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GRIECHENLAND/018: Das Menschenrecht auf Nahrung (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 22. November 2018
german-foreign-policy.com

Das Menschenrecht auf Nahrung


ATHEN/BERLIN - Die Staaten der EU haben in Griechenland mit der Durchsetzung drakonischer Austeritätsmaßnahmen seit 2010 das Menschenrecht auf Nahrung der griechischen Bevölkerung schwer verletzt. Das belegt eine aktuelle Untersuchung, die drei Nicht-Regierungsorganisationen in dieser Woche vorgelegt haben. Demnach hat etwa die Zahl der griechischen Haushalte mit Kindern, die nicht ausreichend proteinhaltige Nahrungsmittel kaufen können, in den Jahren der von Berlin und der EU oktroyierten Austeritätsmaßnahmen dramatisch zugenommen. Kinder litten zeitweise massiv Hunger, bis Schulspeisungen Abhilfe schufen. Die Verantwortung liegt laut der Studie nicht nur bei Athen, sondern auch bei der EU, deren Diktate unter anderem gegen den UN-Sozialpakt verstießen. Dieser verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, darunter die Bundesrepublik, das Menschenrecht auf "ausreichende Ernährung" zu wahren. Nicht nur in Griechenland, auch in anderen EU-Staaten wird das Recht auf Nahrung grob missachtet - insbesondere in den Ländern der südlichen und südöstlichen Peripherie.

UN-Konventionen

Das Recht auf Nahrung (Right to food) ist als unveräußerliches Menschenrecht in verschiedenen internationalen Konventionen fest verankert. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurde, fordert in Artikel 25: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung". Als zentrale völkerrechtliche Grundlage für das Recht auf Nahrung gilt allerdings der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ("UN-Sozialpakt"), der am 16. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. In der Bundesrepublik Deutschland ist er seit dem 3. Januar 1976 in Kraft. Artikel 11 des Abkommens schreibt vor: "Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung". Zudem verpflichten sie sich "in Anerkennung des grundlegenden Rechts eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein", zur Durchführung der "erforderlichen Maßnahmen", um die Nahrungsmittelversorgung zu garantieren.

Armut und Hunger

In Griechenland ist das Recht auf Nahrung durch die drakonischen Austeritätsmaßnahmen, die die EU insbesondere auf deutschen Druck oktroyiert hat, empfindlich verletzt worden. Dies belegt eine aktuelle Untersuchung, die die drei Nicht-Regierungsorganisationen Transnational Institute (TNI), FIAN International und Agroecopolis diese Woche vorgelegt haben.[1] Demnach schrumpfte der Betrag, den die griechischen Haushalte für Nahrungsmittel ausgeben konnten, wegen der stark sinkenden Einkommen deutlich, während gleichzeitig - etwa aufgrund der erzwungenen Anhebung der Mehrwertsteuer - die Lebensmittelpreise stiegen. Infolgedessen verdoppelte sich die Zahl der Haushalte, die sich nicht jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder einem vegetarischen Nährwertäquivalent leisten konnten - dies definiert einen allgemein anerkannten Standard einer angemessenen Ernährung -, von etwa 7 Prozent im Jahr 2008 auf gut 14 Prozent im Jahr 2016. Die Zahl der Haushalte mit Kindern, die sich nicht genug proteinhaltige Nahrung leisten konnten, stieg von 4,7 Prozent im Jahr 2009 auf 8,9 Prozent im Jahr 2014, wobei der Prozentsatz bei Haushalten von Alleinerziehenden von 13,4 Prozent im Jahr 2008 auf 46,9 Prozent 2012 zunahm. Eine Zeitlang litten zahlreiche Kinder Hunger, bis Schulspeisungen ein wenig Abhilfe schufen. Die unzureichende Nahrungsversorgung ist Teil eines umfassenden Verarmungsprozesses, der unter anderem dazu geführt hat, dass die Zahl der Haushalte, die nicht angemessen heizen können, von 15,4 Prozent im Jahr 2010 auf 32,9 Prozent im Jahr 2014 in die Höhe schnellte. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung (34,8 Prozent) ist derzeit von Armut oder von sozialer Ausgrenzung bedroht, obwohl die Berechnungsschwelle dafür massiv sank - von einem Jahreseinkommen von 13.608 Euro im Jahr 2008 auf ein Jahreseinkommen von 9.576 Euro im Jahr 2017.[2]

Deutschlands Verantwortung

Laut den drei Nicht-Regierungsorganisationen, die die Studie erstellt haben, trägt nicht nur der griechische Staat, sondern auch die EU Verantwortung dafür, dass das Menschenrecht auf Nahrung in Griechenland zur Zeit im großen Stil verletzt wird. Demnach haben Staaten unter bestimmten Umständen die völkerrechtliche Pflicht, Menschenrechte auch im Ausland zu berücksichtigen. Das treffe sicherlich auf die Austeritätsmaßnahmen zu, zu deren Durchführung die EU Griechenland veranlasst habe, heißt es in der Untersuchung: Schließlich habe Brüssel behauptet, Athen zu "helfen", und damit eine Verantwortung für die angeblichen Hilfsprogramme übernommen. Zudem müsse in Rechnung gestellt werden, dass die EU-Troika die Umsetzung der Maßnahmen nicht nur kontrolliert, sondern auch teilweise direkt gesteuert habe.[3] Der Vorwurf trifft in besonderem Maß die Bundesrepublik, die stets die treibende Kraft hinter den Austeritätsmaßnahmen war und sie gegen teilweise massive Widerstände durchgesetzt hat.[4]

