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DILJA/037: Europa, Großmacht in spe? (SB)



Wenn Europa respektive die Europäische Union als segensreiche Friedensmacht hochstilisiert wird mit der Begründung, es habe seit 1945 auf dem Kontinent keine Kriege mehr gegeben, ist das historisch schlicht falsch. Man denke nur an den UN-mandatsfreien NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, mit dem die bis dato international weitgehend akzeptierte UN-Friedensordnung seitens der kriegführenden Staaten für obsolet erklärt wurde. Frieden als Abwesenheit eines nach welchen Kriterien auch immer zu definierenden Krieges zu postulieren, greift zudem zu kurz, da schon die Bereitstellung massiver Vernichtungswaffen einen Akt der Gewalt darstellt wegen ihres Bedrohungs- und Erpressungspotentials gegenüber Staaten und Regionen, die ihrerseits nicht über dem Niveau des möglichen Angreifers entsprechende militärische Optionen verfügen.

Die EU sucht ihre Friedensqualitäten damit zu begründen, daß es zwischen ihren Kernstaaten, beispielsweise den einstigen "Erbfeinden" Frankreich und Deutschland, die in 70 Jahren drei Kriege gegeneinander führten, seit 1945 keinen weiteren gegeben hat. Dieser Argumentation bediente sich 2012 auch das norwegische Nobelkomitee, um seine Entscheidung, die EU mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, zu begründen. Dem Komitee zufolge hätten die Union und ihre Vorgänger "über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen". Diese Versöhnung sei seit 1945 Wirklichkeit geworden, das "furchtbare Leiden im Zweiten Weltkrieg" habe die "Notwendigkeit eines neuen Europa" gezeigt. [1]

Was aber ist an diesem Europa tatsächlich neu? Die genannten Kriege - neben den verheerenden beiden Weltkriegen ist der deutsch-französische Krieg von 1870/71 gemeint - wurden in einer Epoche geführt, die unter das Stichwort innerimperialistische Konkurrenz subsumiert werden könnte insofern, als die alten Mächte Europas dieselben und gerade deshalb gegeneinander gerichteten Interessen an politischer Hegemonie und ökonomischer Ausdehnung, Lebensräumen und Ressourcen, Absatzmärkten und Einflußgebieten verfolgten. Wird unter Krieg "nichts anderes als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel" verstanden, so die bis heute vielzitierte Formulierung des preußischen Militärexperten von Clausewitz [2], wäre Frieden keineswegs ein Gegensatz, sondern eine Variante desselben Grundverhältnisses, wiewohl bestückt mit den wünschens- und erhaltenswerten Qualitäten eines Waffenstillstands.

Was die europäischen Kernstaaten Frieden nennen, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein aus ihrer Sicht folgerichtiger Ratschluß, nach den Verheerungen zweier Weltkriege, die auch ihren eigenen Kontinent verwüsteten, das übereinstimmende gemeinsame Interesse an der Gestaltung und Nutzbarmachung der Welt ihren konkurrenzbegründeten Zwistigkeiten voranzustellen. Im übrigen war es für sie in der sogenannten Nachkriegsordnung faktisch alternativlos, dem Führungsanspruch der USA, die aus dem Zweiten Weltkrieg als Großmacht hervorgegangen waren, Folge zu leisten in Erwartung der ökonomischen, politischen und militärischen Vorteile, die ihnen diese Juniorpartnerschaften versprachen und auch einbrachten. Daß die innerimperialistische Konkurrenz in dieser Phase vielleicht geschlafen haben mag, aber keineswegs aufgehoben wurde, liegt zu vermuten nahe, je mehr die innige transatlantische Freundschaft einem deutlich abgekühlten Zweckbündnis zwischen USA und EU gewichen ist und auch die Beziehungen der EU-Mitgliedstaaten zueinander entgegen vollmundiger Behauptungen von Dominanz und Unterwerfung geprägt sind.

