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STANDPUNKT/001: Wahlanalyse Irland 2011 (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Wahlanalyse Irland 2011

Im Angesicht wütender Wähler:
Die verzweifelten Überzeugungsversuche irischer Politiker

Von Peadar Kirby
Februar 2011


• Die irischen Parlamentswahlen 2011 bringen voraussichtlich die wichtigste Neuausrichtung des irischen Parteiensystems seit den frühen 30er Jahren mit sich. Der Fianna Fáil, die Partei, welche die irische Politik in diesem Zeitraum dominiert hat, rennen in dramatischer Weise die Wähler davon.

• Setzen die Parteien ihre Wahlversprechen in die Tat um, stehen die radikalsten Reformen der politischen Institutionen Irlands seit der Unabhängigkeit bevor.

• Die wirtschafts-, finanz- und steuerpolitischen Gestaltungsspielräume der Parteien sind so eingeschränkt wie nie zuvor, seit die derzeitige Regierung im November 2010 das Rettungspaket von Europäischer Union (EU), Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfond (IWF) unterzeichnet hat. Dieses sieht bis 2015 einen strikten Sparkurs vor, um den Kollaps der irischen Wirtschaft und des Bankensystems zu bewältigen.

• Nach den Wahlen ist die wahrscheinlichste Konstellation eine Regierungskoalition zwischen der christlich-demokratischen Partei Fine Gael und der sozialdemokratischen Labour Party. Eine weitere Möglichkeit ist eine Fine Gael-Minderheitsregierung, unterstützt von gleich gesinnten unabhängigen Abgeordneten oder sogar von Fianna Fáil. Angesichts der Umfragewerte und gegenseitiger Rivalitäten scheint ein von der Labour Party angeführtes Linksbündnis hingegen ausgeschlossen.



Inhalt
1. Einleitung
2. Niedergang einer Regierungspartei?
3. Reform eines dysfunktionalen politischen Systems
4. Die Wirtschaft und die Banken reparieren
5. Mögliche Folgen
Literatur



Tabellen

Tabelle 1: Wirtschaftsdaten Irland

BIP-Wachstum 2010 (bis 3. Quartal)
BIP-Wachstum 2009
BSP-Wachstum 2010 (bis 3. Quartal)
BSP-Wachstum 2009
Haushaltsdefizit (% des BIP) 2010
Haushaltsdefizit (% des BIP) 2009
Arbeitslosenquote 2010
Emigrationsquote 2010
-0,5%
-7,6%
-1,6%
-10,7%
9,4%
11,6%
13,4%
34.500

Quellen: Central Statistics Office; Central Bank of Ireland.

Tabelle 2: Wahlergebnisse 2007

Partei
Sitze
% der Stimmen
Fianna Fáil
Fine Gael
Labour
Sinn Féin
Green Party
Independents
78
51
20
4
6
5
41,6   
27,3   
10,1   
6,9   
4,7   
6,6   


1. Einleitung

Schon bevor die Iren am 25. Februar 2011 zur Urne schreiten, steht ein Ergebnis fest: Die Parlamentswahlen werden zu den umfangreichsten Veränderungen der irischen Parteienlandschaft und des politischen Systems seit den 30er Jahren führen. Zur Abstimmung steht gleichsam nur noch, wie radikal dieser Wandel sein wird.

Nicht nur geht die Partei Fianna Fáil, die Irlands Politik seit ihrer Gründung im Jahr 1926 dominiert hat, mit den schlechtesten Umfragewerten ihrer Geschichte in die Wahlen. Zudem kündigen alle wichtigen Parteien im Wahlkampf weitreichende Reformen des politischen Systems an. Dieses Thema erscheint auf den ersten Blick einigermaßen paradox, schließlich gibt es akute Probleme wie den wirtschaftlichen Kollaps und die bankrotten Banken. Aber die Gestaltungsspielräume für deren Bewältigung sind durch den Rettungsschirm der Europäischen Union (EU), der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF), den Irland Ende November 2010 unterzeichnet hat, in hohem Maße eingeschränkt. Jetzt streiten die Parteien darüber, in welchem Umfang eine neue Regierung das Rettungspaket nachverhandeln kann. Übrigens betonen Kandidaten aller Parteien, niemals zuvor so viele Wähler getroffen zu haben, die so gut über die enormen Herausforderungen des Landes informiert sind - und die dermaßen wütend auf ihre Politiker sind. Außerdem besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich um die wichtigsten Wahlen seit der irischen Staatsgründung handelt. Von diesem Ergebnis hängt einfach zu viel ab.

