Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

SOZIALES/155: Europas Bürger halten zusammen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 140/Juni 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Europas Bürger halten zusammen
Gleichheitsvorstellungen leiden nicht unter der Krise

von Jürgen Gerhards und Holger Lengfeld



Kurz gefasst: Die Krise der Europäischen Union stellt die Solidarität der Bürger der Mitgliedsländer auf eine schwere Probe. Anders als die veröffentlichte Meinung unterstellt, ist die Sozialintegration Europas weit vorangeschritten. Die Menschen gestehen anderen EU-Bürgern weitestgehend die gleichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte zu wie den eigenen Staatsbürgern. Anders sieht es beim Beitrittskandidaten Türkei aus: Die Mehrzahl der türkischen Befragten lehnt die Idee der europäisierten Gleichheit ab. Die Ergebnisse bezüglich der Mitgliedsländer der EU stimmen aber insgesamt optimistisch im Hinblick auf die Bewältigung der gegenwärtigen Krise.


Die Staatsschuldenkrise stellt die Europäische Union vor eine der schwersten Bewährungsproben seit ihrer Gründung; ein Auseinanderbrechen der Union scheint nicht völlig ausgeschlossen. Paradoxerweise führt der eingeschlagene Weg der Krisenbewältigung in Form von fiskalischen Rettungsschirmen, Hilfsmaßnahmen und Auflagen für die verschuldeten Länder aber nicht zu einem Weniger, sondern zu einem Mehr an Europa: Die wohlhabenden Mitglieder der Euro-Zone stellen enorme Finanzmittel in Form von Krediten und Ausfallbürgschaften zur Verfügung, die in die hochverschuldeten Länder fließen. Selbst wenn die Geberländer dabei auch an ihren Eigennutz denken, müssen die Finanzmittel von ihren Steuerbürgern aufgebracht werden. Insofern handelt es sich bei den europäischen Stabilitätsmechanismen um eine bis dahin nicht gekannte innereuropäische Umverteilung von Ressourcen und damit um eine Bekundung von grenzüberschreitender Solidarität.

Bei den Entscheidungen über dreistellige Milliardenbeträge wurden die Bürger Europas nicht oder nur über ihre nationalen Parlamente beteiligt. Tragen sie diese Praxis einer europäischen Solidargemeinschaft überhaupt mit und betrachten sich die EU-Bürger über Ländergrenzen hinweg als Gleiche?

Ob sie dies tun oder ob sie weiterhin einem nationalstaatlichen Partikularismus anhängen, der keine europäische Gemeinschaft, sondern nur nationale Gemeinschaften kennt, haben wir in einem jüngst abgeschlossenen Forschungsprojekt untersucht.

Ausgangspunkt unserer Forschung ist die Annahme, dass der zentrale Mechanismus der sozialen Integration Europas das Recht ist. Der britische Soziologe Thomas H. Marshall unterscheidet zwischen zivilen, sozialen und politischen Rechten. Die EU hat die vormals allein den Nationalbürgern zustehenden Rechte in allen drei Bereichen Schritt für Schritt europäisiert: Alle EU-Bürger haben Zugang zu allen europäischen Arbeitsmärkten und damit verbunden zu den jeweiligen nationalen sozialen Sicherungssystemen. Zudem besitzen sie das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene und können sich so politisch am Geschehen in einem anderen EU-Land beteiligen. Mit der Zubilligung dieser Rechte ist die Idee der europäisierten Gleichheit zum EU-weiten Rechtsanspruch geworden.

Entscheidend für eine gelungene europäische Sozialintegration ist es nun, ob und inwieweit die europäisierte Gleichheitsidee auch bei den Bürgern Zustimmung findet. Dies haben wir auf der Basis einer Umfrage in den drei EU-Mitgliedsländern Deutschland, Polen und Spanien sowie dem Beitrittsland Türkei untersucht. Die Ergebnisse der stichprobenkontrollierten Befragungen unter 4.000 wahlberechtigten Bürgern im Jahr 2009 fallen überraschend positiv aus (siehe Tabelle).

