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INNEN/472: Made in Brussels - Positionsbildung in der EU-Kommission (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 130/Dezember 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Made in Brussels
Wie externe Interessen ihren Weg in die Politikformulierung der EU-Kommission finden

Von Miriam Hartlapp, Julia Metz und Christian Rauh


Die EU-Kommission als zentrale supranationale Bürokratie der Europäischen Union wird häufig als Spielwiese externer Interessen dargestellt. In der Tat werden mittels bestimmter Mechanismen externe Interessen an die abschließende Position der Kommission zu EU-Gesetzesvorhaben gekoppelt. Die Analyse zeigt, wie organisierte gesellschaftliche oder parteipolitische Interessen ihren Weg in Gesetzesinitiativen der Kommission finden: etwa durch die Antizipation der Mehrheit im Rat oder im Europäischen Parlament, durch den Transfer bestehender (nationaler) Politiklösungen, durch eine Art Gütertausch von Einfluss gegen Legitimität oder Expertise oder durch ideologische Fürsprache.


Wenn in der Europäischen Union Entscheidungen mit weitreichenden Folgen für Menschen und Wirtschaft getroffen werden, dann haben die Medien oft einfache Erklärungen parat. Wenn es zu begründen gilt, warum es bei einer Regelung Sieger oder Verlierer gibt, ist schnell von der Größe von Nationalstaaten, von Parteipolitik oder auch den Spesenkonten der Lobbyisten die Rede. So auch bei den Reaktionen auf die Finanzkrise: Europäische Abgeordnete beklagen fraktionsübergreifend ihre Machtlosigkeit gegenüber dem Druck der Finanzlobbyisten. Zugleich sehen sich Regierungen wie die deutsche veranlasst, wieder stärker nationale Interessen in Brüssel zu vertreten wobei es dann parteipolitische Konflikte darüber gibt, worin dieses Interesse im jeweiligen Fall besteht.

Ein genauer Blick auf das Zustandekommen europäischer Gesetze in Brüssel ergibt indes ein viel differenzierteres Bild. Tatsächlich wird die überwältigende Mehrheit europäischer Gesetze in langwierigen und komplexen Prozessen unter der Ägide der Europäischen Kommission formuliert, die hier das Initiativmonopol hat.

Ein mehrjähriges Forschungsprojekt am WZB zur Positionsbildung in der EU-Kommission zeigt unter anderem auf, warum und wie sich externe Interessen Einfluss auf europäische Gesetzesinitiativen verschaffen können. Die von der VolkswagenStiftung geförderte Schumpeter-Nachwuchsgruppe untersucht die Politikformulierungsprozesse sowohl innerhalb der als auch zwischen den einzelnen Dienststellen der Kommission. Als empirische Datenbasis dienen dabei 133 Experteninterviews mit Kommissionsbeamten und Dokumentenanalysen zu 49 EU-Gesetzesinitiativen der Kommissionen von 1999 bis 2008, also unter Romano Prodi und während der ersten Präsidentschaft von José Manuel Barroso. Untersucht werden die Politikfelder Forschung und Innovation, Verbraucherpolitik sowie Binnenmarkt und Soziales.

Beim Nachzeichnen und im Vergleich der Entstehungsprozesse dieser Gesetzesinitiativen offenbaren sich stabile Mechanismen der Einflussnahme nationaler, organisierter gesellschaftlicher und parteipolitischer Interessen auf die Position der Kommission. Einerseits ergeben sich diese aus den politischen Zwängen der im Gesetzgebungsprozess nachgelagerten Abstimmung im EU-Ministerrat und im Europäischen Parlament, andererseits aus primär inhaltlich motivierten Erwägungen zu den Folgewirkungen verschiedener Positionen, die die Kommission bei der jeweiligen Gesetzesinitiative einnehmen kann.

