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GRIECHENLAND/017: Kein Licht am Ende des Tunnels (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 24. Juli 2018
german-foreign-policy.com

Kein Licht am Ende des Tunnels


ATHEN/BERLIN - Kurz vor dem Auslaufen des dritten Krisenprogramms für Griechenland beurteilen deutsche Ökonomen die Zukunft des Landes skeptisch und fordern weitere Deregulierungsmaßnahmen. Athen habe die "Chance", die die Krise geboten habe, "nicht genutzt", heißt es in einer aktuellen Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW); daher sei die Wertschöpfung griechischer Unternehmen immer noch zu niedrig, um ein stärkeres Wirtschaftswachstum zu erreichen. Das DIW bedauert, dass mit dem Ende des Krisenprogramms der "Reformdruck" schwinde. Tatsächlich hat der deutsche "Reformdruck" auf Griechenland die Wirtschaft des Landes ruiniert und die Staatsverschuldung um fast 50 Prozent auf 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Höhe getrieben, zudem Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit hervorgebracht und Hunderttausende zur Arbeitsemigration gezwungen. Sogar der Internationale Währungsfonds verweigerte sich zuletzt der deutschen Austeritätspolitik. US-Medien attestieren Griechenland den "größten Kollaps, den ein reiches Land durchmachen musste".

Die Krise als "ungenutzte Chance"

Kurz vor dem Auslaufen des EU-Krisenprogramms für Griechenland beurteilt ein führendes deutsches Wirtschaftsinstitut das künftige Entwicklungspotenzial des sozioökonomisch verwüsteten Mittelmeerlandes überwiegend skeptisch. Das wirtschaftsnahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht in einer vergangene Woche publizierten Studie die Potenziale der griechischen Wirtschaft unvermindert "brachliegen".[1] Die Krise sei eine "Chance" gewesen, die Athen "nicht genutzt" habe. Die Wertschöpfung der Unternehmen verharre immer noch um 38 Prozent unterhalb des Niveaus bei Krisenausbruch 2008, sodass auch in Zukunft kein "stärkeres Wirtschaftswachstum" zu erwarten sei. Ein Ökonom urteilte im Gespräch mit dem DIW, zwar habe Griechenland "hunderte von Reformen durchmachen" müssen - Rentenkürzungen, Lohnsenkungen, Deregulierungen des Arbeitsmarktes und Einsparungen bei Staatsausgaben; doch fehlten dem austeritätsgeplagten Land nun die Möglichkeiten, den "Transformationsprozess in Richtung einer innovationsgetriebenen Ökonomie" einzuleiten.[2] Insbesondere die Rahmenbedingungen für "Innovationen und Investitionen" müssten weiter verbessert werden, urteilt das DIW. Die innovativen Potenziale der griechischen Wirtschaft könnten allerdings nicht ohne die weitere Bereitschaft Athens zu "umfangreichen angebotsorientierten Strukturreformen" aktiviert werden. Zwar sei der Arbeitsmarkt schon "stark dereguliert", doch müsse nun auch das übrige Umfeld unternehmerischer Aktivitäten mit Reformen bedacht werden. Athen müsse mit einem weiteren grundlegenden Umbau von Verwaltung, Justiz und Steuersystem die Investitionsbedingungen verbessern und den "Wissenstransfer von der Wissenschaft in die Wirtschaft forcieren". Da mit dem absehbaren Ende des EU-Krisenprogramms der "Reformdruck" in Athen schwinde, prognostiziert das DIW einen "kraftlosen Erholungsprozess".[3]

