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SOZIALES/119: Sorgearbeit - Wer sorgt für wen? (spw)


spw - Ausgabe 2/2008 - Heft 162
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wer sorgt für wen?
Eine Analyse des aktuellen Diskurses um die Anerkennung von Sorgearbeit

Von Ute Behning


Endlich ist es soweit! Staat und Gesellschaft machen sich wieder Sorgen darum, wer überhaupt noch für wen sorgen kann. In der vorindustriellen Zeit war es selbstverständlich: Die Betreuung von Kindern, Kranken, Invaliden und Pflegebedürftigen wurde von der Wirtschaftsgemeinschaft getragen, in der sie lebten. Die Industrialisierung führte zur Einführung der außerhäuslichen Lohnarbeit und damit zur Trennung von Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft. Seither steht die Frage im Raum, wer für die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit zuständig ist: die Familie, der Staat oder der Markt. Dieser Beitrag verdeutlicht, warum wir uns derzeit in einem Transformationsprozess der gesellschaftlichen Organisation von Sorgearbeit befinden. Die aktuellen Diskurse über die Anerkennung von Sorgearbeit können nur verstanden werden, wenn sie im Kontext des europäischen Integrationsprozesses betrachtet werden. Diskutiert wird, welche Risiken und Chancen mit dem gesamteuropäischen Wandel von Betreuungsmodellen verbunden sind. Anhand der Unterscheidung wohlfahrtsstaatlicher Betreuungsmodelle und ihrer Veränderung unter Einfluß der ökonomischen Integration in Europa, wird gezeigt, wie die sozialdemokratischen Parteien in der Europäischen Union (EU) versuchten, der ökonomischen Integration eine soziale Integration folgen zu lassen. Zudem wird abschließend der mögliche Einfluss der aktuellen europäischen Entwicklungen im Bereich des Sozialen auf die europäischen Betreuungsmodelle untersucht.


Betreuungsmodelle in Europa

Die kontinental-europäischen Sozialstaaten, zu denen z.B. die Bundesrepublik Deutschland, Italien und Österreich zählten, delegierten die Sorgearbeit an Ehefrauen. Sie sollten keiner Erwerbsarbeit nachgehen und erhielten für ihre häusliche Arbeit keinen Lohn. Hingegen erwirtschafteten (Ehe-) Männer durch ihre Erwerbsarbeit einen sog. Familienlohn, der es ihnen erlaubte, Ehefrau und Kinder zu ernähren. Sorgearbeit wurde innerhalb der Familie organisiert und über die sozialstaatliche Subventionierung der Lebensformen 'Ehe' abgesichert. Dies geschah auf Kosten von Frauen und alleinerziehenden Müttern.

In den östlichen Wohlfahrtsstaaten Europas, zu denen auch die DDR gehörte, setzte sich ein anderes Modell durch. Beide, Frau und Mann, gingen einer Erwerbsarbeit nach. Betreuungsarbeit wurde vom Staat organisiert und finanziert: Krippen, Horte und Feierabendheime gehörten zur Normalität. Sie ermöglichten die Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern im erwerbsfähigen Alter. Allerdings waren die Lohnniveaus in den sozialistischen Staaten im Vergleich zu denen im Westen sehr viel niedriger. Einer ausgeprägten Benachteiligung von Frauen wurde entgegen gewirkt.

In den liberalen Wohlfahrtsstaaten, zu denen Großbritannien und Irland gerechnet wurden, stand die soziale Absicherung von Erwerbsarbeitenden nicht besonders hoch im Kurs. Die Organisation von Sorgearbeit wurde dem Markt überlassen. Auf dem Markt erwirtschaftete Einkommen entschieden darüber, ob und welche Qualität von Dienstleistungen gekauft und angeboten werden konnten; dazu zählten Kinderbetreuungs-, Schul-, universitäre Ausbildungs- und (Alten-) Pflegeangebote. Die Organisation von Sorgearbeit war vom Geldbeutel abhängig und führte zur Ausbildung von sozialen Betreuungsklassen.

Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten wählten einen marktwirtschaftlich finanzierten und staatlich organisierten Pfad. Frauen und Männer waren erwerbstätig und erwirtschaften hohe Einkommen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlten an den Staat hohe Steuern. Sie wurden genutzt, um in öffentlichen Einrichtungen ein qualitativ hohes Sorgearbeitsangebot für alle Gesellschaftsmitglieder zur Verfügung zu stellen. Das zeitliche Angebot professioneller Kinderbetreuungs- und (Alten-) Pflegeeinrichtungen wurde den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst. So konnten alle erwerbsfähigen Familienmitglieder der Wirtschaft zur Verfügung stehen. Dieses Betreuungsmodell führte zu einer weitreichenden Gleichstellung der Geschlechter und sorgte für eine weitgehende Chancengleichheit aller Gesellschaftsmitglieder.