Nationale Regulierungswünsche finden über zwei Mechanismen ihren Weg in Gesetzesvorschläge der EU-Kommission: Zum einen bemüht sich die Kommission intensiv, Mehrheiten im EU-Ministerrat zu antizipieren - dem Gremium, das letztlich gemeinsam mit dem Europäischen Parlament über ein Gesetz entscheidet. Damit können nationale Regierungen als potenzielle Mehrheitsmacher schon in der Frühphase der jeweiligen Initiative Einfluss nehmen. Allerdings ermöglicht die schiere Dauer des Politikformulierungsprozesses es der Kommission, Gegenstrategien zu entwickeln - etwa indem sie mit einer inhaltlich direkt oder indirekt verbundenen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof droht. Weil sich mit einer Klage aber auch die Rückfallposition zu ändern droht - so das Kalkül der Kommission -, lassen sich ursprünglich unwillige Mitgliedstaaten eher zur Zustimmung bewegen.

Zum anderen nutzt die Kommission bewusst Regulierungsmuster der einzelnen Mitgliedstaaten für ihre Gesetzesvorschläge. Das ist besonders dann zu beobachten, wenn die Kommission zwar aktiv werden will, es ihr aber an den dafür notwendigen Ressourcen mangelt. Ein Beispiel ist die Neuregulierung von Verbraucherkrediten aus dem Jahr 2002. Die relativ junge Generaldirektion für Gesundheit und Verbraucherschutz (GD SANCO) der EU-Kommission brachte diesen Entwurf ein, obwohl Finanzdienstleistungen traditionell Domäne der Generaldirektion Binnenmarkt (GD MARKT) sind und dort meist im Sinne der Dienstleistungsfreiheit reguliert wurden. Um sich abzugrenzen, eröffnete die GD SANCO den Prozess mit dem erklärten Ziel, Verbraucherkredite möglichst umfassend im Sinne des Verbraucherschutzes und zu Lasten der Finanzindustrie zu regulieren. Angesichts der inhaltlich sehr komplexen Materie und fehlenden Fachpersonals entschieden sich die SANCO-Beamten bewusst für ein pick-and-choose aus jenen nationalen Regeln, die sich im europäischen Vergleich am stärksten am Verbraucherschutz orientierten.

Entsprechend war der Gesetzesvorschlag ein Flickenteppich aus unterschiedlichen nationalen Ansätzen. Zum Beispiel stand das äußerst umfassende belgische Recht Pate für Verpflichtungen der Finanzdienstleister beim Berechnen und Ausweisen des effektiven Jahreszinses. Aus dem britischen Kreditrecht wurden fast wortwörtlich die Vorschriften zur gesamtschuldnerischen Haftung übernommen, nach denen auch vom Verkäufer unabhängige Kreditgeber wie etwa Kreditkartenunternehmen für schadhafte Produkte oder Dienstleistungen haftbar gemacht werden können - ein Ansatz, der in den anderen EU-Staaten ziemlich abwegig erschien.

Organisierte gesellschaftliche Interessengruppen wie Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerverbände, NGOs oder Verbraucherschützer, aber auch klassische industrielle Lobbyisten stehen ebenfalls oft im Blickpunkt, wenn eine externe Einflussnahme auf die Brüsseler Gesetzgebung kritisiert wird. Eine genauere Untersuchung typischer Prozesse der Einflussnahme zeigt, dass sich die zu Grunde liegenden Mechanismen mit einem Gütertausch vergleichen lassen: Die Europäische Kommission benötigt verschiedene Ressourcen, um ihren Aufgaben nachzukommen. Folglich gewährt sie am ehesten jenen Interessen Einfluss, die eben diese Güter liefern können.

Als typische Güter bzw. Ressourcen wurden einerseits Legitimität und andererseits Expertise identifiziert. Ist die Kommission auf die Unterstützung oder Legitimierung durch bestimmte Interessengruppen angewiesen, hat sie nur einen eingeschränkten Handlungsspielraum, sie muss also bestimmte Interessen einbeziehen. Vergleichsweise mehr Auswahl hat sie hingegen bei der Frage, welche externe Expertise sie einholen möchte - hier kann sie stärker auf die eine oder andere Gruppe hören.

