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GRIECHENLAND/014: In den Abgrund gekürzt (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 12. Mai 2017
(german-foreign-policy.com)

In den Abgrund gekürzt


BERLIN/ATHEN - Griechische Gewerkschaften kündigen neue Proteste gegen die jüngsten von Berlin und Brüssel erzwungenen Kürzungsprogramme an. Nach harten Verhandlungen hat die griechische Regierung in der vergangenen Woche, um die notwendigen Gelder für die im Juli fällige Rückzahlung von Krediten zu erhalten, drakonischen Maßnahmen zustimmen müssen. So sollen Massenentlassungen erleichtert, das ohnehin auf nur zwölf Monate beschränkte Arbeitslosengeld gekappt und die Renten weiter reduziert werden - um bis zu 18 Prozent. Griechische Rentner hätten dann seit 2010 in etwa die Hälfte ihrer Einkommen verloren. Dies wiegt umso schwerer, als Langzeitarbeitslose in Griechenland keinerlei staatliche Beihilfen erhalten und komplett von der Unterstützung durch Angehörige abhängig sind; traditionell waren die Renten deshalb eine Art Sozialhilfeersatz. Auch wegen der Rentenkürzungen ist die extreme Armut in Griechenland massiv gestiegen: von 2,2 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2009 auf 13,6 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2016. Wird das aktuelle Streichungsprogramm durchgesetzt, ist eine weitere Verarmung absehbar.

Ein Teufelskreislauf

Auf das jüngste Kürzungsprogramm mit einem Volumen von 3,6 Milliarden Euro musste sich die griechische Regierung am 2. Mai einlassen, um die Auszahlung neuer Mittel aus dem sogenannten Hilfsprogramm vom August 2015 sicherzustellen. Athen benötigt die Gelder im Juli, weil es dann hohe Summen unter anderem an Privatanleger und die Europäische Zentralbank (EZB) zurückzahlen muss; die mehr als sieben Milliarden Euro, die dazu notwendig sind, kann es ohne fremde Unterstützung nicht aufbringen. Einen Schuldenerlass, der eigentlich unumgänglich wäre und den sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) schon lange fordert, verweigert die Bundesregierung nach wie vor. Dabei zeigt die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, dass die von Berlin dominierte EU-Krisenpolitik nicht nur gescheitert ist, sondern das Land immer mehr in den Ruin treibt: Das griechische Bruttoinlandsprodukt ist von rund 226 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf rund 176 Milliarden Euro im Jahr 2016 abgestürzt; gleichzeitig ist die Verschuldung von 125 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (2010) auf 184 Prozent (2016) gestiegen. Ein Ausweg aus dem Teufelskreislauf von brutalen Kürzungen, schrumpfender Wirtschaftsleistung und anhaltend hoher oder sogar steigender Staatsschuld ist nicht in Sicht.

Massenentlassungen erleichtern

Zu den Maßnahmen, auf die Athen sich nun einlassen muss, zählen deutliche Verschlechterungen für die Beschäftigten beim Arbeitsrecht. So sollen Streiks künftig an ein Abstimmungsquorum von 50 Prozent der jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder gebunden sein, während die Verfahren, mit denen die Rechtmäßigkeit von Streiks festgestellt oder verneint wird, beschleunigt werden.[1] Willkürliche Massenentlassungen werden vereinfacht: Der zuständige Oberste Arbeitsrat (ASE) muss nur noch überprüfen, ob alle juristischen Formalitäten eingehalten wurden. Haben die betreffenden Firmen ihre Informationspflichten gegenüber den Beschäftigten erfüllt, können sie die Entlassungen schon vor der bislang einzuhaltenden Dreimonatsfrist vornehmen. Die Maßnahmen treffen ein Land, das ohnehin bereits unter der höchsten Arbeitslosigkeit in der gesamten EU leidet: Laut Angaben des Statistikamts Elstat waren im Februar mit 1,1 Millionen Menschen 23,2 Prozent der griechischen Erwerbsbevölkerung arbeitslos; die Jugendarbeitslosigkeit lag sogar bei fast 48 Prozent.

