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INNEN/453: Rede von Viviane Reding - verantwortlich für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft (KEG)


Europäische Kommission - Gespräch - Vertretung der Europäischen Kommission Berlin, 17. September 2010

Viviane Reding
Vizepräsidentin der Europäischen Kommission verantwortlich für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft

Deutschland und Europa: Zwischen Eurodebatte, Glühbirnenkrieg, Salz im Brot und Bundesverfassungsgericht


Sehr geehrte Bundestagsabgeordnete Frau Dr. Högl,

Sehr geehrte Damen und Herren,

Gerne bin ich der Einladung der Europa-Union zur heutigen Veranstaltung in Berlin gefolgt, und ich freue mich, der bundesdeutschen Hauptstadt erneut einen Besuch abzustatten. Ende April dieses Jahres war ich schon einmal hier, im Europäischen Haus unter den Linden. Damals blickten alle Augen auf Griechenland und seine immer weiter in die Höhe schnellenden Schulden. Ungeklärt war die Frage, wie die Schuldenkrise Griechenlands abgewehrt und die Gefahr eines sich ausweitenden Schwelbrandes instabiler und kreditunfähiger Euro-Länder gestoppt werden könnte. In meinen Diskussionen hier vor Ort, im Justizministerium und im Bundeskanzleramt nahm ich damals mit nach Brüssel die deutsche Sorge um die Stabilität unserer europäischen Einheitswährung, die ich als Luxemburgerin voll und ganz teile.

Heute, knapp fünf Monate später, bin ich froh, dass wir die Gefahren für den Euro und seine Stabilität durch entschiedenes und solidarisches Handeln der EU-Institutionen wie der 16 Eurostaaten abgewendet haben. Gemeinsam haben die Europäer ein Rettungspaket geschnürt, das Griechenland durch Kredite stabilisiert und zugleich eine Verpflichtung Griechenlands zu einem historisch einmaligen Sanierungsprogramm für seine Staatsfinanzen beeinhaltet, dass derzeit unter Kontrolle der Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds strikt durchgeführt wird-. Zugleich haben wir einen Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro aufgespannt, der alle Eurostaaaten vor erneuten spekulativen Attacken gegen den Euro wirksam schützen kann, falls dies jemals notwendig werden sollte. Dieser Rettungsschirm hat ganz Europa eine Atempause verschafft - eine Atempause, die wir nun dringend nutzen müssen, um die Europäische Währungsunion dauerhaft zu stabilisieren. Unabdingbare Voraussetzung ist dafür eine glaubwürdiges Verpflichtung aller Mitgliedstaaten auf nachhaltig solide Staatsfinanzen, Schuldenabbau und vorausschauende Finanzplanung im Interesse der nachfolgenden Generationen. Wer jetzt nicht spart, meine Damen und Herren, der hat die Zeichen der Zeit wirklich nicht verstanden! Ich persönlich bin dabei der Auffassung, dass alle EU-Mitgliedstaaten sehr gut daran täten, dem deutschen Beispiel zu folgen und eine "Schuldenbremse" in ihre nationale Verfassung aufzunehmen.

Wie Sie selbst wissen, ist der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland am Rettungspaket - sowohl an den Griechenland-Hilfen als auch am Euro-Rettungsschirm - am höchsten. Dies unterstreicht einmal mehr die wirtschaftliche und politische Stärke Deutschlands in der EU. Wir in Brüssel sind uns der zentralen Bedeutung Deutschlands sehr wohl bewusst. Ohne Deutschland gibt es keinen stabilen Euro. Ohne die Lokomotive Deutschland würde der wirtschaftliche Aufschwung, den wir in diesen Tagen in fast ganz Europa miterleben können, ganz anders aussehen. begrüße daher das verstärkte Engagement Deutschlands für die Stabilisierung Europas und die Stärkung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Viele Vorschläge, die Deutschland in den vergangenen Monaten in die so genannte van Rompuy-Task Force zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion eingebracht hat, haben deshalb auch Eingang in die Vorschläge der Kommission zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts gefunden.