In diesem Aufsatz untersuche ich die Bedeutung der Parlamentswahlen 2011 unter Berücksichtigung folgender vier Hauptpunkte: Der erste Punkt betrifft die absehbaren dramatischen Veränderungen des irischen Parteiensystems. Schon jetzt ist klar, dass in einem bisher außergewöhnlich stabilen politischen System die Wahlen erdrutschartige Verschiebungen mit sich bringen werden. Zweitens geht es um die anstehenden Reformen des politischen Systems, die alle Parteien so sehr betonen. Warum ist dieses Thema überhaupt ein Schwerpunkt im Wahlkampf und welche Reformen schlagen die einzelnen Parteien genau vor? Der dritte Abschnitt handelt vom Zusammenbruch der Wirtschaft und von der Bankenkrise. Ich beschreibe kurz den Ernst der Lage und erörtere, wie die Parteien damit im Zuge ihrer Wahlkampagnen umgehen. Im vierten und letzten Kapitel analysiere ich verschiedene mögliche Ergebnisse der Parlamentswahlen 2011.


2. Niedergang einer Regierungspartei?

Als die Anmeldefrist für Wahlkandidaten Anfang Februar abgelaufen war, stach eine Tatsache besonders hervor: Erstmals hatte Fianna Fáil nicht genügend Bewerber aufgestellt, um eine Mehrheit im irischen Unterhaus Dáil Éireann erzielen zu können - selbst wenn alle Kandidaten gewählt würden. Seit ihrem ersten Wahlsieg im Jahr 1932 hatte sie stets die größte Fraktion im Dáil gebildet und meistens so viele Parlamentssitze gewonnen, dass sie alleine regieren konnte. Nun musste Fianna Fáil einsehen, dass es mit ihrer vorherrschenden Stellung in der irischen Politik vorbei war. Für das 166 Sitze umfassende Unterhaus hat sie gerade einmal 76 Kandidaten aufgestellt, während es die größte Oppositionspartei Fine Gael auf 104 und die Labour Party auf 68 Kandidaten bringt. Fianna Fáil musste die Anzahl ihrer Kandidaten reduzieren, weil sie in Umfragen nur noch auf 15 bis 16 Prozent kam. Andernfalls hätte im irischen Wahlsystem die Gefahr noch größerer Verluste bestanden (siehe unten). Für eine Partei, die bei den Wahlen 2002 und 2007 je rund 41 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, muss dieser Vorgang regelrecht erschütternd gewesen sein. Fine Gael dagegen war aus den Kommunal- und Europawahlen 2009 als größte Partei hervorgegangen und ist sich nun sicher, stärkste Kraft im nächsten irischen Unterhaus zu werden. In Umfragen sprechen sich zwischen 32 und 35 Prozent der Befragten für Fine Gael aus.

Noch dramatischer ist die Schicksalswende der Labour Party. Jahrzehntelang war das irische Parteiensystem von den beiden Parteien dominiert worden, die aus dem Disput um den Anglo-Irischen Vertrag von 1921 hervorgegangen waren, der Irlands Unabhängigkeit besiegelte: Fianna Fáil und Fine Gael. Labour füllte im politischen Wettbewerb lediglich eine kleine, wenn auch sichere Nische aus. Üblicherweise kam die Partei auf zehn bis zwölf Prozent der Wählerstimmen und stellte selten mehr als 20 Abgeordnete im Dáil. Um an die Macht zu gelangen, mussten die irischen Sozialdemokraten stets eine Koalition mit der größeren und konservativeren Fine Gael eingehen - und ihre Politik der linken Mitte verwässern. Heute jedoch taxieren Wahlforscher die Labour Party beständig bei 24 Prozent; in einigen Umfragen im Jahr 2010 verzeichnete sie sogar mehr Zustimmung als Fine Gael. Mehr noch: In den vergangenen Jahren war Labour-Chef Eamon Gilmore durchweg der beliebteste aller Parteivorsitzenden. Aus diesen Gründen ist der Wahlkampf von bemerkenswert scharfen Anfeindungen zwischen Fine Gael und Labour geprägt; beide Parteien streben nach der Vormachtstellung. Die Labour Party wirbt mit dem Slogan »Gilmore for Taoiseach« - zum ersten Mal in der irischen Geschichte hat ein Labour-Chef Außenseiterchancen auf das Amt des Premierministers (Taoiseach). Allerdings hat sich Fine Gaels Vorsprung vor Labour in den jüngsten Umfragen verfestigt, obgleich ihr Vorsitzender Enda Kenny trotz des Aufstiegs seiner Partei ein andauerndes Problem mit niedrigen Popularitätswerten hat.

