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INNEN/473: Wer hat wie viel Macht im EU-Ministerrat? Analyseverfahren im Vergleich (idw)


Universität Bayreuth - 31.01.2011

Wer hat wie viel Macht im EU-Ministerrat?
Analyseverfahren im wissenschaftlichen Vergleich


Der EU-Vertrag von Lissabon hat die Regeln für Abstimmungen im EU-Ministerrat neu festgelegt. Gewinnen einzelne EU-Mitgliedsländer dadurch mehr Abstimmungsmacht? Wie ist die Position des EU-Ministerrats insgesamt einzuschätzen? Zur Beantwortung dieser Fragen hat Prof. Stefan Napel, Universität Bayreuth, spieltheoretische und auf "Macht-Indizes" gestützte Analyseverfahren verglichen. Beide Ansätze führen zu dem Ergebnis, dass die Abstimmungsmacht von Deutschland, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich gestärkt worden ist. Mit spieltheoretischen Analysen lässt sich zudem zeigen, dass die EU-Kommission und das EU-Parlament im Zusammenspiel der EU-Organe an Einfluss gewonnen haben.

"Quadratwurzel oder Tod": Dieser Slogan wurde 2007 zum Inbegriff eines heftigen Streits, in den sich die Mitgliedsländer der Europäischen Union verwickelt hatten. Es ging um den neuen Reformvertrag von Lissabon und die Frage, welche Regeln bei Abstimmungen im Rat der Europäischen Union - kurz: EU-Ministerrat - gelten sollten. Da es sich um das wichtigste Entscheidungsgremium der EU handelt, war insbesondere umstritten, wie die Stimmen der Mitgliedsländer im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl gewichtet werden sollen. In langen Verhandlungen gelang schließlich ein Kompromiss. Mittlerweile ist der Lissaboner Vertrag in allen EU-Mitgliedsländern ratifiziert, die politischen Diskussionen über die Stimmengewichtung sind verebbt.

Aber wie ist der erzielte Kompromiss zu bewerten - nicht zuletzt im Vergleich mit den bisherigen Abstimmungsregeln, die vor zehn Jahren im EU-Vertrag von Nizza festgelegt wurden? Welche Länder haben bei Abstimmungen im EU-Ministerrat künftig eine starke Position, wer verliert an Einfluss? Für die Beantwortung solcher Fragen gibt es mittlerweile anerkannte wissenschaftliche Verfahren. Deren Evaluation und Weiterentwicklung ist ein Forschungsgebiet von Prof. Stefan Napel, der an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl für Mikroökonomie innehat. Mit seinem 2009 verstorbenen Kollegen Prof. Mika Widgrén an der finnischen Universität Turku hat er dabei lange zusammengearbeitet. Neue Forschungsergebnisse, die sich speziell mit dem EU-Ministerrat befassen, sind jetzt in der Zeitschrift "Social Choice and Welfare" online veröffentlicht.


Mathematische Berechnungen und spieltheoretische Analysen

Wenn es darum geht, die Machtpositionen der EU-Mitgliedsländer im Ministerrat einzuschätzen, ist der folgende Aspekt grundlegend: Die Anzahl der Stimmen, über die ein einzelnes Land aufgrund seiner Bevölkerungszahl verfügt, gibt nicht zu erkennen, wie stark sein Einfluss auf die Abstimmungsergebnisse ist. Denn die Abstimmungsmacht ("voting power") eines Landes hängt wesentlich auch davon ab, inwieweit mehrheitsfähige Koalitionen im Ministerrat auf dessen Stimmen angewiesen sind.

Mit dem Ziel, tatsächliche Abstimmungsmacht möglichst präzise einschätzen zu können, sind in den letzten Jahrzehnten abstrakte mathematische Verfahren entwickelt worden. Sie ordnen den EU-Mitgliedsländern Kennzahlen zu, die in der Fachwelt als "Macht-Indizes" oder - anknüpfend an den britischen Mathematiker Lionel S. Penrose und den US-amerikanischen Juristen John F. Banzhaf III - auch als "Penrose-Banzhaf-Indizes" bezeichnet werden. Diesen Verfahren liegt die fiktive Annahme zugrunde, jedes Land würde bei Abstimmungen im Ministerrat entweder mit "ja" oder mit "nein" votieren, ohne zuvor das wahrscheinliche Abstimmungsverhalten anderer Mitgliedsländer in Betracht zu ziehen. Die Realität jedoch sieht anders aus: Bei wichtigen Abstimmungen sind vorherige Absprachen, Koalitionsbildungen und strategische Rücksichten auf andere Mitgliedsländer ebenso an der Tagesordnung wie kalkulierte Stimmenthaltungen.

In der Forschung hat sich daher eine grundlegend andere Herangehensweise etabliert, um Aufschluss über die tatsächliche Abstimmungsmacht von Mitgliedern eines Gremiums zu gewinnen. Sie beruht auf den Erkenntnissen und Methoden der Spieltheorie ("game theory"). Dieser vergleichsweise junge Wissenschaftszweig ist darauf spezialisiert, das von strategischen Überlegungen geleitete Zusammenwirken individueller Akteure mit hoher Präzision zu analysieren. Auch auf die Beratungsprozesse im EU-Ministerrat lassen sich spieltheoretische Modellen ohne besondere Schwierigkeiten anwenden. Dabei finden insbesondere kooperative und konfrontative Verhaltensweisen Berücksichtigung, mit denen einzelne Mitgliedsländer ihre strategischen Interessen durchsetzen können.


Wissenschaftliche Methodenvergleiche - Wer sind die "Gewinner" des Lissabon-Vertrags?

Napel und Widgrén haben nun ein auf der Spieltheorie basierendes Analyseverfahren und die auf "Macht-Indizes" gestützten Berechnungen miteinander verglichen. Führen die beiden wissenschaftlichen Ansätze zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen, was die Abstimmungsmacht der EU-Mitgliedsländer im Ministerrat betrifft? Überraschenderweise nicht: Die Resultate sind sich durchaus ähnlich. Beispielsweise kommen die Autoren mit beiden Verfahren zu dem Ergebnis, dass der Vertrag von Lissabon die Abstimmungsmacht der vier größten Mitgliedsländer - Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich und Italien - klar gestärkt hat.

Ein signifikanter Unterschied wird allerdings erkennbar, sobald andere Organe der EU in die Analysen einbezogen werden. Dann erweist sich die spieltheoretische Herangehensweise gegenüber klassischen Berechnungsverfahren als überlegen. Diese sind prinzipiell nicht imstande, die Beziehungen des Eu-Ministerrats zur Europäischen Kommission und zum Europäischen Parlament so zu analysieren, wie es gerade unter machtpolitischen Aspekten erforderlich wäre. Napel und Widgrén illustrieren dies an einem Beispiel: Weithin ist die Ansicht verbreitet, die im Vertrag von Lissabon festgelegten Abstimmungsregeln würden den Ministerrat als gesetzgeberisches Organ der EU stärken. Doch die spieltheoretische Analyse liefert einen anderen Befund: Tatsächlich sind es die EU-Kommission und das EU-Parlament, die im Zusammenspiel der EU-Organe an Einfluss gewonnen haben.


Veröffentlichung:

Stefan Napel and Mika Widgrén,
Strategic versus non-strategic voting power in the EU Council of Ministers: the consultation procedure,
In: Social Choice and Welfare, Online first,
DOI-Bookmark: 10.1007/s00355-010-0502-5

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution4


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Bayreuth, Christian Wißler, 31.01.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2011