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STANDPUNKT/084: Freies Europa (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 3. April 2020
german-foreign-policy.com

Freies Europa

Berlin steht klarer EU-Kritik an Ungarns neuem "Corona-Gesetz" mit seinem antidemokratischen Charakter im Weg.


BERLIN/BUDAPEST - Die deutschen Unionsparteien verweigern sich einer klaren Positionierung der Europäischen Volkspartei (EVP) zu Ungarns neuem "Corona-Gesetz" mit seinem antidemokratischen Charakter. Das Gesetz sieht unter anderem einen zeitlich unbefristeten Notstand vor, während dessen der Ministerpräsident alleine per Dekret regieren kann. Ein Schreiben, in dem gestern 13 konservative Parteien aus elf Ländern Europas gefordert haben, die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán aus der EVP auszuschließen, weil sie das "Corona-Gesetz" verantwortet, wird von CDU und CSU nicht unterstützt. Auch die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezieht nur in höchst schwacher Form Position. Die Bundesrepublik hat selbst ein Infektionsschutzgesetz verabschiedet, dem Juristen bescheinigen, mit zentralen Lehren aus "dem historischen Trauma des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933" zu brechen. Die Maßnahmen sind auch deswegen bemerkenswert, weil es noch vor kurzem stets hieß, Chinas hartes Vorgehen gegen die Covid-19-Epidemie sei in der "freien Welt" nicht denkbar.

Ungarns "Corona-Gesetz"

Ungarns neues, am Montag beschlossenes "Corona-Gesetz" sieht vor, dass die Regierung des Landes ohne Bindung an parlamentarische Mehrheiten mit Dekreten regieren kann - und zwar auf unbestimmte Zeit. Mit ihren Dekreten ist sie faktisch an keinerlei Gesetze gebunden; so kann sie "die Anwendung einzelner Gesetze suspendieren, von gesetzlichen Vorkehrungen abweichen oder andere außerordentliche Maßnahmen treffen".[1] Die "nationale Gefahrenlage", die Voraussetzung für das Regieren per Dekret ist, wird von der Regierung erklärt und von ihr auch wieder beendet. Auch das Parlament kann sie grundsätzlich aufheben; allerdings setzt dies eine Mehrheit gegen Ministerpräsident Viktor Orbán voraus, die unter den derzeitigen politischen Verhältnissen nicht in Sicht ist. Während die "nationale Gefahrenlage" andauert, sind zudem keine Wahlen erlaubt. Als schwerwiegend werden auch zwei ebenfalls am Montag beschlossene Strafgesetzänderungen eingestuft. Eine von ihnen sieht vor, dass Verstöße gegen Quarantänevorschriften mit bis zu acht Jahren Haft geahndet werden können. Bis zu fünf Jahre Haft drohen beim Verbreiten "falscher und verdrehter Nachrichten". Letzteres übt fatalen Druck auf diejenigen regierungskritischen Medien aus, die sich trotz des zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen repressiven Mediengesetzes noch behaupten konnten. Kritiker warnen deshalb, "ohne unabhängige Medien und wahrscheinlich auch ohne eine kritische Zivilgesellschaft" drohe Ungarn angesichts der Möglichkeit, per Dekret zu regieren, der Übergang in "eine Diktatur".[2]

Keine Konsequenzen

Trotz des klar antidemokratischen Charakters des neuen ungarischen Gesetzes bleibt bislang eine deutliche Stellungnahme der EU aus. EU- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zunächst nur allgemein ohne Nennung Ungarns geäußert, Notstandsmaßnahmen sollten "nicht auf unbestimmte Zeit" verhängt werden. Auch sei es in der jetzigen Krise "noch wichtiger als sonst", dass "Journalisten ihre Arbeit frei und genau ausüben können".[3] Gestern publizierten 13 EU-Staaten eine gemeinsame Erklärung, man sei "tief besorgt", es könnten "die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte" vielleicht durch gewisse "Notfallmaßnahmen verletzt werden": "Notfallmaßnahmen sollten sich auf das Allernötigste beschränken, angemessen und befristet sein, regelmäßig geprüft werden und die oben genannten Prinzpien und völkerrechtlichen Verpflichtungen wahren".[4] Kommissionspräsidentin von der Leyen benannte Ungarn in diesem Zusammenhang am gestrigen Donnerstag zum ersten Mal offen, blieb aber dennoch im Ungefähren: Sie sei "besorgt", dass "bestimmte Maßnahmen zu weit" gingen. Zudem sei sie "insbesondere über die Situation in Ungarn besorgt".[5] Konkrete Konsequenzen bleiben allerdings aus.