Ein Beispiel für den Einfluss externer Interessen, die im Gegenzug Legitimität gewähren, liefert das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (Competitiveness and Innovation Programme, CIP), ein Finanzierungsprogramm der EU, das Mittel zur Förderung von Wettbewerb und Innovation vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) bereitstellt. Im Zuge der Revision der Lissabon-Strategie 2004 wollte die Kommission unzählige kleinere Förderlinien im Bereich der KMU, der Informationstechnologien- und der Energieeffizienz-Förderung durch ein größeres und effizienteres Innovationsförderprogramm ersetzen. Der tatsächliche Gesetzentwurf der Kommission von 2005 aber war - entgegen den ursprünglichen Effizienzzielen - eine Fortführung der alten kleinen Förderprogramme, jetzt allerdings unter dem neuen CIP-Label. Die betroffenen Interessengruppen wie KMUs oder IT-Unternehmen konnten ihre Position - nämlich die individuellen Förderlinien beizubehalten - vor allem deshalb durchsetzen, weil die für die einzelnen Förderlinien zuständigen Kommissionsabteilungen über die Jahre von ihren Stakeholdern abhängig geworden waren: Die Betreuung der jeweiligen Förderlinien war ihre Hauptaufgabe und damit Legitimation für die Existenz der Kommissionsabteilungen. Ein Ende der separaten Förderlinien hätte diesen Abteilungen ihre Daseinsberechtigung und Legitimität genommen.

Formal gilt die Europäische Kommission als neutrale Bürokratie. Trotzdem können ideologische Positionen Gesetzesvorlagen beeinflussen. Dies geschieht erstens, indem Kommissionsbeamte als ideologische Fürsprecher auftreten. Meist ist diese Fürsprache durch Parteimitgliedschaft oder persönliche Bindung bestimmt. Besonders sichtbar wird das, wenn es um Kommissare oder ranghohe Kommissionsbeamte wie beispielsweise Generaldirektoren geht. Zweitens beeinflussen die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse im EU-Ministerrat und im Europäischen Parlament den Inhalt des Kommissionsvorschlags. Dieser Mechanismus ähnelt in seiner Wirkungsweise der oben beschriebenen Antizipation nationaler Interessen. Besonders das Europäische Parlament, das mittlerweile über weitreichende Mitwirkungsrechte verfügt, ist in den untersuchten Fällen ein wichtiger Einflusskanal, über den parteipolitische Interessen durchgesetzt werden.

Beim Kommissionsvorschlag zur erst kürzlich im Ministerrat verabschiedeten Richtlinie zur Patientenmobilität, die in einem EU-Mitgliedstaat versicherten Bürgern Zugang zur Gesundheitsversorgung in anderen Mitgliedstaaten und die Kostenrückerstattung im Heimatland verspricht, haben parteipolitische Interessen über beide Kanäle Einfluss genommen. Ursprünglich sollten Gesundheitsdienste über die umstrittene Richtlinie zur Dienstleistungsliberalisierung reguliert werden. Dass der neue Richtlinienentwurf nicht mehr aus der Feder der eher marktliberalen Generaldirektion Binnenmarkt stammt, sondern von der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz verfasst wurde, ist unter anderem damit zu erklären, dass Kommissionspräsident José Manuel Barroso für seine Wiederwahl 2009 die Unterstützung des linken Flügels im Europa-Parlament brauchte: Weniger marktliberale Initiativen sollten den linken Flügel gewogen machen. Der Gesetzentwurf wurde daher kurzerhand in einem anderen Ressort der Kommission angesiedelt und orientierte sich folglich stärker an Verbraucherinteressen. Die Kommission antizipierte also die ideologische Position, die angesichts der Erfordernisse eines anderen politischen Prozesses notwendig schien.

Aber auch einzelne Kommissare nahmen parteipolitischen Einfluss, diesmal durch ideologisch motivierte Fürsprache in der internen Diskussion: Viele sozialdemokratische Kommissare hatten den ursprünglichen Kommissionsvorschlag intern vehement kritisiert. Obwohl Kommissare oft als Vertreter nationalstaatlicher Interessen agieren, bezogen sie dabei sogar dort Position gegen die Initiative, wo die nationale Regierung die europäische Regelung explizit befürwortete, aber einer anderen Partei angehörte, so etwa im Fall der schwedischen Kommissarin Margot Wallström. Der tatsächlich eingebrachte Vorschlag zeigt dann auch an zentralen Stellen Veränderungen hin zu sozialdemokratischen Positionen. Ein Beispiel ist die Möglichkeit für Nationalstaaten, die Rückerstattung daran zu binden, dass die Auslandsbehandlung vorab genehmigt wurde - sofern das finanzielle Gleichgewicht eines nationalen sozialen Sicherungssystems durch eine komplette Liberalisierung bedroht ist.

