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INNEN/421: Änderungsvorschläge der EU-Kommission zum Dublin-Verfahren (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 46 - Winter 2008/2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Änderungsvorschläge der EU-Kommission zum Dublin-Verfahren

Von Klaudia Dolk [1]


Für Flüchtlinge gilt in der Europäischen Union (EU), in Norwegen und Island [2] die Dublin II Verordnung [3], in welcher geregelt wird, welches Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist.

Die EU-Kommission hatte dem Europäischen Parlament und dem Rat drei Jahre nach Inkrafttreten der Dublin II-VO über deren Anwendung Bericht zu erstatten und gegebenenfalls erforderliche Änderungsvorschläge zu machen. Hierfür legte sie den Evaluierungsbericht vom 6.6.2007 vor [4].

Aufgrund der Dublin II-VO werden Flüchtlinge aus Deutschland in andere EU-Staaten abgeschoben und aus anderen EU-Staaten nach Deutschland überstellt [5].

Angesichts der Überstellungs-Statistik [6] stellt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck der "Verschickung" von Flüchtlingen innerhalb der EU. Insbesondere zeigt sich für Deutschland eine "negative Bilanz" dahingehend, dass auf Grund der Dublin II-VO [7] mit Ausnahme des Jahres 2000 - seit 1997 mehr Flüchtlinge von Deutschland aufzunehmen waren als überstellt werden konnten.

Die EU-Kommission führt in ihrem Evaluierungsbericht aus, den statistischen Angaben aus der EU sei zu entnehmen, dass einige Mitgliedstaaten untereinander ähnlich viele Asylsuchende überstellen, weshalb zur Begrenzung des Arbeitsanfalls und der Betriebskosten und zur Vermeidung weiterer Sekundärbewegungen geprüft werde, ob die Möglichkeit bilateraler Vereinbarungen zur "Annulierung" des Austauschs einer gleichen Zahl von Asylsuchenden gewährt werden könne. Gegen diesen Vorschlag der EU-Kommission gibt es jedoch großen Widerstand (auch von Deutschland).

Ziele der Dublin II-VO sind die Gewährung des Rechts auf die inhaltliche und umfassende Prüfung eines Asylantrags jedes Flüchtlings in einem EU-Staat (Verhinderung sog. Refugees in orbit) und die Vermeidung einer Weiterwanderung mit evtl. erneuter Asylantragstellung von Flüchtlingen innerhalb Europas (sog. Asylshopping).

Flüchtlinge wählen in der Regel jedoch nicht ohne Grund ein bestimmtes europäisches Land als Ziel für ihre Flucht aus. Sie flüchten zu Verwandten und Bekannten oder sprechen evtl. die Sprache des Fluchtlandes; hierdurch wird ihnen eine erste Orientierung in den oft fremden Verhältnissen erleichtert. Flüchtlinge richten sich auch nach den Erfolgsaussichten für eine Flüchtlingsanerkennung und den Aufnahmebedingungen bei ihrer Entscheidung, in welchem europäischen Land sie einen Asylantrag stellen möchten.

Die Dublin II-VO beruht auf der Annahme, dass ein Flüchtling in allen Mitgliedstaaten vergleichbare (Mindest-)Aufnahmebedingungen vorfindet und dass über seinen Asylantrag unter vergleichbaren (Mindest-)Verfahrensgrundsätzen mit vergleichbaren Chancen entschieden wird. Dies ist jedoch (noch) nicht der Fall. Solange die begonnene Harmonisierung des europäischen Asylsystems insoweit nicht abgeschlossen ist, wird eine Sekundärwanderung von Flüchtlingen innerhalb Europas weiterhin stattfinden.

Griechenland ist z. B. für eine unverhältnismäßig große Anzahl von Flüchtlingen nach den Kriterien der Dublin II-VO zuständig und mit dieser Situation seit Jahren überfordert. Dies hat zur Folge, dass Flüchtlingen in Griechenland unter Verstoß gegen EU-Recht und Völkerrecht keine den Mindestanforderungen genügenden Aufnahme- und Verfahrensbedingungen nach Asylantragstellung gewährt werden. Pro Asyl berichtet auch von schweren Misshandlungen von Flüchtlingen durch die griechische Küstenwache und von Regelinhaftierungen - auch Minderjähriger [8]. Der Europäische Gerichtshof hat bereits am 19. April 2007 Griechenland verurteilt, weil es entsprechendes EU-Recht in diesem Bereich nicht umgesetzt hat. UNHCR hat die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, Überstellungen nach Griechenland bis auf weiteres auszusetzen [9]. Deutsche Verwaltungsgerichte setzen zunehmend in Eilverfahren Abschiebungen nach Griechenland aufgrund dieser Berichte aus. Aus anderen EU-Staaten sind entsprechende Aussetzungen von Überstellungen nach Griechenland bekannt.