Deutschland bremst

Ursache ist vor allem, dass Deutschland bremst. Auch konservative politische Parteien in anderen EU-Staaten fordern, auf das ungarische "Corona-Gesetz" mit Härte zu reagieren. Es handle sich bei ihm um "eine klare Verletzung grundlegender Prinzipien liberaler Demokratie und europäischer Werte", heißt es in einem Brief, mit dem sich gestern 13 Mitgliedsparteien der konservativen EVP aus insgesamt elf europäischen Staaten an EVP-Präsident Donald Tusk wandten. Man fürchte, Ministerpräsident Orbán könne "seine neu erreichte Macht nutzen", um "den Zugriff der Regierung auf die Zivilgesellschaft weiter auszudehnen".[6] Orbáns Partei Fidesz sei gegenwärtig von der Mitgliedschaft in der EVP suspendiert - eine Folge früherer Auseinandersetzungen um Maßnahmen der ungarischen Regierung. Nach der Verabschiedung des "Corona-Gesetzes" verlange man nun weiter reichende Maßnahmen: "Wir fordern den Ausschluss des Fidesz aus der EVP". Nicht unterstützt wurde das Schreiben von Sloweniens Ministerpräsident Janez Jan‡a, der Orbán politisch nahe steht. Darüber hinaus fehlen die Unterschriften von Vertretern der CSU wie auch der CDU.

Nicht mehr an Gesetze gebunden

Dabei ist Ungarn nicht der einzige Staat der EU, dessen Corona-Gesetzgebung massiv gegen demokratische Prinzipien verstößt. Letzteres trifft auch auf das neue Infektionsschutzgesetz zu, das in der vergangenen Woche von Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden ist. Es ermächtigt den Bundesgesundheitsminister im Fall einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" zu weitreichenden Maßnahmen, die die Einschränkung zentraler Grundrechte umfassen. Zwar muss - anders als in Ungarn - die "epidemische Lage" vom Parlament festgestellt werden; zudem sind die Einschränkungen zeitlich auf ein Jahr beschränkt. Juristisch bricht das Gesetz aber mit Lehren, die, wie kürzlich zwei deutsche Jura-Professoren konstatierten, aus "dem historischen Trauma des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933" gezogen wurden.[7] In der Tat stelle das neue Gesetz "die Gesetzesbindung von Regierung und Verwaltung weitgehend zur Disposition" - dies in offenem "Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung.

Grundgesetzwidrig

Ähnlich weitreichende Bestimmungen enthält der Entwurf für ein neues Epidemiegesetz, das die Regierung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen plant. Demnach sollen nicht nur medizinisches, pflegerisches und sanitäres Material von der Landesregierung beschlagnahmt werden dürfen, falls eine landesweite Epidemie vorliegt.[8] Es sollen in diesem Fall künftig auch Ärzte und andere medizinische Fachkräfte zu einschlägigen Aktivitäten zwangsverpflichtet werden können. Darüber hinaus soll das Gesundheitsministerium des Bundeslandes ermächtigt werden, Anordnungen zu treffen, die bestehenden gesetzlichen Normen widersprechen. Anders als im Fall des neuen Infektionsschutzgesetzes auf Bundesebene ist jedoch unklar, ob die Landesregierung das Gesetz unverändert verabschieden kann. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) hält Korrekturen für "zwingend geboten": Der Entwurf sei "ein Affront gegenüber der Ärzteschaft und grundgesetzwidrig".[9] Es handle sich um die "schärfsten kollektiven Grundrechtseingriffe[...] der nordrhein-westfälischen Landesgeschichte"; sie müssten "dringend revidiert" werden.

"Das autoritäre China"

Die Maßnahmen in den EU-Staaten Ungarn und Deutschland - hier auf Bundes- und Landesebene - sind auch deshalb bemerkenswert, weil Chinas energisches Einschreiten gegen die Covid-19-Epidemie im Januar und im Februar in deutschen Medien gewöhnlich negativ kommentiert wurde. Harte Quarantänemaßnahmen etwa, wie sie "das autoritäre China" durchführe, seien, so hieß es, "in demokratisch regierten Staaten schlicht undenkbar".[10] Längst sind unter dem Druck der rasant zunehmenden Todesfälle in mehreren Staaten der EU harte Ausgangssperren verhängt worden - wie nicht nur in China, sondern etwa auch in Südkorea und Singapur. Zusätzlich werden nun mit Hilfe von Notstandsgesetzen auch grundlegende demokratische Errungenschaften in Frage gestellt.


Anmerkungen:

[1] Frank Spengler, Bence Bauer: Ungarn in der Corona-Krise. kas.de 01.04.2020.

[2] Silviu Mihai: Auf dem Weg in eine Diktatur. zeit.de 31.03.2020.

[3] Von der Leyen kritisiert Ungarn wegen Notstands. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.04.2020.

[4] Gemeinsame Erklärung zu Rechtsstaatlichkeit in Zeiten von Covid-19. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts. Berlin, 02.04.2020.

[5] "Marshallplan für Europa". tagesschau.de 02.04.2020.

[6] Sarantis Michalopoulos: Centre-right leaders ask Tusk to expel Orban's Fidesz from EPP. euractiv.com 02.04.2020.

[7] S. dazu Die Grenzen des Machbaren
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8231/

[8] NRW-Regierung wegen geplantem Epidemie-Gesetz in der Kritik. spiegel.de 31.03.2020.

[9] Gerhart Baum kritisiert NRW-Epidemiegesetz. presseportal.de 02.04.2020.

[10] Bernhard Zand: So gefährlich ist das Coronavirus für Chinas Machthaber. spiegel.de 24.01.2020.
S. auch Berliner Prioritäten (II) https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8215/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2020

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