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ITALIEN/178: Schule und das Push and Pull (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 155/März 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Schule und das Push'n Pull

Vorzeitiger Schulabgang unter Mädchen und Jungen in Italien

von Camilla Borgna und Emanuela Struffolino


Kurz gefasst: Jungen beenden die Schule häufiger als Mädchen ohne Abschluss. Spielen dabei "Push"- oder "Pull"-Faktoren die Hauptrolle? Unsere Untersuchung der Situation in Italien zeigt, dass unter Schülern mit schlechteren Leistungen und schwächerem sozialen Hintergrund die Geschlechterunterschiede größer sind. Sie sind auch größer in Kontexten, die Jungen bessere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten als Mädchen. Die stärkere Bindung von Mädchen an die Schule könnte also verdecken, dass sie im weiteren Lebensverlauf eher benachteiligt sind.

Angesichts steigender Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt stellen junge Menschen, die Schule oder Ausbildung vorzeitig beenden, heute eine verwundbare Gruppe dar: Junge Menschen ohne einen Abschluss der Sekundarstufe II oder eine abgeschlossene Berufsausbildung haben häufig Schwierigkeiten beim Übergang von der Ausbildung ins Erwerbsleben und bei der späteren Integration in den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus ist vorzeitiger Schulabgang mit weiteren negativen Folgen wie Gesundheitsproblemen und einem Mangel an gesellschaftlicher und politischer Teilhabe verknüpft. Aus politischer Sicht kann vorzeitiger Schulabgang daher als "neues soziales Risiko" verstanden werden. So sieht es auch die EU-Wachstumsstrategie, in der die Senkung des Anteils vorzeitiger Schulabgänger auf unter 10 Prozent eines der fünf Hauptziele ist, die bis zum Jahr 2020 erreicht werden sollen.

Vorzeitiger Schulabgang ist nicht nur mit negativen Folgen für den Arbeitsmarkt verknüpft, sondern betrifft überdies oft die gesellschaftlichen Gruppen, die bei der Arbeitsmarktintegration ohnehin am stärksten verwundbar sind: Kinder mit Lernschwierigkeiten, die aus sozioökomisch benachteiligten Familien stammen oder nur begrenzt Zugang zu Bildungsressourcen haben. Somit verschärft vorzeitiger Schulabgang die sozialen Ungleichheiten.

Geht es um das Geschlecht, kann man nicht unbedingt von einer verwundbaren Gruppe sprechen. Denn während Frauen in den meisten Industrieländern noch immer auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden, haben sie hinsichtlich ihres Bildungsniveaus längst zu den Männern aufgeschlossen und diese in vielen Ländern sogar überholt.

Gemeinsam mit Portugal und Spanien gehört Italien zu den EU-Ländern mit dem höchsten Anteil vorzeitiger Schulabgänger. Zwar hat sich dieser Anteil seit den 1990er Jahren, als in Italien teilweise mehr als 30 Prozent die Schule vorzeitig beendeten, kontinuierlich verringert. Doch auch heute beenden noch immer 15 Prozent der jungen Italiener die Schule oder die Ausbildung, ohne einen Abschluss der Sekundarstufe II zu erlangen. Dieses Phänomen ist höchst besorgniserregend, besonders angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, mit denen sich Italiens Jugend auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert sieht: Es soll hier der Hinweis genügen, dass die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen 40 Prozent erreicht hat (Stand: Dezember 2016).

Außerdem sind in Italien die Geschlechterungleichheiten besonders stark ausgeprägt: Zum einen ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen sehr niedrig, selbst unter den jüngeren Jahrgängen. Und die Frauen, die tatsächlich berufstätig sind, gehen häufiger als Männer einer atypischen und schlecht bezahlten Beschäftigung nach. Zum anderen ist die Geschlechterdifferenz im Hinblick auf den Bildungsgrad inzwischen umgekehrt: Unter den Hochschulabsolventen beträgt das Verhältnis zwischen Frauen und Männern heute 3:2. Gleichzeitig sind Jungen unter den Schülern, die in den Kernfächern nicht einmal ein Grundniveau an fachlichen Kompetenzen erreichen, massiv überrepräsentiert.