Auch die Chancen für eine Flüchtlingsanerkennung sind in den EU-Staaten sehr unterschiedlich, da die inhaltliche Prüfung eines Asylantrags sich nach den uneinheitlichen nationalen Regelungen der einzelnen EU-Länder richtet. UNHCR hat im November 2007 eine Studie über die Qualifikationsrichtlinie veröffentlicht, aus welcher sich z. B. ergibt, dass im ersten Quartal 2007 in Deutschland 16,3 % der irakischen Asylantragsteller anerkannt wurden, in Schweden 73,2 % und in Griechenland und der Slowakei 0 %.

Nach UNHCR-Angaben wurden im Jahre 2006 ca. 50 % aller Asylanträge von Irakern in der EU in Schweden gestellt. Im April 2007 bat Schweden angesichts der hohen Zahl irakischer Flüchtlinge erfolglos um Beistand der EU. Im Februar 2008 hat Schweden ein bilaterales Rückübernahmeabkommen mit dem Irak abgeschlossen und mit zunehmenden Abschiebungen nach Bagdad begonnen [10]. In der Konsequenz hat das VG Münster am 23.7.08 die Überstellung eines Yeziden aus dem Irak nach Schweden ausgesetzt (dessen Asylantrag in Schweden abgelehnt wurde), da die Gefahr einer drohenden Kettenabschiebung (Art. 33 Abs. 1 GK) in den Irak nicht auszuschließen war.

Die EU-Kommission kündigte angesichts der unterschiedlichen Anerkennungspraxis Vorschläge an, um gemeinsame Standards für die Anerkennung von Asylsuchenden in der EU verbindlich zu machen. Es ist zu erwarten, dass die EU-Kommission diese Vorschläge in den anstehenden Bericht zur Evaluierung der Qualifikationsrichtlinie [11] integriert.

Überstellungen in Dublin-Verfahren erfolgen regelmäßig zwangsweise, d. h. die Flüchtlinge dürfen nicht freiwillig in den zuständigen Mitgliedstaat reisen. Zu beobachten ist eine zunehmende Praxis von Abschiebungshaft im Rahmen von Überstellungen in Dublin-Verfahren. Die EU-Kommission erinnert daran, dass freiheitsentziehende Maßnahmen nur als letztes Mittel angewandt werden sollten. In jedem Fall sollte der Situation von Frauen und unbegleiteten Minderjährigen stets angemessen Rechnung getragen werden.

Die EU-Kommission kündigt ferner einen Vorschlag zur Ausweitung des Geltungsbereichs der Dublin II-VO auf den subsidiären Schutz an, welcher von der Dublin II-VO derzeit nicht umfasst wird - mit der negativen Folge, dass z. B. eine Familienzusammenführung nicht möglich ist.

Die EU-Kommission stellt insbesondere auch eine uneinheitliche Anwendung der Souveränitätsklausel (sog. Selbsteintritt) und der humanitären Klausel in den Mitgliedstaaten fest. Die Kommission ermutigt die Mitgliedstaaten, aus humanitären Gründen die Souveränitätsklausel anzuwenden. Die EU-Kommission beabsichtigt die Bedingungen und Verfahren für die Anwendung der Souveränitätsklausel und der humanitären Klausel zu präzisieren.

Die EU-Kommission wird auch weiter präzisieren, dass bei Wiederaufnahmegesuchen für unbegleitete Minderjährige stets das Wohl des Kindes Vorrang haben sollte.

Fazit: Die Anwendung der Dublin II-VO sollte bis zu einer tatsächlichen Harmonisierung des Asylrechts in der EU ausgesetzt werden, da ihre Ziele derzeit nicht erreicht werden können. Jedenfalls sind die dargelegten Änderungsvorschläge der EU-Kommission zu unterstützen.


Anmerkungen:

[1] Klaudia Dolk ist Rechtsanwältin in Oberhausen

[2] Die Schweiz wird zum 01.11.2008 die Dublin II-VO ebenfalls anwenden.

[3] Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003.

[4] Bericht der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems, KOM(2007), 299 endgültig v. 6.6.07.

[5] Begrifflich wird im Rahmen von Dublin-Verfahren von "Überstellungen" gesprochen, es handelt sich hierbei rechtlich jedoch um "normale" Abschiebungen.

[6] Die Statistik beruht auf veröffentlichten Zahlten des BAMF

[7] und der zuvor geltenden Regelungen im SDÜ und DÜ

[8] Bericht vom Oktober 2007 "The truth may be bitter, but it must be told"

[9] UNHCR-Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin-II-Verordnung, vom 15.04.08

[10] Siehe Stellungnahme von UNHCR Berlin vom 4.8.08, veröffentlicht unter www.fluechtlingsrat-nrw.de

[11] Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 46 - Winter 2008/2009, Seite 37-38
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2009