Es versteht sich fast von selbst, dass in Zeiten der Krise viele Bürger verunsichert sind und das Vertrauen in die Politik nachlässt. Die deutsche Bundesregierung sieht dies in den nationalen Meinungsumfragen, die EU-Institutionen sehen dies in kontinentaler Dimension. Nur 29% der Bürger in der EU hatten im Mai - auf dem Höhepunkt der Euro-Krise - Vertrauen in ihre nationale Regierung, während 66% misstrauisch waren. Die Europäische Union genoss zwar zum gleichen Zeitpunkt bei immerhin 42% der Bürger Vertrauen. In Deutschland waren es jedoch nur 37%. Damit verzeichnete die EU die niedrigsten Zustimmungswerte seit dem Zerplatzen der Internet-Plase im Jahr 2001.

Diese Zahlen sind sicherlich dadurch etwas zu relativieren, dass sie aus Meinungsfragen vom Mai stammen, als noch nicht absehbar war, dass es über den Euro-Rettungsschirm zu einer Einigung kommen würde. Dennoch sollten diese Zahlen für Politiker auf nationaler wir auf europäischer Ebene ein Weckruf sein. Gerade in der Krise erwarten die Bürger entschlossene Politiker, die parteipolitisches Gezänk hinter sich lassen und im Interesse des großen Ganzen handeln: der Stabilität unserer Währung, der wirtschaftlichen Wiederbelebung unseres Kontintents und der Bewahrung unserer gemeinsamen europäischen Werte.

In solchen Zeiten ist es daher besonders wichtig, klar und deutlich zu kommunizieren, was politische Entscheidungen erreichen sollen und auf welche Weise auch scheinbar unpopuläre Sparbeschlüsse im langfristigen Interesse der Bürger sind. Die EU-Institutionen stellt dies vor eine besondere Herausforderung. In der Krise ist es besonders leicht, die Schuld für unpopuläre Maßnahmen nach Brüssel abzuschieben. Vielleicht ist es sogar systemimmanente Aufgabe der Kommission, in einer solchen Lage ab und zu die Rolle des politischen "Sündenbocks" zu übernehmen, wenn eine nationale Regierung anders nicht in der Lage wäre, zwingende Reformen durchzuführen. Ich sehe dies z.B. als Aufgabe der Kommission, wenn es darum geht, der griechischen Regierung dabei zu helfen, Reformen im Steuersystem oder bei der Altersversorgung durchzusetzen, die im Interesse gesunder Staatsfinanzen und damit aller Euro-Staaten sind.

Die "Sündenbock-Rolle" sollte aber nicht übertrieben werden. Eine dauerhafte pauschale Schuldzuweisung an die "Brüsseler Eurokraten" ist zwar politisch, aber weder angemessen noch im Interesse der Stabilität der gemeinsamen Europäischen Institutionen. Die Europäische Kommission will ein fairer Partner aller Mitgliedstaaten sein. Das setzt allerdings beiderseits fairen Umgang voraus. Ich habe vor diesem Hintergrund Anfang dieser Woche in sehr deutlicher Sprache die Europäische Kommission gegenüber Vorwürfen aus einem großen Mitgliedstaat verteidigen müssen. Die Rolle der Kommission als Hüterin der Verträge, als Hüterin des europäischen Rechts ist in den EU-Verträgen von den Mitgliedstaaten selbst festgeschrieben worden. Sie ist also keine Amtsanmaßung, sondern besteht im Interesse eines Europas, das Gott sei Dank nicht durch Gewalt geeint ist, sondern durch die Kraft des gemeinsam geschaffenen Rechts. Das historisch einzigartige Integrationsmodell Europa wird nur dann dauerhaft erfolgreich sein, wenn alle Mitgliedstaaten dieses gemeinsam geschaffene europäische Recht und unsere gemeinsamen europäischen Werte verteidigen. Ich begrüße es, dass nach einigen Tagen der Auseinandersetzung darüber wieder Einigkeit zwischen den führenden Verantwortlichen in Europa besteht.