Frühere empirische Studien aus dem amerikanischen Kontext zeigen, dass Jungen einem höheren Risiko des vorzeitigen Schulabgangs ausgesetzt sind als Mädchen. Aus theoretischer Sicht ist der Zusammenhang zwischen Geschlecht und vorzeitigem Schulabgang jedoch komplex. Vorzeitige Schulabgänge werden in der Regel als Ergebnis eines stufenweisen Rückzugsprozesses betrachtet. Bei den entscheidenden Gründen für diese Abwendung unterscheidet die Forschung zwischen "Push-Faktoren", die Schüler vom Schulsystem entfremden, und "Pull-Faktoren", die sie aus dem System hinauslocken. Da Mädchen in der Schule oft bessere Ergebnisse erzielen als Jungen, auf dem Arbeitsmarkt aber schlechter abschneiden, könnten sowohl Push- als auch Pull-Faktoren die höhere Tendenz von Jungen zum vorzeitigen Schulabgang verursachen.

Die Daten, die unserer Analyse der Geschlechterdifferenzen beim vorzeitigen Schulabgang in Italien zugrunde liegen, stammen aus dem 2010-2011 vom Nationalen Forschungsinstitut für Berufsbildung (ISFOL) durchgeführten, national repräsentativen Participation, Labour, Unemployment Survey (PLUS) sowie aus dem Early School Leaving Dynamics Survey (ESLD), einer Ad-hoc-Erhebung von ISFOL im Jahr 2011, die eine national repräsentative Stichprobe von Jugendlichen mit einer schlechten schulischen Leistungsbilanz bietet. Daraus wurde eine Teilstichprobe von 18- bis 20-jährigen, in den frühen 1990er Jahren geborenen Personen gezogen. Daraus ergeben sich Stichprobengrößen von 5.233 (PLUS) und 1.508 (ESLD).

Unsere Ergebnisse zeigen, dass Mädchen auch im italienischen Kontext weniger häufig vorzeitig die Schule beenden als Jungen. Dieser Geschlechterunterschied ist recht groß (fast 10 Prozentpunkte) und nur teilweise durch die besseren schulischen Leistungen der Mädchen erklärbar. Zwar erweisen sich Indikatoren für schulischen Misserfolg wie schlechte Noten und Klassenwiederholungen bei der Vorhersage von vorzeitigen Schulabgängen tatsächlich als starke "Push-Faktoren", aber die Geschlechterdifferenz verringert sich nur geringfügig, wenn die Unterschiede bei den schulischen Leistungen berücksichtigt werden.

Darüber hinaus ist die Geschlechterdifferenz bei den akademisch schwächeren Schülern besonders stark ausgeprägt. Das lässt vermuten, dass Mädchen sich durch schulische Misserfolge weniger leicht entmutigen lassen. Ausgehend von neueren psychologischen Studien vertreten wir die Auffassung, dass die größere Bindung der Mädchen an die Schule, insbesondere im Fall schlechter Noten, auf Verhaltenskompetenzen wie Selbstregulation und Fleiß zurückzuführen ist, möglicherweise verstärkt durch geschlechterspezifische Sozialisationsprozesse in der Familie und in der Schule.

Wenn es darum geht, einer Abwendung von der Schule entgegenzuwirken, sind familiäre Ressourcen von zentraler Bedeutung. Daher haben wir zusätzlich die Rolle des sozialen Hintergrunds für das Schulabgangsverhalten von Jungen und Mädchen untersucht. In Übereinstimmung mit einigen Befunden früherer Studien zeigen wir: Das Risiko eines vorzeitigen Schulabgangs nimmt mit zunehmendem Bildungsniveau der Eltern stark ab, selbst bei Bereinigung der Ergebnisse um vorherige schulische Leistungen und andere mögliche Störfaktoren. Interessanterweise ist die Geschlechterdifferenz bei Kindern von Eltern mit geringer Bildung besonders stark ausgeprägt, während sie bei Kindern von Eltern mit mittlerer Bildung moderat und bei Kindern von Eltern mit hoher Bildung nahe null ist. Mit anderen Worten: Familiäre Ressourcen haben eine hohe Schutzfunktion, insbesondere für Jungen.