Ökonomische Integration

Nach der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und der Osterweiterung stellt die EU die weltweit größte Freihandelszone dar, die es für global agierenden Unternehmen attraktiv macht, in den Wirtschaftsstandort EU zu investieren - so sie Absatzmärkte für ihre Produkte in der EU verorten. Allerdings traten die 27 Mitgliedsstaaten der EU nicht mit den gleichen Voraussetzungen an. Im EU-internen Wirtschaftsstandortwettbewerb boten die Betreuungsmodelle osteuropäischer Mitgliedstaaten den Unternehmern die besten Voraussetzungen. Sorgearbeit wurde als staatliche Aufgabe betrachtet, für deren Finanzierung der Staat zuständig ist. Gleichzeitig waren ihre Lohnniveaus, Steuer- und Sozialabgabensätze niedrig. Den zweiten Rang bekleideten die Betreuungsmodelle der liberalen Wohlfahrtsstaaten. Auch hier hatten Unternehmen keine Kosten für Sorgearbeit zu leisten. Die Steuer- und Sozialabgabensätze waren niedrig, doch ihre Lohnniveaus höher als die der osteuropäischen Staaten. Den dritten Rang nahmen die kontinental-europäischen Wohlfahrtsstaaten ein. Ihre Steuer- und Sozialabgabensätze bewegten sich auf einem mittleren Niveau, aber ihre Lohnniveaus waren auf Grund des Familienlohnmodells hoch. Dies wurde nur noch durch die skandinavischen Wohlfahrtstaaten überboten, in denen hohe Lohnniveaus mit hohen Steuersätzen in Kombination auftraten.

Um im EU-internen Wirtschaftsstandortwettbewerb bestehen zu können, waren alle EU-Mitgliedstaaten gezwungen, nationale Reformen durchzufahren. Die osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten mussten daran interessiert sein, ihre niedrigen Lohnniveaus, Steuer- und Sozialabgabensätze unterhalb derer der alten Mitgliedstaaten zu halten. Die liberalen Wohlfahrtsstaaten senkten insbesondere ihre Lohnniveaus ab.Auch in den kontinental-europäischen und skandinavischen Wohlfahrtsstaaten wurden die Reallöhne über ein Jahrzehnt nicht angepasst und die Steuer- und Sozialabgabensätze für Unternehmen gesenkt.


Konsequenzen und Szenarien

All dies blieb nicht ohne Konsequenzen. Die Osteuropäer können ihr Betreuungsmodell von ihren staatlichen Einnahmen nicht mehr finanzieren, was die marktwirtschaftliche Freisetzung ihrer Sorgearbeitenden zur Folge hat. In den liberalen Wohlfahrtsstaaten ist die marktwirtschaftlich zu erwerbende Betreuungsarbeit nur noch für wenige erschwinglich; sie sind auf familiäre und nachbarschaftliche Hilfen sowie die Lohnarbeit aller erwerbsfähigen Frauen und Männer angewiesen. Auch in den kontinental-europäischen Sozialstaaten reicht der Erwerbsarbeitslohn eines Ehemannes nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren. Daher müssen Frau und Mann erwerbstätig sein, was zum Zusammenbruch des familiären Betreuungsmodells führte. Am wenigsten beeinträchtigt wurde das skandinavische Betreuungsmodell. Dennoch gibt es Einbußen im Hinblick auf Qualitätsstandards außerhäuslicher Betreuungsangebote und deren Professionalisierung aufgrund von Sparzwängen.

In ihrer Gesamtheit führten die beschriebenen Entwicklungen zu grundlegenden Finanzierungskrisen aller Wohlfahrtsstaaten in der EU. Weitreichendere Szenarien zeichnen sich bereits am Horizont ab: Für gut ausgebildete Fachkräfte besteht in der EU aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit kein Mobilitätshindernis. Mit den Unternehmen können auch die qualifizierten Fachkräfte jeweils in den Mitgliedstaat der EU weiter ziehen, der gerade die günstigsten Konditionen anbietet (Stichwort: Nokia). Außerdem ermöglicht die Dienstleistungsfreiheit in der EU, dass Betreuungsarbeitende aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten in den westeuropäischen Mitgliedstaaten zu osteuropäischen Löhnen arbeiten (Stichwort: McPflege). Obwohl das damit verbundene gegenseitige bessere Kennenlernen zu begrüßen ist,wird das 'Nomadenleben' zur weiteren Aushöhlung von familiären und gemeinschaftlichen Bindungen sowie dem weiteren Voranschreiten der Lohndrückerei führen. Nationale Mindestlöhne sind hier zwar notwendige, aber nur kurzfristig wirksame Pflaster.