Fianna Fáil kämpft darum, wenigstens mehr Parlamentssitze zu bekommen als die kleineren Oppositionsparteien, vor allem als Sinn Féin. Für sie ist es eine Schmach: In den vergangenen zwei Jahren hat die Fianna Fáil in einem Ausmaß an Unterstützung eingebüßt, das vorher undenkbar war. Ende 2010 bekam sie in einigen Umfragen weniger Zustimmung als Sinn Féin. Die scheidende Regierung und besonders der amtierende Premierminister Brian Cowen sind dermaßen unbeliebt, dass ein Konflikt innerhalb seiner Parlamentsfraktion Mitte Januar zu einer Vertrauensabstimmung über Cowen führte. Er gewann die Abstimmung zwar, verkündete aber wenige Tage später, sich nach den kommenden Parlamentswahlen aus der Politik zurückzuziehen. Das neue Gesicht der Partei ist der ehemalige Außenminister Micheál Martin. Er tritt im Wahlkampf mit einem Elan auf, der seine Gegner überrascht hat. Martin versucht, von der Verantwortung seiner Partei für die ökonomische Krise abzulenken und Fianna Fáil als reformerische Kraft darzustellen. Seine persönlichen Umfragewerte sind besser als Enda Kennys von Fine Gael, haben die Erfolgsaussichten seiner Partei aber bisher nicht entscheidend verbessert.

Das irische Parteiensystem wird sich nach den Parlamentswahlen 2011 maßgeblich in Richtung der europäischen Normalität entwickeln. Vielen Europäern war es ein Rätsel, weshalb die irische Politik von zwei Parteien der rechten Mitte dominiert wurde, die sich inhaltlich kaum unterscheiden - beide sind vehemente Verfechter des freien Marktes und stehen für eine minimalistische Sozialpolitik -, während die Linke nur eine Nebenrolle spielte. Bei genauerem Hinsehen war die Wirklichkeit etwas komplexer: Fianna Fáil ist eine klassenübergreifende Partei mit einem sehr populistischen Politikstil und spielt im Verhältnis zu Nordirland die nationalistische Karte aus. Früher waren einige ihrer politischen Inhalte durchaus mit der europäischen Sozialdemokratie vergleichbar, besonders die von ihr unterstützte Entwicklung eines soliden halbstaatlichen Industrie- und Dienstleistungssektors und ihre vormalige Wohlfahrtspolitik. Aber diese Elemente sind im Laufe der Zeit stark verwässert worden. Zusätzlich haben die engen Verbindungen, die Fianna Fáil mit den irischen Eliten eingegangen ist (speziell mit Bauunternehmern und Bankern), den Charakter der Partei dramatisch verändert und sie schließlich in die Knie gezwungen. Auch deshalb ist es mehr als bemerkenswert, wenn das Parteiensystem sich nun deutlich verschiebt und stärker entlang eines Links-Rechts-Schemas ausrichtet. Die traditionelle Gegnerschaft zwischen Fianna Fáil und Fine Gael - Irlands große Mitte-Rechts-Parteien - kaschiert die Tatsache, dass beide zusammen nur noch etwas weniger als die Hälfte der Wählerschaft hinter sich versammeln, während die andere Hälfte der Wähler die verschiedenen Mitte-Links-Parteien unterstützt. Dazu gehören die Labour Party mit Zustimmungswerten von ungefähr 24 Prozent, Sinn Féin mit etwa 13 Prozent sowie diverse kleinere Parteien (einschließlich der Grünen) und unabhängige linke Kandidaten, die alle zusammen auf rund zwölf bis 13 Prozent kommen.

