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INNEN/550: Berliner Prioritäten - Teil 3 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 20. März 2020
german-foreign-policy.com

Berliner Prioritäten (III)

Britische Studie: Festhalten am Versuch, in der Coronakrise kurzfristige Interessen der Wirtschaft zu wahren, hätte zu Hunderttausenden Todesopfern geführt.


BERLIN - Die EU hat in dieser Woche China bei der Zahl der Covid-19-Infektionen sowie bei der Zahl der Covid-19-Todesfälle überholt. DieZahl der Infizierten lag am gestrigen Donnerstagabend in den 27 EU-Staaten bei 99.152, die Zahl der Todesopfer bei 4.671. China hingegen konnte gestern erstmals bekanntgeben, die Zahl der Neuinfektionen auf Null gesenkt zu haben. Ursache sind unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Pandemie: Während die Volksrepublik wie weitere Staaten Ost- und Südostasiens, etwa Südkorea und Singapur, alles daran setzt, die Ausbreitung des Covid-19-Virus zu stoppen, waren die führenden europäischen Staaten bis vor kurzem darauf aus, im kurzfristigen Interesse ihrer Wirtschaft auf drastische Maßnahmen wie Schulschließungen zu verzichten und die Pandemie lediglich zu verlangsamen. Einer Studie des renommierten Imperial College London zufolge würde das allein im Vereinigten Königreich zu 250.000 Todesopfern führen. Auch Berlin hat einen Kurswechsel eingeleitet, allerdings wertvolle Zeit verloren. Die Folgen wiegen schwer.

Mehr Opfer in der EU als in China

Die EU hat in dieser Woche China bei der Zahl der Infektionen mit dem Covid-19-Virus wie auch bei der Zahl der Covid-19-Todesfälle überholt. Während die Volksrepublik gestern Abend 81.155 Infizierte verzeichnete, von denen 70.535 inzwischen wieder gesundet, 3.249 hingegen verstorben waren, lag die Zahl der Infizierten in der EU bei 99.152, diejenige der Gesundeten bei 5.798, diejenige der Todesopfer bei 4.671.[1] Dabei wurde über eine EU-weite Dunkelziffer in wohl sechsstelliger Höhe diskutiert, auch weil in vielen EU-Ländern - Deutschland inklusive - immer noch zahlreiche Erkrankte nicht getestet werden und sogar bei der Zahl der Todesfälle prinzipielle Unklarheiten nicht ausgeräumt sind. So werden etwa Verstorbene in Italien auf eine mögliche Covid-19-Erkrankung untersucht, während dies in Deutschland zumindest zeitweise nicht der Fall war, was die Statistik klar zugunsten der Bundesrepublik verfälscht. Dies ist auch deshalb keine Marginalie, weil in der deutschen Öffentlichkeit bis heute regelmäßig unterstellt wird, die chinesischen Statistiken seien - im Gegensatz zu den deutschen - geschönt.

Beijings früher Start

Dabei ist die EU - im Unterschied zu China, das gestern erstmals null Neuinfektionen im eigenen Land vermeldete, 34 freilich bei Neuankömmlingen aus dem Ausland - noch längst nicht auf dem Gipfelpunkt der Pandemie angelangt. Das liegt daran, dass die Volksrepublik schon viel früher begonnen hat, die Ausbreitung des Virus mit dramatischen Maßnahmen zu bekämpfen. Als am 23. Januar die Metropole Wuhan abgeriegelt wurde, waren in ganz China 634 Covid-19-Infektionen und 18 Covid-19-Todesfälle bekannt. Das ist der Stand, den Europa am 27. Februar erreichte - vor mehr als drei Wochen, zehn Tage, bevor Italien als erstes Land der EU Ausgangsbeschränkungen einführte und der Bundesgesundheitsminister sich erstmals für Verbote von Großveranstaltungen aussprach. In der Tat hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO schon Ende Februar explizit gefordert, auch die westlichen Staaten sollten entschlossene Maßnahmen starten (german-foreign-policy.com berichtete [2]).

"Zeit gewinnen", "Herdenimmunität"