Berlins deflationäre Abwärtsspirale

In der Analyse des DIW dominiert weiterhin exemplarisch das in der Bundesrepublik im Krisenverlauf etablierte ideologische Narrativ, Griechenland sei reformunwillig oder reformunfähig; mit diesen Behauptungen wurden die desaströsen sozioökonomischen Folgen der Berliner Austeritätspolitik in dem Mittelmeerstaat rationalisiert. Die in immer neuen Schüben insbesondere vom ehemaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble oktroyierten "Sparprogramme" haben in dem Land immer wieder neu eine verheerende deflationäre Abwärtsspirale angefacht, von der es sich in absehbarer Zeit kaum erholen wird. Dabei führen die verordneten Kürzungs- und Sparmaßnahmen zu einem Einbruch der Binnennachfrage, zu Rezession und wachsender Arbeitslosigkeit, was wiederum die staatlichen Steuereinnahmen schrumpfen lässt und zugleich die Sozialausgaben erhöht. Die Folge: Trotz "Sparpolitik" bleibt das Haushaltsdefizit bestehen, während die Pauperisierung der Gesellschaft voranschreitet. Mit diesen Folgen ihrer Austeritätspolitik konfrontiert, haben die Berliner Funktionseliten - unter Verweis auf das obige Narrativ vom angeblich "faulen Südländer" - mit der weiteren Zuspitzung ihrer "Spar"-Forderungen reagiert, sodass Griechenland in den vergangenen zehn Jahren etliche extreme Austeritätsprogramme verkraften musste, die das Land sozioökonomisch grundlegend zerrüttet haben.

Armut und Hunger

Von einer echten Erholung Griechenlands vor dem Auslaufen des dritten Krisenprogramms kann denn auch im Hinblick auf die ökonomischen Eckdaten keine Rede sein. Das anämische Wachstum von 1,4 Prozent im Jahr 2017 (EU-Durchschnitt: 2,3 Prozent), das laut Schätzung von Experten in diesem Jahr auf voraussichtlich 2,1 Prozent steigen könnte, wird auf absehbare Zeit nicht den krisenbedingten Einbruch des griechischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) kompensieren können, das um rund ein Viertel einbrach.[4] Derzeit verzeichnet das Mittelmeerland eine Arbeitslosenquote von rund 20 Prozent [5], die immerhin niedriger ist als auf dem Höhepunkt der Krise im Jahr 2013, als 27,5 Prozent aller Griechen erwerbslos waren [6]. Die Jugendarbeitslosigkeit bleibt hingegen weiterhin auf dem sehr hohen Niveau von rund 40 Prozent. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Senkung der Arbeitslosenquote teilweise auf die enorme Emigration aus Griechenland zurückzuführen ist, die vor allem hochqualifizierte Arbeitskräfte umfasste.[7] Mehr als eine halbe Million griechischer Lohnabhängiger haben das Land im Verlauf der Krise verlassen; die Einwohnerzahl Griechenlands sank allein zwischen 2011 und 2018 um 355.000 Menschen. Seit 2010 ist infolge der immer neuen Austeritätsdiktate das Lohnniveau um rund 20 Prozent gefallen, während die Aufwendungen für den griechischen Sozialstaat um rund 70 Prozent zusammengestrichen wurden. Infolge der Wechselwirkung aus Sozialstaatsabbau und explodierender Arbeitslosigkeit haben sich Hunger und Unterernährung ausgebreitet.[8] Betroffen von Mangelernährung waren oftmals Kinder aus verarmten Gesellschaftsschichten: 2013 sahen sich rund zehn Prozent der Schüler in Griechenland mit "Nahrungsmittelunsicherheit" konfrontiert, sie mussten Mangelernährung oder Hunger verkraften.[9] Im Jahr 2015 galten rund 22 Prozent aller Griechen als extrem arm - sie waren nicht mehr in der Lage, ihre grundlegenden Bedürfnisse selbst zu befriedigen.