Renten kürzen

Gleichzeitig hat sich die griechische Regierung verpflichten müssen, dramatische Kürzungen bei den Renten vorzunehmen; damit sollen rund 1,8 Milliarden Euro eingespart werden - ungefähr ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es handelt sich laut Angaben der Rentnerorganisation ENDISY um die 23. Kürzungsmaßnahme seit Beginn der Krise. Die Renten sollen um bis zu 18 Prozent, im Durchschnitt um neun Prozent reduziert werden; wie es heißt, sind - bei einer Gesamtbevölkerung von knapp elf Millionen Menschen - rund 900.000 Rentner betroffen. ENDISY zufolge verfügen griechische Rentner, berücksichtigt man weitere Belastungen durch erzwungene Kürzungen in den vergangenen sieben Jahren, nur noch über die Hälfte der Mittel, die sie 2010 erhielten; manche können Telefon, Strom oder Medikamente nicht mehr bezahlen. Die Rentenkürzungen fallen umso stärker ins Gewicht, als Erwerbslose in Griechenland maximal ein Jahr lang Arbeitslosengeld in geringer Höhe erhalten; danach bekommen sie keinerlei staatliche Zuschüsse mehr und sind auf familiäre Unterstützung angewiesen. Die Renten haben daher in Griechenland traditionell auch die informelle Funktion einer Art Familienbeihilfe, die aufgrund der immensen Arbeitslosigkeit heute umso größere Bedeutung besäße, aber immer weniger wahrgenommen werden kann.

Freibeträge senken

Umso schwerer fällt auch die jetzt von der EU erzwungene Senkung der Steuerfreibeträge ins Gewicht, die ebenfalls Einsparungen in Höhe von rund einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbringen soll. Demnach werden in Zukunft Einkünfte nicht mehr ab einer Höhe von 8.636 Euro im Jahr, sondern bereits ab 5.681 Euro besteuert. Damit muss bereits Steuern zahlen, wer über ein Monatseinkommen von nicht einmal 500 Euro verfügt; Geringverdiener sind ganz besonders betroffen. Gekürzt werden darüber hinaus auch das auf zwölf Monate begrenzte Arbeitslosengeld, das ohnehin nur 127.000 von den rund 1,31 Millionen erwerbslosen Griechen beziehen, und die Heizkostenzuschüsse.

Extreme Armut

Dabei ist die Armut in Griechenland bereits jetzt außerordentlich hoch. Laut einer Untersuchung, die das unabhängige Forschungsinstitut diaNEOsis nun vorgelegt hat, ist die extreme Armut im Land von 2,2 Prozent der gesamten Bevölkerung im Jahr 2009 über rund 8,9 Prozent im Jahr 2011 auf 13,6 Prozent im Jahr 2016 gestiegen; damit trifft sie mittlerweile fast 1,5 Millionen Griechen. Die Schwelle zur extremen Armut setzt diaNEOsis etwa bei einem Einkommen von 176 Euro im Monat für alleinstehende Personen in ländlichen Gegenden oder bei Einkünften in Höhe von 879 Euro monatlich im Falle einer vierköpfigen Familie in Athen an.[2] Das Ausmaß der Not verdeutlichen auch Angaben über die Verschuldung im ärmsten Fünftel der Bevölkerung. Wie diaNEOsis schon im vergangenen Jahr berichtete, waren von diesem ärmsten Fünftel 27,1 Prozent nicht mehr in der Lage, ihre Miete vollständig zu bezahlen; 65,4 Prozent hatten Außenstände bei den Wohnnebenkosten. Manche hätten, hieß es in der Analyse, bereits "ein gravierendes Problem", einfach nur "zu überleben".[3]

Proteste

Entsprechend halten die Proteste gegen das neue Kürzungsprogramm an. Bereits am 1. Mai kam es zu breiten Demonstrationen, auf denen die Streichungsabsichten scharf angeprangert wurden. Am gestrigen Donnerstag besetzten Gewerkschaftsaktivisten Büros des Finanzministeriums in der Athener Innenstadt. Für kommenden Mittwoch, den 17. Mai, wird ein 24-stündiger Generalstreik angekündigt. Odysseus Trivalas, Vorsitzender von ADEDY, der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes, stellt weitere entschlossene Proteste in Aussicht: "Es wird ein sehr heißer Frühling."[4]


Anmerkungen:

[1] Supplemental Memorandum of Understanding: Greece. Draft Preliminary Agreement, 2 May 2017.

[2]  Θοδωρής Γεωργακόπουλος: Η Ακραία Φτώχεια Στην Ελλάδα Το 2016.
www.dianeosis.org April 2017.

[3] Thodoris Georgakopoulos: Extreme Poverty in Greece. www.dianeosis.org June 2016.

[4] Helena Smith: Unions predict protests over Greek bailout deal.
www.theguardian.com 02.05.2017.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2017

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