Dieser Befund ist relevant für die aktuellen politischen Debatten, besonders in Großbritannien und den USA, um die Jungen als Bildungsverlierer ("the trouble with boys"). Oft wird argumentiert, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Schulleistungen auf ein Bildungssystem zurückzuführen seien, das Jungen benachteiligt, und es wird vor einer übertriebenen "Feminisierung" des Lernens gewarnt. Unsere Ergebnisse hingegen deuten darauf hin, dass Maßnahmen zur Verbesserung der schulischen Leistungen von Jungen sich weniger auf das Geschlecht selbst konzentrieren sollten, sondern vielmehr auf den Mangel an ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen, mit dem manche Schüler konfrontiert sind.

Die verbleibenden Geschlechterunterschiede (also jene, die nicht vorherigen Leistungen und familiären Ressourcen zuzuordnen sind) haben wir mit Blick auf die Erwerbsmöglichkeiten untersucht - den vielleicht wichtigsten "Pull-Faktor". Hierzu haben wir uns die territoriale Fragmentierung des italienischen Arbeitsmarkts zunutze gemacht und Individualdaten mit regionalen Statistiken zur männlichen und weiblichen Erwerbstätigkeit im formalen und informellen Sektor verknüpft. Unsere Befunde zeigen, dass das höhere relative Risiko eines vorzeitigen Schulabgangs bei Jungen tatsächlich dort stärker ausgeprägt ist, wo junge Männer bessere Erwerbsmöglichkeiten vorfinden.

Der Vorteil der Frauen im Bildungsbereich könnte sich daher zum Teil als Illusion erweisen und eine höhere Verwundbarkeit im Lebensverlauf überdecken: Einerseits neigen Mädchen eventuell weniger dazu, das Schulsystem vorzeitig zu verlassen, weil sich ihnen weniger unmittelbare Anreize für einen Schulabgang bieten. Andererseits stellt ihre Entscheidung für einen Verbleib in der Schule eventuell eine langfristige Strategie zur Kompensation der Benachteiligung dar, die sie auf dem Arbeitsmarkt erwarten. Zur weiteren Untersuchung dieser Hypothese sollten sich zukünftige Studien direkt mit der Frage befassen, ob sich die mit dem vorzeitigen Schulabgang verbundenen Nachteile im Hinblick auf den Arbeitsmarkteintritt und das berufliche Fortkommen für Frauen und Männer unterscheiden.


Camilla Borgna ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Die promovierte Politikwissenschaftlerin forscht zu sozialer Ungleichheit und Bildung.
camilla.borgna@wzb.eu

Emanuela Struffolino ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Demografie und Ungleichheit. Sie forscht über den Zusammenhang zwischen Familie und Erwerbstätigkeit aus der Perspektive der Lebensverlaufsforschung und Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt.
emanuela.struffolino@wzb.eu


Literatur

Borgna, Camilla / Struffolino, Emanuela: "Pushed or Pulled? Girls and Boys Facing Early School Leaving Risk in Italy". In: Social Science Research, 2017, Vol. 61, pp. 298-313.

Borgna, Camilla / Struffolino, Emanuela: Early School Leaving Dynamics in Italy. The Heterogeneity of Gender Effects. ISFOL Research Paper 20. Roma: Istituto per lo Sviluppo della Formazione Professionale dei Lavoratori (ISFOL) 2014.

European Commission / EACEA / Eurydice / Cedefop: Tackling Early Leaving from Education and Training in Europe: Strategies, Policies and Measures. Luxembourg: Publications Office of the European Union 2014.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 155, März 2017, Seite 41-44
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2017

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