Doch große Meinungsverschiedenheiten erschweren die Zusammenarbeit im linken Spektrum. Diese Differenzen betreffen erstens - wie in der europäischen Linken üblich - bestimmte Politikansätze, wobei diese unterschiedlichen politischen Auffassungen am deutlichsten bei den Vorschlägen zur Lösung der Bankenkrise werden: Die Labour Party plädiert dafür, mit der EU, der EZB und dem IWF über das Rettungspaket neu zu verhandeln, um das Potenzial für die wirtschaftliche Erholung zu maximieren und die irischen Banken mit den meisten toxischen Papieren geordnet abzuwickeln. Andere linke Parteien, einschließlich Sinn Féin, fordern dagegen, das Rettungspaket einseitig aufzukündigen und die »vergifteten« Banken sofort zu schließen, ohne die Gläubiger zu entschädigen. Natürlich schadet der Labour Party, die in wenigen Tagen mit ziemlich großer Sicherheit an die Macht gelangen wird, schon allein der Verdacht, dass sie eine solche Politik möglicherweise verfolgen könnte (wenn nicht unter den Wählern, dann unter internationalen Investoren und Anleihegläubigern). Genau deshalb werfen Kandidaten, die links von Labour stehen, der Partei häufig vor, den Ausverkauf an die internationalen Finanzeliten zu betreiben - auf Kosten der heimischen Durchschnittsverdiener und Arbeitslosen. Zweitens existiert im linken Lager ein spezifisch irisches Problem: die Abneigung zwischen Labour und Sinn Féin. Die entfernten Wurzeln der Sinn Féin liegen im irischen Kampf für die Unabhängigkeit, aber weil sie die politischen Institutionen des irischen Staates viele Jahrzehnte nicht anerkannte, verschwand sie zunächst in der Versenkung. Der Ursprung der heutigen Sinn Féin geht auf den Hungerstreik in Nordirland in den frühen 80er Jahren zurück: Damals trat Sinn Féin als politischer Arm der Guerilla-Organisation Irish Republican Army (IRA) auf den Plan. Seit dem Friedensprozess in den 90er Jahren verzeichnet die Partei in Nordirland erhebliche Wahlerfolge, wenngleich sich die Zustimmung in der Irischen Republik in Grenzen hält und sie derzeit lediglich über fünf Sitze im Parlament verfügt. Obwohl die Partei ein linkes Vokabular übernommen hat, besteht aufgrund ihrer Geschichte als politischer Arm der IRA bei vielen linken Wählern ein Glaubwürdigkeitsproblem. Genau deshalb hat Labour eindeutig abgelehnt, was Sinn Féins Führungsspitze propagiert: eine gemeinsame linke Allianz.

Noch eine Bemerkung zur grünen Partei Green Party: Im Verlauf der letzten Wahlen konnte sie viele neue Unterstützer hinzugewinnen und stellt derzeit sechs Abgeordnete im Dáil, aber dass die Grünen im Jahr 2007 eine Regierungskoalition mit Fianna Fáil eingingen, hat ihnen massiv geschadet. Wahrscheinlich werden die Grünen bei den anstehenden Wahlen keinen einzigen Sitz erhalten. Zwar konnten sie in einigen zentralen Politikfeldern Reformen verwirklichen, wie etwa verbesserte Standards bei der Wärmedämmung von Gebäuden oder die Einführung einer Kohlendioxidsteuer, ihr ehrgeiziges Klimaschutz-Gesetz brachten sie aber erst Ende 2010 ins Parlament ein - und bevor es verabschiedet werden konnte, wurden Neuwahlen ausgerufen. Seltsamerweise haben die Grünen überhaupt keinen Hehl daraus gemacht, dass sie 2007 eine Mitte-Links-Regierung mit Labour bevorzugt hätten. Aber sie waren dermaßen entschlossen, an die Macht zu gelangen, dass sie ihre Abneigung gegenüber Fianna Fáil überwanden. Wären die Grünen in der Opposition geblieben, würden sie bei den anstehenden Wahlen vermutlich Stimmen hinzugewinnen. Doch sie waren an der Regierung, als die Wirtschaft kollabierte. Nun trifft auch sie der geballte Zorn der Wähler.


3. Reform eines dysfunktionalen politischen Systems

Mit einiger Sicherheit werden die Wahlen 2011 zu den umfangreichsten Reformen des politischen Systems Irlands seit der Unabhängigkeit führen. Sogar Fianna Fáil schlägt dramatische Änderungen vor - ausgerechnet die Partei, welche das politische System immer dominiert hat und die sich nie länger als eine Legislaturperiode in der Opposition befand. Denn in Irland besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Bankenkrise und der wirtschaftliche Zusammenbruch große Schwächen des politischen Systems widerspiegeln, welche die geplanten Reformen beheben sollen. Seit Jahrzehnten beschreiben Politikwissenschaftler die zentralen Probleme der Funktionsweise irischer Politik. Gelegentlich haben sich führende Politiker für Reformen eingesetzt, ohne dass diese jemals verwirklicht wurden, selbst wenn die Vorschläge von einer Regierungskommission kamen. Es sieht so aus, als sollte sich das nun ändern.