Die Ergebnisse zeigen: Vielfältige Interessen beeinflussen den Inhalt europäischer Gesetzesinitiativen. Ein solcher Einfluss lässt sich aber meist nicht so einfach erklären, wie es von den Medien verbreitete Klischees nahelegen. Vielmehr ergibt er sich daraus, dass der Prozess der Formulierung neuer EU-Gesetze langwierig ist, wie er strukturiert ist und wie der Kontext aussieht. Die anhand der Fallstudien identifizierten und hier skizzierten Mechanismen definieren dabei Kanäle, über die nationale, gesellschaftlich organisierte oder parteipolitische Interessen den Inhalt von Kommissionsinitiativen und damit den Auftakt des Gesetzgebungsprozesses in der EU beeinflussen können. Damit zeigen sie auch Wege auf, wie sich europäische Politik in Zukunft verändern lässt. Perspektivisch können wir davon ausgehen, dass die unterschiedlichen Mechanismen auch jenseits der konkreten inhaltlich transportierten Position systematische Auswirkungen auf die Formulierung europäischer Gesetze haben sollten. Werden beispielsweise nur ausgewählte nationale Regulierungsmuster transferiert, mitgliedstaatliche Stimmen aus dem Ministerrat oder parteipolitische Stimmen aus dem Europäischen Parlament unterschiedlich stark gewichtet, kann das systematisch zur Bevorzugung gewisser Interessen in der Gesetzgebung führen. Letztlich könnte dies die Legitimität Brüsseler Politiken negativ beeinflussen. Andere Mechanismen hingegen scheinen besonders geeignet zu sein, die Problemlösungsfähigkeit gemeinschaftlicher Initiativen zu steigern - so der Gütertausch auf Basis externer Expertise.


Miriam Hartlapp leitet die Nachwuchsgruppe Positionsbildung in der EU-Kommission. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von europäischer Integration, vergleichender Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen.
hartlapp@wzb.eu

Julia Metz ist seit Herbst 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsgruppe. Zuvor studierte sie Politikwissenschaften und VWL in Heidelberg und Stockholm. In ihrer Dissertation untersucht sie, wie die EU-Kommission Expertengruppen für die Politikformulierung bei der Forschungs- und Innovationspolitik einsetzt.
metz@wzb.eu

Christian Rauh ist seit September 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nachwuchsgruppe. Zuvor studierte er Verwaltungswissenschaften in Konstanz. In seiner Dissertation untersucht er, inwiefern die Kommission bewusst verbraucherpolitische Maßnahmen nutzt, um diffuse gesellschaftliche Interessen zu bedienen.
rauh@wzb.eu


Literatur

Bouwen, Pieter: "The European Commission". In: David Coen/Jeremy Richardson (Eds.): Lobbying the European Union: Institutions, Actors and Issues. Oxford: Oxford University Press 2009, S. 1938.

Hartlapp, Miriam: "Organising Exits from the Joint-Decision Trap? Cross-sectoral (Non) Coordination in the European Union". In: Gerda Falkner/Fritz W. Scharpf (Eds.): The EU's Joint-Decision Trap and Its Exits. Oxford: Oxford University Press (im Erscheinen).

Hartlapp, Miriam/Metz, Julia/Rauh, Christian: How External Interests Enter the European Commission: Mechanisms at Play in Legislative Position Formation. WZB Discussion Paper SP IV 2010501. Berlin: WZB 2010.

Hartlapp, Miriam/Metz, Julia/Rauh, Christian: The Agenda Set by the EU Commission: The Result of Balanced or Biased Aggregation of Positions? LEQS Paper No. 21, April 2010. London: London School of Economics 2010.

Wonka, Arndt: Die Europäische Kommission. Supranationale Bürokratie oder Agent der Mitgliedstaaten? Regieren in Europa, Bd. 18. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2008.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 130, Dezember 2010, Seite 7-10
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2011