Tatsächlich hat die Bundesregierung wie andere Staaten Europas - aber im Unterschied nicht nur zu China, sondern auch zu einigen weiteren Staaten Ost- und Südostasiens wie Südkorea und Singapur - zu Beginn dezidiert nicht darauf gesetzt, die Epidemie durch strikte Ausgangsbeschränkungen zu stoppen, sondern lediglich darauf, ihren Verlauf nach Möglichkeit zu verlangsamen. "Es geht um das Gewinnen von Zeit", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel noch am 11. März erklärt und darauf hingewiesen, dass sich nach Schätzungen von Experten voraussichtlich "60 bis 70 Prozent" der Bevölkerung anstecken würden.[3] Die Verlangsamung der Epidemie sei notwendig, um einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Die Strategie, die Infizierung von zwei Dritteln der Bevölkerung hinzunehmen, um eine Art Grundimmunität zu schaffen, ist am offensivsten vom britischen Premierminister Boris Johnson vertreten worden. Darauf hinweisend, die meisten Covid-19-Patienten würden lediglich "eine milde Grippe" erleiden - mit denselben Worten hatten Berliner Regierungsstellen ebenfalls immer wieder das Ausbleiben strikter Maßnahmen rechtfertigt -, war in London regelmäßig von "Herdenimmunität" die Rede.[4] Selten wurde, wie kürzlich von Gesundheitsminister Spahn [5], offen darauf hingewiesen, wer letztlich von der Strategie profitiert: Unternehmen, deren Angestellte weiterhin arbeiten und sich nicht etwa wegen Schulschließungen um ihre Kinder kümmern müssen.

Eine Viertelmillion Tote

Die Strategie, den Verlauf der Pandemie lediglich zu verlangsamen, ist seit Ende vergangener Woche unter dem Druck der eskalierenden Opferzahlen zusammengebrochen. Zur Begründung des Strategiewechsels hin zu dem Versuch, die Ausbreitung des Covid-19-Virus nun doch noch zu stoppen - wenngleich mit großer Verspätung -, ist in den vergangenen Tagen auf eine neue Studie hingewiesen worden, die am renommierten Imperial College London erstellt wurde, dabei aber vor allem bestätigt, wovor die WHO unter Auswertung der Erfahrungen aus China spätestens seit Ende Februar warnt: Unterbleiben strikte Maßnahmen wie etwa Schulschließungen, dann lässt sich ein Massensterben nicht verhindern. Experten des Imperial College London schätzen die Zahl der Covid-19-Todesopfer allein in Großbritannien für diesen Fall auf 250.000.[6] Ausgehend von der zahlenstärkeren Bevölkerung läge sie in Deutschland noch deutlich darüber.

Wertvolle Zeit verloren

Mit ihrem Experiment, zum Nutzen der Wirtschaft auf harte Maßnahmen zum Stopp der Pandemie zu verzichten, haben London, Berlin und weitere westliche Hauptstädte nicht nur zahllose Menschenleben aufs Spiel gesetzt. Sie haben auch einen Zustand herbeigeführt, in dem das Covid-19-Virus stark verbreitet ist und der Versuch, die Pandemie jetzt doch noch zu stoppen, vermutlich erheblich längere Zeit benötigen wird als in China. Auch der Wirtschaft, deren kurzfristigen Interessen Berlin zunächst zu entsprechen suchte, steht nun eine wohl noch schwerere Krise bevor. Der Dax, der sich vor nur einem Monat noch der Schwelle von 14.000 Punkten zu nähern schien, stürzte seit Ende Februar in mehreren Schüben ab und fiel gestern zeitweise unter 8.300 Punkte. Zum ökonomischen Einbruch kommen gravierende außenpolitische Folgen hinzu, deren Ausmaß gleichfalls nicht absehbar ist. Schon jetzt vertiefen sich die Risse in der EU so stark, dass Beobachter den Zerfall der Union nicht mehr ausschließen wollen.[7]

Ins Wanken geraten

Hinzu kommt, dass China - nach der offenbar erfolgreichen Eindämmung der Pandemie - womöglich gestärkt aus der Krise hervorgeht. So hat nach ersten EU-Mitgliedstaaten inzwischen auch die EU-Kommission im Kampf gegen das Covid-19-Virus Hilfe aus Beijing annehmen müssen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich am Mittwoch ausdrücklich beim chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang für eine bevorstehende chinesische Lieferung von zwei Millionen Operationsmasken, 200.000 N95-Schutzmasken sowie 50.000 Covid-19-Testkits bedankt.[8] Die einstige ökonomische und politische Überlegenheit der früheren europäischen Kolonialmächte gerät für alle sichtbar ins Wanken.[9]


Anmerkungen:

[1] Die Zahlenangaben folgen der Statistik der Johns Hopkins University in Baltimore.

[2], [3], [5] S. dazu Berliner Prioritäten
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8214/

[4] Gareth Davies: What is herd immunity and will it stop coronavirus in the UK? telegraph.co.uk 16.03.2020.

[6] Sabine L. van Elsland, Ryan O'Hare: COVID-19: Imperial researchers model likely impact of public health measures. imperial.ac.uk 17.03.2020.

[7] S. dazu Die Solidarität der EU (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8220/

[8] Schutzausrüstung für EU: Von der Leyen dankt China, EU richtet Reserve ein. ec.europa.eu 19.03.2020.

[9] S. auch Die Solidarität der EU
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8218/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2020

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