Jeder irische Politikstudent kennt die beiden wichtigsten Schwächen des politischen Systems Irlands: das Wahlsystem und die Gewaltenteilung im Dáil. Irlands Wahlsystem der übertragbaren Einzelstimmen (single transferable vote) hat den Vorteil, in der Regel eine relativ enge Korrelation zwischen dem Anteil an gewonnenen Sitzen im Unterhaus und dem Anteil der Stimmen für jede Partei zu gewährleisten. Jedoch ist weithin anerkannt, dass dieses System den lokalen und personalisierten Charakter verstärkt, der die politische Repräsentation Irlands kennzeichnet. Pro Wahlkreis werden mehrere Sitze vergeben, sodass Kandidaten derselben Partei miteinander um Stimmen konkurrieren. Infolgedessen müssen sich Bewerber eine starke persönliche Unterstützerbasis aufbauen, indem sie für lokale Anliegen eintreten, anstatt sich auf allgemeine politische Themen zu konzentrieren. Für das politische System hat das zwei Konsequenzen: Tendenziell werden nicht diejenigen gewählt, welche die notwendigen Fähigkeiten und das Fachwissen für die Gesetzgebung haben, sondern jene, die sich am besten für lokale Angelegenheiten einsetzen. Und so müssen sich selbst viel beschäftigte Minister um (unter Umständen) nebensächliche Lokalthemen kümmern, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, ihren Sitz im Parlament zu verlieren.

Zu einem gewissen Grad rührt das Problem der unterentwickelten Gewaltenteilung ebenfalls aus dem Wahlsystem: Internationalen Studien zufolge ist die irische Exekutive im europäischen Vergleich eine der mächtigsten, weil sie die Tagesordnung des Parlaments kontrolliert und - im Rahmen der Verfassung - den Zeitpunkt der Wahlen festlegt (Adshead / Tonge 2009: 41 f.). Viele Abgeordnete, selbst aus Regierungsparteien, klagen darüber, wie wenig Einfluss sie haben. Zudem sind die Ausschüsse, die als Mechanismus zur Kontrolle des Regierungshandelns vorgesehen sind, in Wahrheit machtlos und nur mit begrenzten Kompetenzen ausgestattet.

Diese endemischen Schwächen gelten als eine Ursache für die großen Probleme der irischen Wirtschaft. In einem Bericht für das irische Finanzministerium decken die internationalen Finanzexperten Klaus Regling und Max Watson in forensischer Manier das vielfältige Regierungsund Politikversagen auf, das zu der keltischen Krise führte. Beispielsweise hat die Finanzpolitik das Steuersystem erodieren lassen, weil sie einseitig auf konjunkturabhängige Steuern wie Steuern auf den Erwerb von Eigentum oder auf Kapitalgewinne setzte. Diese Einnahmen brachen in der Krise zusammen. Und die laxe und schlecht ausgestattete Bankenregulierung war nicht im Stande, die rücksichtslosen Geschäftspraktiken der Banken zu erkennen oder darauf zu reagieren. Regling und Watson sprechen von einem »kollektiven Steuerungsversagen «. Zum Teil spiegele sich darin »ein unkritischer Enthusiasmus für den Erwerb von Eigentum wider, der so etwas wie ein nationaler blinder Fleck geworden war« (Regling / Watson: 33 f.). Dieses Governance-Versagen geht zurück auf die schwache Kontrolle des Regierungshandelns durch das Parlament, auf den Mangel an Fachwissen und Interesse der Abgeordneten, diese Rolle auszufüllen sowie auf eine allgemeine Kultur des selbstgefälligen Konsenses, die den irischen Boom charakterisierte - und die im Grunde jede kritische Debatte unmöglich machte.

Diese Herausforderungen sind für die anstehenden Reformen ganz zentral. Interessanterweise geht Fianna Fáil am weitesten und propagiert ein Wahlsystem nach deutschem Vorbild: Je Wahlkreis soll nur noch ein Abgeordneter direkt gewählt werden und eine Listenwahl soll sicherstellen, dass zukünftig lediglich Abgeordnete mit der nötigen Expertise ins Parlament gelangen. Ferner schlagen sie vor, dass die Minister ihren Sitz auch nachrückenden Kandidaten überlassen können, um sich ganz auf die Staatsangelegenheiten zu konzentrieren. Auch die Grünen und Sinn Féin sind für eine Mischung aus einer Direkt- und Listenwahl. Fine Gael will die Anzahl der Parlamentarier um 20 reduzieren (die Grünen um 46) und im Gegenzug ihre Macht mithilfe einer Stärkung der Ausschüsse und längerer Sitzungszeiten ausbauen. Labour befürwortet einen Konvent, der in den kommenden zwölf Monaten eine neue Verfassung mit weitreichenden Änderungen des politischen Systems erarbeiten soll. Sie will die Kabinettsmitglieder vermehrt für ihr Handeln verantwortlich machen, den Abgeordneten zusätzliche Möglichkeiten für Gesetzesinitiativen geben und ein unabhängiges Beratungsgremium einführen, das die Fiskalpolitik der Regierung überwacht. Fianna Fáil, Fine Gael sowie die Labour Party fordern allesamt die Abschaffung des irischen Oberhauses, des Seanad, da dieses gemeinhin als Geldverschwendung angesehen wird. Ferner wollen alle Parteien die Ministergehälter reduzieren. In einem Leitartikel schrieb die Irish Times, die angekündigten Reformen würden zu »erdrutschartigen Veränderungen unserer rechtsstaatlich verfassten Demokratie« führen. Gleichzeitig rügte sie Fianna Fáil für ihre »damaskusartige Wandlung«, nachdem die Partei in 13 Regierungsjahren »Forderungen nach einer Reform des Dáil, nach größerer ministerieller Rechenschaftspflicht und angemessener Vorausplanung ignoriert oder zurückgewiesen hat« (8. Februar 2011).