Bruch mit dem IWF

Das spektakuläre Scheitern der deutschen "Sparprogramme" in Griechenland kommt auch in der weiterhin sehr hohen Verschuldung des geschundenen Landes zum Ausdruck, die bei rund 180 Prozent des BIP liegt.[10] Dieser Schuldenberg soll durch einen extremen Haushaltsüberschuss abgetragen werden, der bis 2022 3,5 Prozent des BIP betragen soll, um anschließend bis 2060 bei durchschnittlich 2,2 Prozent des BIP zu liegen. Der extreme Schuldendienst, auf dem Berlin beharrte, hat letztlich zum Bruch zwischen der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geführt, der sich am dritten sogenannten Hilfspaket, das am 20. August ausläuft, nicht beteiligte.[11] Der Währungsfonds hatte einen Schuldenschnitt für Griechenland gefordert, um dessen Schuldenlast langfristig tragbar zu machen. Die hohen Verbindlichkeiten Athens, die aufgrund der langfristigen Rezession immer schwerer zu stemmen sind, seien "nicht tragfähig", warnte IWF-Chefin Christine Lagarde schon im Oktober 2016.[12] Berlin hingegen bestand auf einem kategorischen Verzicht auf jeglicher weiterer Schuldenerleichterung. Die Illusion, auf einen Schuldenschnitt verzichten zu können, sei eine der "größten politischen Lebenslügen des einstigen Finanzministers" Wolfgang Schäuble, kommentierten Medien Mitte Juni das Zerwürfnis zwischen Berlin und dem IWF.[13]

Verlorene Jahrzehnte

Ohnehin scheine die Krise in Griechenland allenfalls für Beobachter überwunden, die nicht in dem Land lebten, hieß es in US-Medienberichten zu den weiteren sozioökonomischen Aussichten des Mittelmeerstaates, der am 20. August aus dem Krisenprogramm der EU entlassen werden soll.[14] Griechenland bedrohe nicht mehr die Stabilität der globalen Ökonomie, doch seien seine Einwohner immer noch gefangen in dem "größten Kollaps, den ein reiches Land durchmachen musste". Sollten sich die Prognosen des IWF bewahrheiten, werde das Land nun noch "weitere zehn Jahre" brauchen, um konjunkturell auf das Niveau von 2007 zurückzukehren. Dieses "best case-Szenario" gehe von zwei verlorenen Dekaden, aus - solange in der Zwischenzeit keine Rezession auftrete. Die Menschen könnten "kein Licht am Ende des Tunnels" sehen, urteilen griechische Bürger mit Blick auf die weiterhin dramatische soziale Situation in dem Land, in dem Elendslöhne, Suppenküchen, Mangelernährung und Obdachlosigkeit zum Alltag geworden sind.


Anmerkungen:

[1] Potentiale der griechischen Privatwirtschaft liegen weiterhin brach. diw.de 18.07.2018.

[2] "Die griechische Wirtschaft ist auch heute noch zu kleinteilig aufgestellt": Interview mit Alexander S. Kritikos. diw.de 18.07.2018.

[3] DIW sieht nur mäßiges Wachstumspotenzial für Griechenland. wiwo.de 18.07.2018.

[4] Lucy Rodgers, Nassos Stylianou: How bad are things for the people of Greece? bbc.com 16.07.2015.

[5] Jeff Spross: The Greek crisis is dead. Long live the Greek crisis. theweek.com 25.06.2018.

[6] Adelina Marini: Greece Is Exiting the Bailout Programme but Not Quite. euinside.eu 19.07.2018.

[7] Gerd Höhler: Griechischer Braindrain - Ein Land blutet aus. handelsblatt.com 22.07.2018.

[8] Anemona Hartocollis: Greece Financial Crisis Hits Poorest and Hungriest the Hardest. nytimes.com 11.07.2018.

[9] Liz Alderman: More Children in Greece Are Going Hungry. nytimes.com 17.04.2013.

[10] Jeff Spross: The Greek crisis is dead. Long live the Greek crisis. theweek.com 25.06.2018.

[11] Hannes Vogel: Schäubles Griechenland-Lüge fliegt auf. n-tv.de 21.06.2018.

[12] Hannes Vogel: Athens Tag der Wahrheit rückt näher. n-tv.de 10.10.2016.

[13] Hannes Vogel: Schäubles Griechenland-Lüge fliegt auf. n-tv.de 21.06.2018.

[14] Matt O'Brien: Greece's economic crisis is over only if you don't live there. washingtonpost.com 26.04.2018.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2018

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