Mythen über das, was in Brüssel geschieht, sind manchmal amüsant, manchmal schaden sie aber nachdrücklich der Arbeit der Europäischen Institutionen und ihrem Ansehen beim Bürger. Natürlich weiß ich als ehemalige Journalistin, dass die Geschichte "Brüsseler Eurokraten verbieten unsere Glühbirne" ein sehr gelungener Aufmacher für die Titelseiten ist. Der Ernsthaftigkeit des Themas wird dies jedoch in keiner Weise gerecht. Zunächst wird den EU-Institutionen sachwidrig die Urheberschaft für eine politische Initiative zugeschrieben, die nicht zuletzt auf einen aus meiner Sicht exzellenten Vorschlag der deutschen Bundeskanzlerin zurückgeht. Zudem wird - ebenso sachwidrig - gegen ein äußerst sinnvolles Vorhaben Stimmung gemacht. Die traditionelle Glühbirne ist sicherlich eine historische Errungenschaft. Man sollte sich allerdings vor Augen führen, wie eine Glühbirne praktisch funktioniert. In einer Glühbirne wird Licht dadurch erzeugt, dass der Glühfadens durch Stromfluss so stark erhitzt wird, dass er Licht erzeigt. Dabei werden nur 5% der genutzten Energie in Licht verwandelt - 95% werden als Wärme abgestrahlt, wie jeder on Ihnen schmerzhaft weiß, der einmal eine Glühbirne nach 30 Minuten Betrieb mit der bloßen Hand angefasst hat. Zweck einer Glühbirne ist es aber doch, dass sie Licht gibt - und nicht Ihr Wohnzimmer heizt! Da kann man Energie nun wirklich effizienter einsetzen. Und das ist der Grund, warum alle 27 EU-Mitgliedstaaten mit Unterstützung des Europaparlaments einvernehmlich die Öko-Design-Richlinie beschlossen haben, welche die aus dem vergangenen Jahrhundert stammende Glühbirne durch modernere Beleuchtungsformen ersetzen soll.

Deutschland ist in vieler Hinsicht das Mutterland des Klimaschutzes. Frau Merkel gilt völlig zu Recht als DIE Klimakanzlerin. Und deshalb ist es aus meiner Sicht völlig richtig, dass wir alle in den kommenden Jahren Schritt für Schritt auf günstigere und effizientere Beleuchtungsformen umstellen. Die Vorteile für den Bürger sind dabei geringere Kosten im Stromverbrauch und der Schutz der Umwelt. Klimaschutz darf schließlich nicht nur in Sonntagsreden groß geschrieben werden. Und Politiker sollten auf europäischer wie auf nationaler Rede dazu stehen, was wir beschlossen haben; und es dem Bürger in verständlicher Sprache erläutern.

Diese Herausforderung stellte sich auch bei einem weiteren Euro- Mythos: dem angeblichen Brüsseler Vorhaben, das "Salz im Brot" zu verbieten, was insbesondere das deutsche Bäckereihandwerk zeitweise auf die Barrikaden gebracht hat und es einmal sogar auf die Titelseite der seriösen Frankfurter Allgemeinen Zeitung schaffte. Ich verstehe natürlich, dass es ein sensibles Thema ist, wenn man den deutschen Bürger an Brot oder Bier geht. Wir Luxemburger reagieren da übrigens ganz genauso. Mit der Realität der EU-Gesetzgebung hatte der ganze Wirbel allerdings nicht viel zu tun. In den Gesetzgebungsvorhaben ging es nicht um das Brot als solches, sondern um Nahrungsmittel, die mit einem besonderen "Health Claim" beworben werden, bei denen also mit einem Werbeslogan dafür geworben wird, dass das Produkt besonders gesund, besonders gut für die Verdauung oder für das Immunsystem sei. Wer also auf die Packing Kartoffelchips draufschreibt, diese seien "reich an Ballaststoffen", der muss zugleich - im Interesse des Verbrauchers - auch auf die ungesunden Zutaten, also z.B. Salz, Zucker und gesättigtes Fett, hinweisen. Es geht bei dem Vorhaben also um Transparenz bei fettigen, aber als besonders gesund beworbenen Kartoffelchips, nicht aber um deutsche Brötchen oder deutsches Graubrot, von denen jeder Mensch weiß, dass sie in den meisten Fällen sehr gesund sind, ohne dass es dazu besonderer Werbemaßnahm en bedarf. Sie merken: Dass die EU das Salz im Brot verbieten wolle, ist also eine Erfindung einfallsreicher Lobbyisten.

Lassen wir die Legendenbildung um europäische Vorhaben zu, so führt dies naturgemäß zu einem Vertrauensverlust bei den Bürgern und zu verstärkter Euroskepsis. Natürlich müssen auch die EU-Institutionen das Ihre dazu tun, um bessere Gesetze zu machen und solche Sachverhalte besser und in einfacher Sprache zu erklären. Ich stelle aber schon fest, dass Brüssel oftmals auf eine Weise instrumentalisiert ist, die sich allein mit besserer Rechtsetzung und verständlicherer Kommunikation nicht aus der Welt schaffen lässt. Organisationen wie die Europa-Union tragen bereits heute viel dazu bei, dass Euro-Mythen sich nicht festsetzen. Manchmal bedarf es aber vielleicht auch eines nationalen Ministers, der Falschinformationen über Brüsseler Vorschläge rasch Paroli bietet.