4. Die Wirtschaft und die Banken reparieren

Die Wahlen 2011 unterscheiden sich von allen vorherigen vor allem auch dadurch, dass die Parteien nur sehr wenige Versprechen machen können, den Lebensstandard der Menschen zu verbessern, denn das Rettungsprogramm von EU, EZB und IWF umfasst ein strenges, vierjähriges Sparkonzept, mit dem das gewaltige Haushaltsdefizit in Höhe von 32 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2010 auf drei Prozent im Jahr 2015 reduziert werden soll. Diese Zahlen beruhen übrigens auf Schätzungen, wie viel der Staat für die Stabilisierung des Bankensektors aufbringen muss. Rechnet man diese Kosten heraus, betrug das BIP im Jahr 2010 um die elf Prozent und wird in diesem Jahr voraussichtlich auf rund 9,5 Prozent fallen.

Alle Parteien wissen, dass die wirtschafts-, finanz- und steuerpolitische Handlungsfreiheit der nächsten Regierung extrem beschränkt ist. Die neue Regierung wird sich gewaltigen Problemen gegenüber sehen, wie sie keine frisch gewählte Regierung je bewältigen musste: Seit 2008 sind die staatlichen Einnahmen förmlich zusammengebrochen. Im Jahr 2010 sanken die Steuereinnahmen auf 32 Milliarden Euro, während sie 2009 noch 33 Milliarden Euro und im Jahr 2008 rund 41 Milliarden Euro betragen hatten. Parallel stieg das Haushaltsdefizit von 13 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf 25 Milliarden Euro im Jahr 2009. Ende 2010 war es wieder auf etwa 19 Milliarden Euro zurückgegangen. Diese untragbare finanzielle Situation wird durch den immensen Abfluss staatlicher Mittel verschlimmert, weil fast alle Banken des Landes in der Krise stecken. Bereits Ende 2010 waren etwas unter 30 Milliarden Euro an staatlichen Geldern allein in die Anglo Irish Bank geflossen, die sich finanziell am meisten übernommen hatte und im Jahr 2009 verstaatlicht worden war. Die Ausgaben für die Rettung des gesamten Bankensektors wurden zunächst auf etwa 50 Milliarden Euro geschätzt. Doch die große Ungewissheit darüber, wie hoch die Kosten am Ende tatsächlich sein werden, zeigte sich inmitten des Wahlkampfes: Alan Dukes, von der Regierung ernannter Vorstand der Anglo Irish Bank, vormaliger Vorsitzender der Fine Gael und früherer Finanzminister, ließ verlauten, der Bankensektor benötige möglicherweise zusätzliche 50 Milliarden Euro. Obendrein hinterließ Finanzminister Brian Lenihan der nächsten Regierung ein vergiftetes Geschenk, als er eine Zahlung in Höhe von zehn Milliarden Euro im Rahmen des Rettungsschirms aufschob.

In diesem Zusammenhang drehen sich die meisten ökonomischen Debatten um die Frage, wie das Rettungspaket neu verhandelt werden kann. Fianna Fáil hat keine andere Wahl, als an der Einigung festzuhalten, immerhin hat sie als größte Regierungspartei die Verhandlungen selbst geführt. Jetzt versucht sie, Vorteile daraus zu ziehen, indem sie argumentiert, dass »die schwere Arbeit bereits getan sei«, wie es der Finanzminister ausdrückte - schließlich seien die schlimmsten Kürzungen bereits verwirklicht worden. Sowohl Fine Gael als auch Labour haben angekündigt, über das Paket erneut zu verhandeln, aber inhaltlich bestehen auch zwischen ihnen große Differenzen:

Die Labour Party will den Zeitpunkt, an dem das Defizit auf drei Prozent des BIP zurückgeführt werden muss, um ein Jahr - also auf 2016 - verschieben. Auf diese Weise sollen die notwendigen Einschnitte zwischen den Jahren 2012 und 2014 von neun auf dann sieben Milliarden Euro reduziert und die Chancen auf Wirtschaftswachstum erhöht werden. Allerdings wollen beide Parteien die Absenkung des Zinssatzes von derzeit 5,9 Prozent erreichen, den Irland unter dem Rettungsschirm zahlt. Er wird gemeinhin als übermäßige Belastung gesehen. Fine Gael hat Bundeskanzlerin Angela Merkels Vorschlag aufgegriffen, eine Schuldenbremse in die irische Verfassung aufzunehmen.