Längst macht das Wort von einem EU-Deutschland oder einer deutschen EU die Runde, um anzudeuten, daß die Leitlinien der Brüsseler Politik in einem überproportionalen Verhältnis in Berlin bestimmt werden. Hans-Peter Bartels, SPD-Militärexperte und Wehrbeauftragter des Bundestags, betont, daß Europa 1,5 Millionen Soldaten hätte, mehr als die USA. Das Problem, daß die Verteidigungsausgaben der EU-Staaten nicht gemeinsam ausgegeben werden, werde durch die europäische Kleinstaaterei verschärft, Fernziel und Vision sei eine EU-Armee. [3]

Ende November beschloß die EU-Kommission, einen milliardenschweren Rüstungsfonds einzurichten für die Anschaffung gemeinsamer neuer Waffensysteme, um Europa unabhängiger von den USA zu machen. [4] Und auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht von einer EU-Armee: "Die Amerikaner, denen wir viel verdanken, (...) werden nicht auf Dauer für die Sicherheit der Europäer sorgen. Das müssen wir schon selbst tun. Deshalb brauchen wir einen neuen Anlauf in Sachen europäische Verteidigungsunion bis hin zu dem Ziel der Einrichtung einer europäischen Armee." Daß die EU die Verteidigung Europas anders organisieren müsse, ändere Juncker zufolge unabhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahl nichts an der Bedeutung ihrer Beziehungen zu den USA. [5]


Guter Cop, böser Cop?

Seit der Verleihung des Friedensnobelpreises ist es um den vermeintlichen Friedensengel EU recht still geworden, so als wäre es ihren Protagonisten peinlich, das Friedenslied der Union zu singen. Als am 8. und 9. Dezember in Hamburg die Außenminister der 57 Mitgliedstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu ihrem letzten Gipfeltreffen unter deutscher Regentschaft zusammenkamen, stimmte Außenminister Steinmeier ein Loblied auf die OSZE an, so als habe er die EU komplett vergessen oder scheue sich angesichts ihrer Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzkrise davor, die mediale Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.

"Gäbe es die OSZE nicht, man müsste sie gerade jetzt erfinden", behauptete er in dem Bemühen, diese Institution, der im Unterschied zur EU auch Rußland und die USA angehören, gegen den Vorwurf, sie sei ein zahnloser Tiger, zu verteidigen. [6] Vor der Tagung hatte er erklärt, es werde darum gehen, "die OSZE als die einzig wirklich gesamteuropäische Organisation zu stärken, ihre Fähigkeiten für effektives Konfliktmanagement auszubauen und sie als Ort des ständigen Dialogs fit zu halten oder fit zu machen". [7] In "stürmischen Zeiten wie diesen", so seine Mahnung, sei es wichtig, sich auf die Grundsätze der "weltgrößten Sicherheitspartnerschaft" (OSZE) - Kooperation und Dialog - zu besinnen. [8] Ein neues weltweites Wettrüsten, so warnte Steinmeier in Hamburg, könne auch für Europa gefährlich werden. In einem von ihm gemeinsam mit den Außenministern Österreichs und Italiens, Sebastian Kurz und Paolo Gentiloni, verfaßten Gastbeitrag wird behauptet, die Frage von Krieg und Frieden sei "mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und dem ungelösten Konflikt in der Ostukraine" nach Europa zurückgekehrt. [9]

Die EU blieb von den drei Außenministern unerwähnt. Die OSZE hingegen sei eine "einzigartige Plattform" und stünde "wie keine andere Institution in Europa für eine Friedensordnung auf der Grundlage gemeinsamer Werte, Grundfreiheiten und Menschenrechte". Es mutet schon seltsam an, wenn Steinmeier als außenpolitische Repräsentant der in der EU tonangebenden Bundesregierung die OSZE als eine einzigartige Dialogplattform lobt, die heute dringender denn je gebraucht werde, wenn zugleich die europäischen Kernstaaten inklusive Deutschland im Rahmen von EU und NATO die Sprache militärischer Aufrüstung sprechen und es an Provokationen, um nicht zu sagen konfrontativen Schritten gegenüber Rußland nicht mangeln lassen. Nur wenige Tage vor der OSZE-Konferenz in Hamburg haben EU und NATO ein 42-Punkte-Programm für eine engere Zusammenarbeit beschlossen, um, wie es hieß, auf neue Bedrohungen zu reagieren, wozu nach ihrer Auffassung auch "die Spannungen im Verhältnis zu Russland" zählen. "In einer Situation, in der sich die Sicherheitslage verändert, tun wir gut daran, unsere Kräfte zu bündeln", so Steinmeier am 6. Dezember in Brüssel. [10]