Dass seit dem 1. Dezember letzten Jahres nun der Lissabon-Vertrag in Kraft, bietet uns allen eine neue Chance, es den EU-Mythen in Zukunft schwerer zu machen. Denn der Lissabon-Vertrag stärkt erheblich die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Dabei ermöglicht es der Vertrag, der ja die Struktur und die Funktionsweise der EU reformiert, effiziente Politikergebnisse für die Bürger zu liefern und die Union als Rechtsgemeinschaft zu stärken. Diese Kombination ist einmalig. Wir sollten sie dazu nutzen, um die Menschen besser über ihre konkreten, alten wie neuen, Rechte und Vorteile als Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union zu informieren.

Der Lissabon-Vertrag stärkt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger insbesondere mit der Charta der Grundrechte, die mit dem neuen Vertrag rechtsverbindlich ist und den gleichen Stellenwert wie die europäischen Verträge hat. Damit kann heute eine EU-Gesetzesvorlage, die die Grundrechtscharta der EU verletzt, nicht rechtswirksam werden. Dies führt von Vornherein zu einem Schutz der europäischen Grundrechte, auch weil wir EU-Kommissare neue Gesetzesinitiativen schon bei ihrer Ausarbeitung auf die Grundrechtskonformität überprüfen. Zudem ermöglicht der Lissabon-Vertrag den Beitritt der EU-Grundrechts-Charta zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Dies ist möglich, weil der Lissabon-Vertrag der Europäischen Union eine einheitliche Rechtspersönlichkeit verleiht. Am 1. März dieses Jahres haben wir mit den Beitrittsverhandlungen begonnen. Damit wird in Zukunft die Europäische Union in ihrer Gesamtheit an die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte gebunden sein, und nicht mehr nur die einzelnen Mitgliedstaaten der EU. Eine Rechtsgemeinschaft aus 27 Mitgliedstaaten braucht kohärente Grundrechtstandards. Der Beitritt wird die Grundrechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger umfassend sicherstellen und universal verankern.

Die gestärkte Grundrechtsorientierung ist von zentraler Bedeutung für eine bürgerfreundliche und rechtssichere EU. Sie allein reicht allerdings nicht aus. Wir müssen die Grundrechte und die neuen im Lissabon-Vertrag enthaltenen Bürgerrechte in konkrete Gesetze umsetzen. Dies ermöglicht der Lissabon-Vertrag durch die stärkere Beteiligung des Europaparlaments an der gesamten den Bürger direkt betreffenden Gesetzgebung. Und auch durch die verstärkte Einbeziehung der nationalen Parlamente in die Arbeit der EU-Institutionen.

Viele von Ihnen erinnern sich sicherlich an das Bild eines antiken Tempels, mit dem die Aufspaltung der EU in eine Säule der Europäischen Gemeinschaften, in eine Säule der "GASP" gleich Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und in eine Säule der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und Polizeilicher Zusammenarbeit verdeutlicht wurde. Mit dem Lissabon-Vertrag hat diese Struktur der EU ein Ende. Seit dem 1. Dezember 2009 sind die Säulen der EU vergemeinschaftet, und damit gilt seit dem 1. Dezember das Primat des supranationalen Rechts in allen Bereichen der EU-Politik und macht die Mitwirkung des direkt vom Bürger gewählten Europaparlaments zur Regel. Damit ist das gesamte Unionsrecht ohne Zweifel direkt von den nationalen und lokalen Gerichten in jedem Mitgliedstaat der EU anzuwenden.