Ein weiterer Unterschied zwischen Labour und Fine Gael betrifft das richtige Verhältnis von Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, um die Sparziele zu erreichen: Während die Labour Party mit beiden Instrumenten jeweils die Hälfte der benötigten Sparsumme erzielen möchte, setzt Fine Gael in erster Linie auf Ausgabenkürzungen: Diese sollen zweieinhalb Mal so viel beisteuern wie Steuererhöhungen. Daraufhin hat Fine Gael die Labour Party im Wahlkampf als Steuererhöhungspartei gebrandmarkt und sich selbst als Niedrigsteuerpartei dargestellt, mit der Einkommensteuererhöhungen kategorisch ausgeschlossen seien.

Ferner wollen beide Parteien über die Schulden verhandeln, die bei den Gläubigern bestehen. Allerdings vertritt Fianna Fáil die Position, dieses Thema müsse in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern angepackt werden; ein irischer Alleingang könne negative Stimmungen gegen Irland auf den Finanzmärkten auslösen. Solche Befürchtungen scheinen andere Parteien im linken Lager nicht zu haben: Sinn Féin beispielsweise hat angekündigt, Gläubigerschulden einfach zurückzuweisen oder zu restrukturieren und Irland aus dem Rettungsschirm zu führen, indem keine weiteren Kredite von EU und IWF aufgenommen werden. Und die sozialistische Partei Socialist Party (SP) will die bestehenden Fonds zur Rettung des Bankensektors verwenden, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Infrastruktur weiterzuentwickeln.

Darüber hinaus unterscheiden sich die derzeitigen Oppositionsparteien von Fianna Fáil darin, dass sie sich für aktive Maßnahmen zur Schaffung neuer Jobs aussprechen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 13,5 Prozent und jedes Jahr verlassen 50.000 Menschen das Land. Die in dieser Beziehung vielleicht ideenreichste Partei ist Labour: Sie fordert die Gründung einer strategischen Bank, die in einheimische Firmen investiert. Dagegen kündigte Fine Gael an, die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber zu senken, in die Entwicklung zentraler Infrastrukturprojekte zu investieren und auf diese Weise in den kommenden vier Jahren für 80.000 neue Arbeitsplätze zu sorgen. Überdies existieren unter den Parteien verschiedene Vorstellungen darüber, wie stark die Beschäftigung im öffentlichen Sektor zurückzufahren ist: Fina Gael kündigte hier tiefere Einschnitte an als Fianna Fáil.


5. Mögliche Folgen

Da die Zustimmung für die Partei Fianna Fáil in den vergangenen zweieinhalb Jahren kontinuierlich abgenommen hat, gehen die meisten Beobachter davon aus, dass Fine Gael und Labour die nächste Regierungskoalition bilden werden. Als Labour die Fine Gael im vergangenen Jahr in Umfragen zeitweilig überholte, sah es sogar so aus, als könnte Labour den neuen Premierminister stellen. Inzwischen verfügt Fine Gael aber wieder über einen stabilen Vorsprung. Die Labour Party betont, zum ersten Mal in der irischen Geschichte bestehe die Chance, dass die nächste Regierung nicht von einer der beiden Parteien angeführt wird, welche die irische Politik seit den 20er Jahren dominiert haben. Einige Beobachter meinen, angesichts dieser Situation sollte Labour versuchen, ein linkes Bündnis mit Sinn Féin, den Grünen und unabhängigen linken Abgeordneten zu schmieden. So könnte sie die beiden Parteien des rechten Lagers dazu zwingen, zum ersten Mal zusammenzuarbeiten. Aber ein solcher Schritt geht der Labour-Führung offensichtlich zu weit. Deshalb ist es am wahrscheinlichsten, dass Fine Gael und Labour ein Regierungsbündnis bilden, wenn der neue Dáil am 9. Mai 2011 erstmals zusammenkommen wird.