Auf dem EU-Gipfel konnten sich Deutschland und Frankreich damit durchsetzen, die Sanktionen gegen Rußland wegen der Rolle Moskaus im Ukraine-Konflikt, wie es hieß, um ein weiteres halbes Jahr zu verlängern. Der slowakische Ministerpräsident und EU-Ministerratsvorsitzende Robert Fico hatte dies kurz zuvor noch als unsinnig bezeichnet. Offenbar sind innerhalb der EU die Interessengruppen maßgeblich, die auf Eskalation gegenüber Rußland setzen. Verabschiedet wurde auch eine Zusatzerklärung für das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, um das Nein der Niederlande, wo das Abkommen in seiner vorherigen Form in einer Volksabstimmung abgelehnt worden war, umgehen zu können. Jetzt könne die EU "die Front gegen die destabilisierende Politik Russlands geeint halten", so der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. [11]

Zur erneuten Verlängerung der erstmals im März 2015 von der EU verhängten und an die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen geknüpften Sanktionen gegen Rußland zitierte die moskaufreundliche Nachrichtenagentur RTdeutsch Bundeskanzlerin Merkel mit den Worten: "Der französische Präsident Francois Hollande und ich sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Umsetzung mit nur langsamen Tempo vorangeht, aber das ist die einzige Verhandlungsgrundlage, die wir haben. Leider reichen die Fortschritte nicht aus, um die Sanktionen auf dieser Grundlage zu erleichtern." [12] Demnach wäre aus Sicht dieser beiden Regierungen allein Rußland für den stockenden Friedensprozeß im Ukrainekonflikt verantwortlich zu machen. RTdeutsch zufolge soll Hollande aber auch darauf hingewiesen haben, daß ein Erfolg im Friedensprozeß ohne das Engagement der Maidan-Regierung unmöglich sei, weshalb er fordere, daß auch die Ukraine ihren Teil der Verpflichtungen erfüllen müsse. [13]

Unterdessen treibt die EU ihre Militarisierung in großen Schritten voran. In einer Resolution des EU-Parlaments vom 14. Dezember heißt es, die Union müsse ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten dringend stärken. Sie könne ihr volles Weltmachtspotential nur nutzen, wenn sie ihre einzigartige Soft Power mit "Hard Power" kombiniere. [14] Die EU setzt auf die militärische Karte, was in Verbindung mit dem von ihr gleichermaßen formulierten Ziel, ihren politischen Gestaltungsanspruch nicht nur in der direkten Nachbarschaft, sondern weltweit zu realisieren, einer Drohung schon sehr nahe kommt gegenüber all den Staaten und Regionen, die wie beispielsweise Rußland Grund und Anlaß genug haben könnten, sich gemeint zu fühlen. Angesichts dessen die Ambivalenz der deutschen Bundesregierung zu kritisieren, die im Rahmen der OSZE Wogen zu glätten vorgibt, die an anderer Stelle, sprich im Rat der EU, unter ihrer unmittelbaren Beteiligung in Aufruhr versetzt werden, hieße zu verkennen, daß beide Institutionen als verschiedene Kleider aufgefaßt werden können, derer sich die dominierenden Eliten des alten Kontinents je nach Gelegenheit bedienen.


Truppenaufmarsch an der russischen Grenze

Am 19. Dezember verlängerte die EU jedoch nicht nur ihre gegen Rußland verhängten Sanktionen. Am selben Tag kam in Brüssel auch der NATO-Rußland-Rat zusammen. Wenn auch ohne Ergebnis, wurde über den Ukraine-Konflikt und den militärischen Aufmarsch der NATO-Staaten in der Nähe der russischen Westgrenze gesprochen. Wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, hegten die Alliierten und Rußland in zentralen Fragen nach wie vor unterschiedliche Auffassungen.

Unterdessen stehen die USA im Begriff, mit ihrem Truppenaufmarsch nahe der russischen Grenze Fakten zu schaffen, die die Spannungen noch weiter befeuern dürften. Insgesamt 4.000 NATO-Soldaten zusätzlich sollen in Polen und den baltischen Staaten stationiert werden. Zur Begründung erklärte der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, General Frederick Hodges, daß Abschreckungsmaßnahmen notwendig seien, weil Rußland keinen Frieden wolle. Die Bundeswehr steht bei diesem Truppenaufmarsch keineswegs außen vor. Rund 500 Bundeswehrangehörige (Panzergrenadiere, Pioniere, Sanitäter und Feldjäger) sowie 20 Panzer und rund 170 weitere Militärfahrzeuge werden im Februar in Litauen stationiert.