Soziale Integration

Dass diese Szenarien keine Perspektiven bieten, haben die sozialdemokratischen Parteien in der EU bereits Mitte der 1990er Jahre erkannt. Seither arbeiten sie gemeinsam an einer solidarischen Vision, die dem gegenseitigem Unterbietungswettbewerb von Löhnen, Steuer- und Sozialabgaben aller EU-Mitgliedstaaten Einhalt gebietet. Seit Ende der 1990er Jahre, dem Moment, in dem nach fast 20 Jahren wieder sozialdemokratische Regierungen die Mehrheit im Europäischen Rat stellten, setzen sie sich konsequent für eine soziale Integration ein.

Ein überwiegend parlamentarisch bestellter Konvent erarbeitete unter dem Vorsitz von Roman Herzog (CDU) eine EU-Grundrechtscharta. Mit dem Kapitel "Solidarität", das soziale EU-Grundrechte festschreibt, wurde die Basis für den Aufbau eines sozial-solidarischen Europas gelegt. Die Grundrechtscharta sollte im Dezember 2000 zusammen mit dem Vertrag von Nizza von allen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet werden, wurde dann aber nur deklariert. Daraufhin wurde der Verfassungskonvent einberufen. Die Grundrechtscharta bildet Teil II der Verfassung der Europäischen Union. Doch auch die EU-Verfassung wurde im Jahr 2005 nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert.

Derzeit besteht die Möglichkeit der freiwilligen Koordinierung aller mitgliedstaatlichen Sozialpolitiken. Die 'Methode der offenen Koordinierung' wird seit dem Jahr 2000 praktiziert; die osteuropäischen Mitgliedstaaten nehmen seit 2001 daran teil. Diese Form des europäischen Regierens, die die Verabschiedung von Gesetzen den Mitgliedsstaaten überlässt, ist auch von der Großen Koalition unter Angela Merkel (CDU) fortgesetzt worden. Ziel der gemeinschaftlichen Koordinierungspolitiken sind europäische Vereinbarungen über national durchzuführende Sozialstaatsreformen, die den sozialen Unterbietungswettbewerb stoppen und die wohlfahrtsstaatlichen Finanzierungskrisen eindämmen sollen; Beispiele sind die "Rente mit 67" und der Ausbau von Krippenplätzen.

Mit dem Vertrag von Lissabon wird nun der dritte Versuch unternommen, soziale EU-Grundrechte zu verankern. Außerdem verändert er die politischen Entscheidungsstrukturen. Ausschlaggebend ist, dass

(a) europäische Koordinierungspolitiken im Bereich des Sozialen nun zu rechtsverbindlichen Rahmenentscheidungen führen und

(b) den Bürgerinnen und Bürgern die einzelnen Schritte der gesamteuropäischen Koordinierungspolitiken durch die nationalen Parlamente besser vermittelt werden können. Damit ist die demokratische Beteiligungam gesamteuropäischen Ausgestaltungsprozess eines europäischen Sozialstaatsmodells für alle Unionsbürgerinnen und -bürger in den Bereich des Möglichen gerückt.


Europäischer Transformationsprozess

Derzeit befinden wir uns in einer Transformationsphase. Verabschieden müssen wir uns von nationalstaatlichen Gewissheiten. Heute geht es darum, den europäischen Integrationsprozess im Bereich des Sozialen aktiv mitzugestalten. Die aus dem Gleichgewicht geratenen sozialen Systeme der Mitgliedstaaten bedürfen der koordinierten europaweiten Restrukturierung. Um die Restrukturierungen sozial auszugestalten, sind starke Bewegungen und Verbände notwendig, die sich an der Seite von Parteien konstruktiv und verantwortlich am Transformationsprozess beteiligen. Gleichzeitig bedarf es verantwortlicher Unternehmen und kompromissbereiter Arbeitgeberverbände, die sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe und dem langfristigen Profit verschreiben.

Dazu gehören auch Debatten um die Ausgestaltung eines europäischen Betreuungsmodells. Aus historischer Perspektive steht für die Mitglieder der kontinental-europäischen und skandinavischen Wohlfahrtsstaaten außer Zweifel, dass die in der EU aktive Wirtschaft auch für die Finanzierung der gesellschaftlich notwendigen Sorgearbeit Sorge zutragen hat. Die Mitglieder der osteuropäischen und liberalen Wohlfahrtsstaaten müssen wir erst noch davon überzeugen. Gute Argumente sind die Stärkung familiärer und gemeinschaftlicher Bindungen vorort sowie eine europäische Gesellschaft, die allen die gleichen Chancen bietet. Eine kollektive Entscheidung für ein europäisches Betreuungsmodell, das Frauen und Männer nicht nur im Bereich der Erwerbsarbeit, sondern auch im Bereich der Verteilung von Sorgearbeit gleichgestellt und ihnen dafür finanziell abgesicherte Freiräume schafft, ist ein Bedürfnis, das die jüngeren Generationen verbindet und den älteren Generationen zu Gute kommt.


Dr. Ute Behning, geb. 1965, ist Gründungsdirektorin des Institutes für europäische Wohlfahrtssystemforschung, Bremen.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2008, Heft 162, Seite 17 bis 20
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2008