Allerdings neigt das irische Wahlsystem dazu, Überraschungen zu produzieren - das galt nie so sehr wie heute. Die Folgen des Einbruchs von Fianna Fáil sind unvorhersehbar. Früher haben deren Anhänger nicht im Traum daran gedacht, für Fine Gael zu stimmen, obwohl diese Partei ihnen häufig politisch am nächsten stand. Es ist vollkommen offen, welche Partei von den ehemaligen Wählern der Fianna Fáil am meisten Zulauf bekommen wird, zumal es diesmal besonders viele unabhängige Kandidaten gibt. Sie könnten von der hohen Volatilität überproportional profitieren. In einem solchen Fall hätten sie den Schlüssel für die Regierungsbildung in der Hand: Wenn genügend Abgeordnete der Fine Gael ins Parlament einziehen, könnte eine Gruppe unabhängiger, Fine Gael nahestehender Abgeordneter eine Minderheitsregierung unterstützen. Labour bliebe dann außen vor. Zu Beginn des Wahlkampfes nährten Äußerungen des amtierenden Premierministers Brian Cowen und des neuen Fianna Fáil-Vorsitzenden Micheál Martin die Spekulationen über eine derartige Konstellation. Beide Politiker zogen die Unterstützung einer Fine Gael-Minderheitsregierung in Erwägung, solange diese Fianna Fáils politische Inhalte verwirklichen würde. Es kann nicht stark genug betont werden, wie bemerkenswert ein solches Angebot im politischen Wettbewerb Irlands ist. Und auch wenn diese Äußerungen anschließend heruntergespielt wurden, sind sie ein interessanter Hinweis darauf, dass die Situation nach den Wahlen möglicherweise unsicherer ist, als es derzeit scheint.

Auf der anderen Seite bewirkt die Wahl sehr wahrscheinlich einen Linksruck. Offen ist lediglich, wie deutlich dieser ausfällt und wie sich die Gruppe der linken Abgeordneten im neuen Parlament zusammensetzen wird. Wie gesagt: Sollte Labour sehr gut abschneiden und an die Größe der Fraktion von Fine Gael herankommen und sollte es die Wahlarithmetik erlauben, dann könnte Labour in die Versuchung kommen, eine linke Regierung zu bilden. Diese Option ist jedoch weit weniger realistisch.

Um zu der wahrscheinlichsten Variante zurückzukommen: Eine Koalition zwischen Fine Gael und Labour bringt eine Vielzahl von Problemen mit sich. Beispielsweise waren die beiden Parteien in Bezug auf ihre politischen Inhalte vielleicht nie so weit voneinander entfernt wie heute. Diese Trennlinien werden verschärft durch den feindseligen Ton im Wahlkampf und die Attacken auf die politischen Vorstellungen der Gegenseite. Damit wird es umso schwieriger, nach den Wahlen ein gemeinsames Regierungsprogramm zu erarbeiten. Hinzu kommt, dass Labour-Chef Eamon Gilmore unter den Wählern durchweg der sehr viel populärere Kandidat für das Amt des Taoiseach war als der Fine Gael-Vorsitzende Enda Kenny. Eine von Labours zentralen Forderungen könnte das Amt des Premierministers sein, was eine Einigung gewiss erschweren würde. Es wird interessant sein, zu beobachten, ob und wie diese Meinungsverschiedenheiten überwunden werden.

Jenseits der Frage nach der nächsten Regierungsbildung werfen die Wahlen 2011 eine faszinierende längerfristige Frage auf: Kann Fianna Fáil trotz des beispiellosen Tiefstandes in den Meinungsumfragen in den kommenden Jahren ein Comeback feiern oder markiert diese Wahl den Beginn einer grundlegenden Neuausrichtung der irischen Politik? Beobachter im In- und Ausland wundern sich schon lange darüber, wie Fianna Fáil ihre jahrzehntelange Dominanz der politischen Bühne Irlands aufrechterhalten konnte. Ohne Zweifel steht die Partei nun vor ihrer größten Herausforderung überhaupt. Aber nur wenige würden darauf wetten, dass sie sich nicht wieder selbst neu erfindet.


Literatur

Adshead, Maura / Tonge, Jonathan (2009): Politics in Ireland: convergence and divergence on a two-polity island. Hampshire: Palgrave Macmillan.

Regling, Klaus / Watson, Max (2010): A Preliminary Report on the Sources of Ireland's Banking Crisis. Dublin: Government Publications.


Über den Autor
Peadar Kirby ist Professor of International Politics and Public Policy an der University of Limerick.

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

ISBN 978-3-86872-654-1

http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/07873.pdf


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Quelle:
Friedrich-Ebert-Stiftung - Internationale Politikanalyse
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Verantwortlich:
Dr. Gero Maaß, Leiter Internationale Politikanalyse
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2011