Sie alle wissen, dass es über die Jahrzehnte hinweg einige Zweifel gegeben hat, ob die vorrangige Geltung des Europarechts in Deutschland uneingeschränkt anerkannt wird. Diese Zweifel haben erhebliche Rechtsunsicherheit in den Europäischen Binnenmarkt getragen. Wer kann schon rechtssicher mit deutschen Unternehmen und Verbrauchern Geschäfte abschließen, wenn er jeden Tag befürchten muss, dass ein deutsches Gericht dabei die gemeinsam in Brüssel geschaffenen Regeln für unwirksam erklärt? Ich begrüße in diesem Zusammenhang daher die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mangold-Urteil des Europäischen Gerichthofes. Sie kennen sicherlich den Hintergrund: Ein deutsches Unternehmen hatte den Arbeitsvertrag mit einem älteren Arbeitnehmer - anders als vergleichbare Verträge mit jüngeren Arbeitnehmern - befristet. Dies entsprach zwar der deutschen Gesetzeslage, nicht jedoch der Europarechtlichen Rechtslage, wie der Europäische Gerichtshof 2005 in seinem Mangold-Urteil feststellte. Zur Begründung verwies der Europäische Gerichtshof dabei u.a. auf den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung, der als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Recht der Europäischen Union enthalten sei. Diese Entscheidung wurde von dem betroffenen Unternehmen durch eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe indirekt mit dem Argument angegriffen, dass es einen solchen Grundsatz im EU-Recht nicht gebe und die EU mit dem Mangold-Urteil ihre Kompetenzen bei weitem überschritten habe.

Nun bin ich persönlich keine große Freundin allzu detaillierter gesetzlicher Vorschriften zur Anti-Diskriminierung. In der Vergangenheit ist da sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene wohl manchmal über das legitime Ziel hinausgeschossen worden. Das ändert aber nichts daran, dass der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung seit Jahren fest im EU-Recht verankert ist. Dafür gibt es einen sehr prominenten Zeugen: Roman Herzog, den früheren Bundespräsidenten und Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Er war Vorsitzender des EU-Grundrechte-Konvents, der die Aufgabe hatte, die bisher ungeschriebenen EU-Grundrechte, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt worden waren, zu kodifizieren, also in einen geschriebenen Grundrechtekatalog zu überführen. Das ist dem vom Roman Herzog geleiteten Konvent sehr gut gelungen. Ich persönlich freue mich besonders darüber, dass die EU-Charta, die 2000 vom Herzog-Konvent fertiggestellt wurde, an erster Stelle festhält: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". So beginnt bereits das deutsche Grundgesetz und jetzt auch der EU-Grundrechtekatalog, als Ausdruck der besonderen Werte- und Menschenorientierung aller öffentlicher Gewalt in der Europäischen Union.

Der Grundrechtekatalog, den der Herzog-Konvent aufgeschrieben hat, sagt aber auch in Artikel 21 der Charta: "Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten." Vor diesem Hintergrund habe ich deshalb mit Erstaunen in den vergangenen Jahren gelesen, wie prominente Rechtswissenschaftler, und zu meinem großen Bedauern auch Roman Herzog selbst, gegen das fünf Jahre nach Fertigstellung der Charta ergangenen Mangold-Urteils mit Artikeln wie "Stoppt den Europäischen Gerichtshof!" zu Felde gezogen sind. Man kann über die Reichweite des eben vorgelesenen Diskriminierungsverbots denken wie man will: Dem Europäischen Gerichtshof kann man sicherlich nicht vorwerfen, dass er das, was der Herzog-Konvent aufgeschrieben hat, anerkennt und anwendet. Auch dies muss unter der Überschrift "Aufräumen mit Euro-Mythen" einmal deutlich gesagt werden.

Ich freue mich daher darüber, dass auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 6. Juli entschieden hat, dass das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht über die Zuständigkeiten hinausgeht, die der EU von den Mitgliedstaaten übertragen worden sind. Es zeigt einen sehr konstruktiven Ansatz zur europäischen Integration, dass die Richter in Karlsruhe in ihrem Urteil den Grundsatz der europarechtsfreundlichen Auslegung entwickeln und zudem großes Verständnis für das innere Funktionieren der Europäischen Integration insgesamt zeigen. Das ist eine gute Basis für die künftige deutsche Europapolitik. Und es ist eine sehr gute Basis, für die EU-Institutionen, um mit Deutschland als Partner Europa zu gestalten und im Interesse der Bürger weiterzuentwickeln. Ohne Mythen und Legenden. Sondern im gemeinsamen Interesse für ein stabiles, werteorientiertes und bürgerfreundliches Europe.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


© Europäische Gemeinschaften, 1995-2010

Es gilt das gesprochene Wort


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Quelle:
Pressemitteilung - SPEECH/10/458, 17.09.2010
Europäische Kommission (KEG), Brüssel
Internet: www.ec.europa.eu, www.europa.eu/rapid/


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2010