Behauptet wird, Rußland von einer Invasion abschrecken zu wollen. Was aber, wenn dieser Truppenaufmarsch auf russischer Seite als vorbereitender Beginn einer Invasion der NATO aufgefaßt werden würde? Für eine Friedensmacht, wie die EU zu sein vorgibt, wäre es in einer solch konfrontativen Situation die vornehmste Aufgabe, die Sicherheitsbelange und -interessen beider Seiten ernst zu nehmen und gleichermaßen in die Planungen und Verhandlungen miteinzubeziehen. Solange dies nicht der Fall ist, muß sie sich den Vorwurf gefallen lassen, einen von ihr definierten "Frieden" mit immer mehr Waffen schaffen zu wollen, und da es traditionell zur Kriegführung gehört, nicht nur den möglichen Gegner, sondern auch die eigene Bevölkerung respektive die Weltöffentlichkeit über die eigenen Absichten im Unklaren zu belassen, muß sich die EU kritische Nachfragen zu ihren tatsächlichen Absichten gefallen lassen.

Der unmittelbar bevorstehende, in den westlichen Leitmedien weitgehend unkommentierte Truppenaufmarsch nahe Rußlands wäre ein aktueller, wenn nicht dringlicher Anlaß gerade auch für Linke, hier in Erscheinung zu treten, die bisherigen Scheuklappen fallenzulassen und den Generalverdacht, jede Infragestellung und Fundamentalkritik an der EU käme von rechts und sei nationalistisch, als kontraproduktiv zu verwerfen.

Eine konsequente Absage gegenüber der zunehmend globalisierten kapitalistischen Verwertungsordnung in all ihren Facetten auszuformulieren, um auf dieser Basis auch die EU als ein von Grund auf imperialistisches Projekt zu begreifen und abzulehnen, wäre das Gebot der Stunde. Im Zuge dessen der neuen Rechten auf dem Feld der Kritik entgegenzutreten, weil nationalistische Staats- und Politikkonzepte und imperialistische Staatenbünde auf denselben Grundlagen kapitalistischer Verfügungsverhältnisse beruhen, ließe sich im Handumdrehen miterledigen, so nicht, aus welchem Kalkül auch immer, darauf verzichtet wird, die eigene Streitbarkeit freizulegen.


Fußnoten:

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/friedensnobelpreis-eu100.html

[2] Der preußische General und Militärschriftsteller Carl Philipp Gottfried von Clausewitz lebte von 1780 bis 1831. Von ihm stammt auch folgendes, weniger bekanntes Zitat: "Das russische Reich ist kein Land, das man förmlich erobern, d.h. besetzt halten kann, wenigstens nicht mit den Kräften jetziger europäischer Staaten. Ein solches Land kann nur bezwungen werden durch eigene Schwäche und durch die Wirkungen des inneren Zwiespalts."

[3] http://www.heute.de/eu-denkt-ueber-gemeinsame-armee-nach-vision-der-verteidigungsunion-46090178.html

[4] http://www.heute.de/milliarden-fuer-militaer-eu-kommission-will-gemeinsamen-ruestungsfonds-einfuehren-46013310.html

[5] http://www.heute.de/eu-politik-juncker-will-europaeische-verteidigungsunion-45869114.html

[6] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/steinmeier-verteidigt-die-osze-gegen-ihre-kritiker-a-1125081.html

[7] https://www.tagesschau.de/inland/osze-hamburg-101.html

[8] http://www.heute.de/osze-treffen-in-hamburg-riesen-auflauf-ohne-konkrete-ergebnisse-46070038.html

[9] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/osze-muss-fuer-ein-sicheres-europa-gestaerkt-werden-14562021.html

[10] http://www.zeit.de/news/2016-12/06/nato-nato-und-eu-starten-in-neue-aera-der-zusammenarbeit-06163404

[11] http://www.dw.com/de/eu-gipfel-bemühte-einigkeit/a-36789319

[12] https://deutsch.rt.com/wirtschaft/44370-nicht-genugend-fortschritte-eu-verlangert/

[13] https://deutsch.rt.com/inland/44462-gysi-russland-usa-sanktionen/

[14] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59505

31. Dezember 2016


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