabend vor dem Opernhaus, in dem der Regierungschef mit seinem Kabinett und weiteren hohen Amtsträgern einen Festakt für das umstrittene Grundgesetz abhielt, bereits Zehntausende ihren Protest und Unmut kundgetan.

In Sprechchören wurde der Rücktritt Orbáns gefordert. Nach jüngst veröffentlichten Ergebnissen des Meinungsforschungsinstituts Median hat der Regierungschef ohnehin stark an Popularität eingebüßt. So soll Orbán, der mit seiner Fidesz-Partei die Parlamentswahlen im April 2010 noch mit einer Zweidrittel-Mehrheit für sich hatte entscheiden können, viel von dem ihm zugestandenen Vertrauensbonus wieder verloren haben, erklärten sich doch vier Fünftel der repräsentativ Befragten mit ihrer Regierung unzufrieden [1], was keineswegs allein auf die Proteste gegen die von vielen als undemokratisch eingestufte neue Verfassung zurückzuführen sein dürfte. In Ungarn greift eine neoliberale Politik in die Taschen der Bürger, die mit steigenden Preisen gleich zu Jahresbeginn ebenso zu kämpfen haben wie mit einem restriktiven Sparkurs der Regierung, die zur Konsolidierung der Staatsfinanzen dringend auf die nächste Finanzspritze des Internationalen Währungsfonds angewiesen ist und bei den anstehenden Gesprächen einen Kreditrahmen von 15 bis 20 Milliarden Euro erreichen möchte.

2008 hatte Ungarn noch zur Zeit von Orbáns Vorgängerregierung, der sozialistischen MSZP, der heutigen größten Oppositionspartei, von IWF und Europäischer Union Hilfen in Höhe von 20 Milliarden Dollar erhalten. An Orbáns Wirtschaftspolitik übten EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso, die EZB und US-Außenministerin Hillary Clinton gleichermaßen Kritik, weil sie mit Orbán Meinungsdivergenzen in Fragen der Haushaltssanierung hatten. Der ungarische Premier hatte die IWF-Experten unlängst vor die Tür gesetzt. Obwohl er auf die nächsten Kredite dringend angewiesen ist, will er den Staatshaushalt auf seine Weise und ohne Eingriffe von außen konsolidieren. Der "Streit" mit der EU, der EZB und den USA beruht allein darauf, daß Orbán die Souveränität seines Landes behaupten will und keineswegs darauf, daß er nicht gewillt wäre, mit harter Hand eine Sparpolitik durchzusetzen, deren vermeintliche Alternativlosigkeit er keineswegs in Frage stellt.

Nach Einschätzung von EU-Justizkommissarin Vivian Reding ist das neue Grundgesetz Ungarns mit dem Recht der Europäischen Union nicht zu vereinbaren. Sandor Szekely von der Bewegung Solidarität und Ko-Vorsitzender der Veranstalter der aktuellen Proteste in Ungarn brachte die Kritik an der neuen Verfassung mit den Worten zum Ausdruck, das neue Grundgesetz zerstöre die demokratischen Regelmechanismen, die nach dem Ende des Kommunismus 1989 geschaffen worden seien. Dazu muß man allerdings wissen, daß nach dem Ende der Volksrepublik und damit der Zugehörigkeit zu dem in Auflösung befindlichen Sowjetblock in Ungarn lediglich eine umfassende Änderung der sozialistischen Verfassung vorgenommen worden war, die sich das 1949 von der "Partei der Ungarischen Werktätigen" regierte Ungarn seinerzeit nach sowjetischem Vorbild gegeben hatte. Die Verfassung von 1949 blieb formal nach 1989 bestehen und wurde erst durch die neue, von Orbán ohne gesellschaftliche Diskussion dank seiner Zweidrittelmehrheit im Eiltempo durchgebrachte Verfassung endgültig abgeschafft.

Oppositionelle wie die Abgeordneten der MSZP und der Grünenpartei LMP waren der Abstimmung über eine Verfassung ferngeblieben, die von vielen Menschen in Ungarn als Demokratieabbau verstanden wird. Und das mit gutem Grund. So werden in Ungarn lebende nicht-ungarische Minderheiten als nicht zur ungarischen Nation gehörend definiert, was dem Demokratieverständnis westlicher Staaten, die eine verfassungsrechtliche Gleichheit aller Bürger postulieren, fundamental widerspricht. Die Autoren dieses Verfassungswerks gingen jedoch noch einen Schritt weiter und legten eine, wenn man so will, antikommunistische Ausrichtung der Ungarischen Republik, die sich allerdings nicht mehr "Republik" nennt, im neuen Grundgesetz fest. In dessen Präambel heißt es nämlich, daß der ungarische Volksaufstand von 1956 als "Revolution" positiv bewertet wird. Eine bestimmte Geschichtsauffassung wird in Ungarn, das unter den osteuropäischen Neumitgliedern der EU ohnehin eine Vorreiterrolle in Sachen Antikommunismus eingenommen hat, mit höchstem juristischen Rang festgelegt.

