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INNEN/425: Fünf Jahre Osterweiterung - Unbehagen in Europa (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2009

Fünf Jahre Osterweiterung - Unbehagen in Europa

Von György G. Márkus


"Statt nach der nötigen Einigkeit zu streben, entfernen sich die alten und die neuen, osteuropäischen, EU-Länder nun ständig weiter voneinander, während sich die Krise verstärkt. Dass dies in einer Konfrontation münden kann, unterstreicht das Treffen der neun ex-kommunistischen Länder, das der polnische Premier [Donald Tusk] am 1. März vor dem wirtschaftlichen Krisengipfel der 27 Staats- und Regierungschefs einberufen hatte. Osteuropa braucht von der EU Unterstützung und die Solidarität, auf die sich die Gemeinschaft gründet. Wenn Europas führende Politiker nicht rasch und effektiv nach Möglichkeiten suchen, die Krisenlawine in Osteuropa zu stoppen, ist das Risiko groß, dass über Jahrzehnte errungene Fortschritte verloren gehen." (Jyllands-Posten 2.3.2009)

Ein Datum im "großen" Jubiläumsjahr: Vor fünf Jahren ist das Wirklichkeit geworden, was eigentlich alle in Ostmitteleuropa nicht als Beitritt, sondern als die schwer verdiente und verzögerte Rückkehr verstanden haben. (In einer zur Historisierung neigenden Region, die, trotz der Überbetonung ihrer heroischen Rolle als Bollwerk gegen die Barbaren, von einer Bereitschaft zur Vergangenheitsbewältigung noch weit entfernt ist.) Hinter diesem breiten Konsens versteckten sich aber unterschiedliche Deutungen Europas, die damals zumeist nicht klar erkennbar waren, weil scheinbar weder theoretisch noch praktisch zu trennen. In den Dissidentenbewegungen gab es zwei kulturelle Elitegruppen die eine Führungsrolle beanspruchten: Die Volks-Nationalen, die vor allem die Befreiung von einer fremden Macht und ihrer Statthalter begrüßten, und die Menschenrechts-Liberalen, die für die Übernahme des westlichen Gesellschaftsmodells mit seinen Freiheiten plädierten. Und neben bzw. hinter ihnen standen die großen Massen, für die das wichtigste das Erlangen des westlichen Massenkonsums war.


Zwischen Akzeptanz und Euro-Skepsis

Die erhobenen Daten zur Europa-Akzeptanz der Bevölkerung weisen darauf hin, dass die neuen Mitglieder in der Mehrheit nicht sehr zufrieden mit dem Erreichten sind. Ein bitterer Beigeschmack ist darauf zurückzuführen, dass der Beitritt - anderthalb Jahrzehnte nach der Wende - zu spät und nicht als feierlich-symbolischer Akt kam, sondern das Ergebnis von sich hinziehenden, unübersichtlichen, kleinlichen, harten wirtschaftlichen Verhandlungen war. (Der Beitritt zur NATO kam früher, die Verhandlungen waren aber ebenso kleinlich.)

Für die meisten Länder - so auch für Ungarn - war und ist ein widersprüchlicher Wandel in der Zustimmung zu beobachten. Am Anfang war eine konsensuelle Begeisterung zu beobachten, bei etwa drei Viertel der Bevölkerung. Als dann der einst heiß ersehnte Zeitpunkt näher rückte, wich die Begeisterung. 84 % ungarischer Ja-Stimmen beim Referendum von 2003 erscheinen imposant, berücksichtigt man aber die Wahlbeteiligung von 45 % - die niedrigste in der damaligen Länderrunde -, dann erscheint das Bild weniger rosig. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Akzeptanz und Euro-Skepsis war eine Folge der tiefen Spaltung der Politik und der Gesellschaft in radikale Verwestlicher auf der Linken und identitätszentrierte, nationale Traditionalisten - mit dem Slogan "Europa der Nationen" - auf der rechten Seite. Auch in anderen Ländern der Region war und ist mit einer gewissen Zeitverzögerung ein Prozess der Ernüchterung festzustellen.