Die Profiteure der EU

Das Transnational Institute (TNI), FIAN International und Agroecopolis weisen darüber hinaus darauf hin, dass Griechenland mit dem Beitritt zur EU und zur Eurozone in eklatante Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten geraten ist, die seine Nahrungssouveränität ernstlich gefährdet und in Krisenzeiten eine ausreichende Verfügung über Lebensmittel zusätzlich bedroht. Demnach führte die Abschaffung von Zöllen bei gleichzeitiger ökonomischer Überlegenheit der EG-Agrarindustrie über die stark kleinbäuerlich strukturierte griechische Landwirtschaft unmittelbar mit dem EG-Beitritt Griechenlands am 1. Januar 1981 dazu, dass das Land vom Agrarexporteur zum -importeur wurde und es bis heute geblieben ist. Nach einem neuen Schub durch den Beitritt zur Eurozone verstärkte sich die Importabhängigkeit; in den Jahren von 2005 bis 2011 musste das Land beinahe 40 Prozent seines Nahrungsmittelbedarfs aus dem Ausland einführen. Während die griechische Landwirtschaft darunter massiv gelitten hat, profitieren bis heute vor allem westeuropäische Agrarkonzerne. So wurde die Bundesrepublik, "zuvor bei Nahrungsmitteln ein Nettoimporteur aus Griechenland", in den 1980er und dann wieder in den 2000er Jahren zum Nahrungsnettoexporteur.[5] Noch heute bilden Nahrungsmittel den zweitgrößten Posten unter den deutschen Exporten nach Griechenland - nach Arzneimitteln sowie vor Maschinen und Autos; mit einem Volumen von rund 715 Millionen Euro machten sie im vergangenen Jahr 13,8 Prozent der deutschen Ausfuhr nach Griechenland aus.[6]

Europas Peripherie

Nicht nur in Griechenland, auch in anderen Ländern der EU wird das Menschenrecht auf Nahrung teilweise grob missachtet. So konnten sich im Jahr 2016 insgesamt 8,3 Prozent der Bevölkerung in der EU nicht jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder einem vegetarischen Nährwertäquivalent leisten. Lag der Prozentsatz beispielsweise in den Ländern Skandinaviens, in Luxemburg und in den Niederlanden weitaus niedriger, so erreichte er in Italien und in Kroatien Werte von deutlich mehr als zehn Prozent, in Ungarn, der Slowakei, in Lettland und Litauen Werte zwischen 15 und 20 Prozent, in Rumänien von über 20 Prozent sowie in Bulgarien Werte von 34,6 Prozent.[7] Besonders stark betroffen ist die Minderheit der Roma. Eine Untersuchung belegt, dass 27 Prozent aller Roma und ein Drittel aller Roma-Kinder in der EU, die sich als Vorkämpferin für die Menschenrechte in aller Welt geriert, in Haushalten leben, in denen mindestens eine Person ein oder mehrere Male im Monat hungrig zu Bett gehen musste. In Griechenland, das unter den Roma die höchste Erwerbsquote in Europa hat, traf dies sogar auf 48 Prozent der Roma zu. Ihre Zahl ist aufgrund der deutsch-europäischen Austeritätsdiktate in den vergangenen Jahren gestiegen.[8]


Anmerkungen:

[1] Transnational Institute, FIAN International, Agroecopolis: Democracy Not For Sale. The Struggle for Food Sovereignty in the Age of Austerity in Greece. Amsterdam/Heidelberg/Athens/Thessaloniki, November 2018.

[2] Downward trend in the share of persons at risk of poverty or social exclusion in the EU. eurostat newsrelease 159/2018. 16 October 2018.

[3] Transnational Institute, FIAN International, Agroecopolis: Democracy Not For Sale. The Struggle for Food Sovereignty in the Age of Austerity in Greece. Amsterdam/Heidelberg/Athens/Thessaloniki, November 2018.

[4] S. dazu "Gut für Europa"
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7467/
und Kein Licht am Ende des Tunnels
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7679/

[5] Transnational Institute, FIAN International, Agroecopolis: Democracy Not For Sale. The Struggle for Food Sovereignty in the Age of Austerity in Greece. Amsterdam/Heidelberg/Athens/Thessaloniki, November 2018.

[6] Germany Trade & Invest: Griechenland: Wirtschaftsdaten kompakt. Mai 2018.

[7] European Union Agency for Fundamental Rights: Combating child poverty: an issue of fundamental rights. Luxembourg 2018.

[8] European Union Agency for Fundamental Rights: Second European Union Minorities and Discrimination Survey. Roma - Selected findings. Luxembourg 2016.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2018

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