Der 19. März 1944, der Tag, an dem das faschistische Deutschland Ungarn besetzte, wird, was unumstritten sein dürfte, als Verlust der "staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat" bezeichnet. Dann folgt jedoch, beruhend auf der Totalitarismustheorie, durch die Faschismus und Kommunismus kurzerhand als zwei Diktaturen gleichgesetzt werden, die verfassungsrechtliche Festlegung, daß die nationale Souveränität erst am 2. Mai 1990, als sich die erste nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und damit auch dem Ende der Volksrepublik Ungarn gewählte Volksvertretung konstituierte, wiederhergestellt werden konnte. Mit diesem Federstrich wurden die 40 Jahre der Volksrepublik, wie auch immer die Bürger Ungarns heute und gestern über sie gedacht haben mögen, zur Diktatur erklärt. Dieser vermeintliche Historikerstreit hat allerdings eine höchst aktuelle Komponente, befürchtet doch die sozialistische MSZP, auf dieser Basis früher oder später mit einem Parteienverbot belegt zu werden.

Neben der an den Maßnahmen zum Demokratieabbau festgemachten Kritik, die im westlichen Ausland noch einen gewissen Widerhall fand, stellt die Verankerung antikommunistischer Dogmen in der neuen Verfassung den tatsächlichen qualitativen Sprung dar, der durch sie in dem neuen Ungarn geschaffen wurde. Damit dürfte Ungarn EU-weit eine Vorreiterrolle eingenommen haben und sich rühmen, die Rahmenrichtlinie der Union von 2008, derzufolge bereits Zweifel an der offiziell geltenden Version der Bosnienkriege und speziell der Verbrechen in Srebrenica unter Strafe gestellt (!) werden sollen, weil dies eine Verharmlosung eines Völkermordes darstelle, zeitnah umgesetzt zu haben. Der neue Straftatbestand, der in vier EU-Staaten - neben Ungarn beispielsweise auch in Polen und Litauen - bereits Gesetz ist, lautet denn auch "Leugnung kommunistischer Verbrechen". Im Ungarn Orbáns war am 8. Juni 2010 ein Erinnerungsgesetz in Kraft getreten, das in Anlehnung an ein noch von den Sozialisten verabschiedetes Gesetz zur Holocaustleugnung Zweifel an "kommunistischen Verbrechen" unter Strafe stellte.

Die Befürchtungen der MSZP, in vielleicht gar nicht großer Ferne verboten zu werden, sind nur zu begründet, da mit dem Grundgesetz ein Verfassungszusatz verabschiedet wurde, der die ehemalige Regierungspartei MSZP zur direkten Nachfolgerin der vor der Wende regierenden Kommunisten erklärt. Deren Parteiführer werden bereits für die "Verbrechen der kommunistischen Diktatur" zur Verantwortung gezogen, und so ist es nur folgerichtig anzunehmen, daß auch die MSZP, die zu den europäischen Sozialdemokraten gehört, kriminalisiert werden wird.

Die eigentliche Stoßrichtung liegt in dieser Richtung, und so ist es kein Wunder, daß die vordergründige Kritik seitens der EU, EZB und USA wirkungslos verhallen wird, weil sie schlichtweg nicht ernst gemeint ist bzw. sich lediglich auf Differenzen in der Frage bezieht, wie denn nun am besten die Umverteilung von unten nach oben betrieben werden könne zu Lasten der Bevölkerung. Da die Sparmaßnahmen, die die Regierung Orbán auf ihre Weise nicht minder zu forcieren gedenkt, zu Protesten führen bzw. diese noch verschärfen werden, stellt die neue Verfassung einen weiteren Schritt auf dem Weg in eine Demokratur dar - ein repressives Gebilde, an dem "Demokratie" zwar draufsteht, durch das aber eine rigide und durch nichts kontrollierte Exekutivgewalt geschaffen wird.

Anmerkungen

[1] Verfassungsänderung tritt in Kraft. Ungarn zwischen Nationalismus und Autokratie. Tagessschau, 02.01.2012,
http://www.tagesschau.de/ausland/ungarnverfassung100.html


3. Januar 2012