Das Beitrittsreferendum und der Beitritt selbst haben sich zwar positiv ausgewirkt, 2006 trat dann jedoch allgemein eine langfristig wirksame negative Trendwende ein. Nach jüngsten Daten des Eurobarometers (Herbst 2008) für die EU-27, zu einem Zeitpunkt als die Rezession noch deutlich weniger spürbar war, sind drei osteuropäische Staaten ausgesprochen euroskeptisch: Lettland, Ungarn und Bulgarien. In Ungarn ist die Enttäuschung am stärksten: Der Anteil der Befürworter ("eine gute Sache") beträgt lediglich 27 %.

Die Medaille hat freilich auch eine andere Seite. Aufgrund beispielsweise der europäischen Arbeitnehmermobilität fühlen 73 % der Polen die Vorteile der Integration und für 65 % ist sie eine gute Sache. In Estland ist die positive Beurteilung der Mitgliedschaft von 33 % im Jahr 2001 auf mittlerweile 61 % gestiegen. Es ist allerdings zu hinterfragen, wie lange der Optimismus von 2008 in den von der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffenen bzw. gefährdeten Ländern Rumänien, Litauen und evtl. der Slowakei anhält.

Wenn man die Länder mit geringerer Zufriedenheitsrate betrachtet, dann muss man zunächst darauf hinweisen, dass die Ungarn unter den Bedingungen eines Zusammenspiels von aufeinander prallenden Krisen leben:

Erstens: Die Kontinuität der sozial-ökonomischen Transformationskrise, die von einem seit 2002 andauernden und die Lösungsfähigkeit des Politischen blockierenden Kulturkampf begleitet wird; eine dualistische Struktur der Wirtschaft und der Gesellschaft als Folge der Rolle des starken multinationalen Kapitals und der Schwäche autochthoner Segmente (tiefe Armut, Ungleichheiten) sowie eine politisch motivierte Spaltung der Bevölkerung in Subkulturen von Christnationalen(-Völkischen) und von pro-westlichen "Sozial"-liberalen. Eine pro-westliche pro-europäische "Linke", die vermarktet und dereguliert, eine nationalchristliche Rechte, die mit antikapitalistischem Populismus agiert. Die Verbreitung einer rechtsradikalen politischen Kultur, die mit Ausschreitungen, Turbulenzen und Gewalttaten (besonders gegen Sinti und Roma) in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Und all das in einem Kontext allgemeiner Anomie in der Gesellschaft.

Zweitens: Die Beitrittskrise, die mit der Disziplinierung des verschuldeten Landes im Sinne der Maastricht-Kriterien und des Washingtoner Konsenses zu den unbewältigten sozial-ökonomischen Problemen hinzukommt. Dies verschärfte die bereits vorhandenen inneren sozialen Spannungen und Desintegrationsprobleme. Hier sieht man die Diskrepanz zwischen der Schwäche der Institutionen und den Erfordernissen der Mitgliedschaft manifestiert.

Drittens: Als Mitglied der EU wird Ungarn noch enger in die Krise Europas eingebunden, wobei ohne sozio-ökonomische Annäherung eine Konvergenz Ost-West in der Sphäre der Transformation des Politischen stattfindet, die noch beschrieben wird.

Als typische Semiperipherie (Randeuropa gegen Kerneuropa) werden die neuen Mitglieder, welche die Hürde der Euro-Zone noch nicht geschafft haben, der globalen Krise besonders stark ausgeliefert. Ihre Aussichten werden noch trüber. Zum einen dadurch, dass nationale (und kollektive) Egoismen in der alten EU sich allgemein durchsetzen. Besonders aber dadurch, dass es politische Kräfte, einerseits in den führenden EU-Staaten, anderseits in den europäischen Institutionen, gibt, die nicht nur einfach protektionistisch gegenüber den östlichen Ländern auftreten, sondern letzten Endes darauf aus sind, sich durch ein erneutes Ziehen einer Ostgrenze - eines neuen "Eisernen Vorhangs" an der Grenze der Euro-Zone - von einem Teil der eigenen Lasten zu befreien (vielleicht sogar einen Teil der Lasten abzuwälzen).

Wenn wir die Frage stellen, was in der Union seit dem Beitritt bis zum Beginn der Krise geschah, anstatt die bekannten Themen wie Verfassungskrise, Referenden, Budgetfeilschen, Richtungsstreit über Erweiterung, Vertiefung, Positionskämpfe usw. aufzuzählen, sollte man vielleicht versuchen, einige gesellschaftliche Gründe in den politischen Systemen der alteuropäischen Länder ausfindig zu machen, die dafür verantwortlich sein dürften, dass die lange andauernde Legitimation Europas durch eine "schweigende Mehrheit" verschwunden ist, besonders seit dem für viele EU-Bürger schockierenden big bang der Erweiterung. Bevor die ökonomische Krise hereinbrach, war bereits seit einigen Jahren klar, dass die befriedigende Rhetorik des "Wir sitzen alle in einem Boot" nicht mehr trägt. Und zwar nicht nur auf der Ebene der Union, sondern bereits darunter, nämlich in den europäischen politischen Systemen und in den europäischen Gesellschaften.

Man könnte lange Artikel, sogar Bücher darüber schreiben, wie es Ulrich Beck, Manuel Castells oder Anthony Giddens getan haben, warum die "Erste Moderne" einer industriekapitalistischen Klassengesellschaft mit einer nach-industriellen neuen Moderne, mit einer indeterminierten, entgrenzten, auf kulturelle Identität setzenden Netzwerk-Gesellschaft unvereinbar ist. (Wobei in unseren Gesellschaften beide Modernen - auch wenn nicht ganz friedlich - zusammenleben.) Vielleicht ist es ein Hauptproblem der EU, dass sie mit ihrer alt-modernen Architektur und ihren mehrheitlich alt-modern denkenden Führungseliten eine neue Welt steuern will.

So verhält es sich auch mit den tradierten Volksparteien in Westeuropa, die sich auf veraltete Konfliktlinien beziehen. In Bezug auf Globalisierung und Europäisierung verwischen sie die Unterschiede in den Politikinhalten. Dabei bezieht sich heutzutage der sozio-ökonomische und kulturelle Hauptkonflikt auf die großen Fragen, die mit der Globalisierung und der immer stärker ausgeprägten postindustriellen neuen Moderne entstehen, auf Verlust bzw. Neuformulierung der kulturellen Identitäten, die sich mit einem umgestalteten Gewinner-Verlierer-Gegensatzpaar verbinden. Diese werden aber nur selten konzeptualisiert. Die zentrale Konfliktlinie verläuft zwischen Entgrenzung und Grenzsetzung, wobei das Kulturelle das Sozio-ökonomische in sich aufnimmt. Dementsprechend mobilisieren die immer stärker und dynamischer werdenden populistischen Parteien, welche die Struktur des Parteienwettbewerbs bestimmen könnten.

Hier bieten nun einige Länder Ostmitteleuropas, vor allem Ungarn, ein Modell, ein Parteiensystem, in dem die neuen cleavages Öffnung und Schließung zentral sind, eigentlich schon seit der Wende. Diesbezüglich gibt es aber auch schlechte Nachrichten. Die good guys, die Progressiven, welche für freie Märkte sind, deregulieren sie, bauen sogar den Sozialstaat ab. Die Nationalisten, die bad guys, versprechen Sicherheit, auch soziale Sicherheit gegenüber den Märkten. Was die Wählerstimmen betrifft oder betreffen könnte, steht es in Ungarn - und zum Teil in Polen - schlecht um die good guys und besser um die bad guys.

Letzten Endes ist die Europäische Union eine politische Formation. Sie könnte Egoismen stoppen und eine supranationale Regelung der Finanzmärkte anpacken. Sie könnte die Abschottung und Abspaltung Kerneuropas verhindern und die östlichen Staaten solidarisch behandeln. Es kann aber auch umgekehrt kommen.


György G. Márkus (*1938) ist Professor für politische Soziologie am Budapest College for Management, Senior Researcher der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
gmarkusg@axelero.hu


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2009, S. 9-12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2009