Zustimmung zur europäischen Gleichheit in drei Rechtsbereichen (in 
 Prozent)


Zugang zum
Arbeitsmarkt
Politische Rechte
aktives Wahlrecht
Politische Rechte
passives Wahlrecht
Soziale Rechte

Deutschland
Spanien
Polen
Türkei
73,9
72,9
74,1
31,1
66,4
68,5
59,5
35,4
58,2
61,2
47,9
23,7
66,9
77,3
79,0
55,6


In allen drei genannten Rechtsbereichen erkennen sich die Bürger in diesen Ländern in hohem Maße als Gleiche an. Residenz und nicht Staatsbürgerschaft ist für die Mehrzahl der Befragten das Kriterium, um darüber zu entscheiden, wer am gesellschaftlichen Leben ihres Landes teilhaben darf. Die Idee der europäisierten Gleichheit scheint im Wertehaushalt der Bürger Europas damit gut verankert zu sein. Die Unterschiede im Ausmaß der Zustimmung zwischen den Ländern sind relativ gering; Polen, Spanier und Deutsche billigen sich außerdem gegenseitig in ähnlichem Ausmaß Gleichheitsrechte zu.

Anders sieht es beim Beitrittskandidaten Türkei aus. Die türkischen Befragten lehnen die Idee der europäisierten Gleichheit überwiegend ab. Nur für die Idee der Gleichbehandlung im Hinblick auf den Sozialleistungsbezug findet sich in der Türkei eine knappe Mehrheit an Befürwortern. Anders als die EU-Bürger bleiben die Türken damit mehrheitlich einem nationalistischen Konzept von Gleichheit verhaftet, das die eigenen Staatsbürger gegenüber den EU-Bürgern bevorzugt.

Die mehrheitliche Akzeptanz der Gleichheitsidee ist aber noch nicht ausreichend, um von einer gelungenen europäischen Sozialintegration zu sprechen. Neben den hohen Zustimmungsraten sollten auch diejenigen, die sich gegen eine Öffnung ihres jeweiligen Nationalstaats aussprechen, keine politisch mobilisierbaren Minderheiten bilden, die den weiteren Prozess der europäischen Sozialintegration behindern oder aufhalten können. Unsere Analysen zeigen, dass auch dies nicht der Fall ist: Die potenziellen Gegner der europäisierten Gleichheit lassen sich in geringem Maße zum Beispiel durch ihre Klassenlage, ihren Bildungsstand oder ihre gesellschafts- und politikbezogenen Wertvorstellungen bestimmen; entsprechend schätzen wir die Mobilisierungsfähigkeit der Gegner eines Europas der Bürger als eher gering ein. Schließlich zeigt unsere Umfrage, dass die Befürworter der europäisierten Gleichheit ihrem Denken auch im Alltag Folge leisten. Ein Beispiel: Vor den hypothetischen Fall einer Autoreparatur gestellt, entschied sich die deutliche Mehrheit in den EU-Ländern nicht allein für einen nationalen Dienstleister, sondern würde auch eine im jeweiligen Umfrageland niedergelassene ausländische Werkstatt in Anspruch nehmen. In der Türkei hingegen würde die klare Mehrheit nur eine türkische Firma beauftragen, selbst wenn das deutlich teurer wäre.

Was bedeutet dies für unsere Ausgangsfrage nach der Akzeptanz der derzeitigen Krisenpolitik der EU? Insgesamt stimmen die Befunde optimistisch. Der Grad der Sozialintegration Europas ist relativ hoch. Die Befragten der von uns untersuchten EU-Länder konstituieren weitestgehend ein europäisches Volk. Auch wenn die Bürger Europas bei den beschlossenen Rettungsschirmen nicht nach ihrer Meinung gefragt wurden, scheinen die kulturellen Bedingungen für eine fiskalpolitische Solidarunion günstiger zu sein, als die öffentliche Debatte suggeriert.

Dieser Schluss wird durch eine weitere von uns jüngst durchgeführte Umfragestudie erhärtet. Im Juli 2012 sprachen sich zum Beispiel 50 Prozent der befragten Deutschen für Unterstützungszahlungen an notleidende EU-Länder aus. Auf konkrete Empfängerländer wie Irland, Griechenland, Italien oder Spanien angesprochen, unterstützen sogar bis zu drei Viertel der Bürger die EU-Hilfsmaßnahmen. Zudem wären bis zu 43 Prozent der Deutschen bereit, 0,5 Prozent ihres eigenen Einkommens, mindestens aber fünf Euro monatlich zu zahlen, um den verschuldeten Staaten zu helfen.

Allerdings: Die Solidarität innerhalb Europas erfolgt nicht ohne Bedingungen. Zum einen möchten die Menschen sichergestellt wissen, dass es keinen Missbrauch der Hilfsmittel gibt. Die Gelder sollen zu Strukturreformen eingesetzt werden, sodass es die realistische Chance einer Rückzahlung dieser Hilfen geben kann. Zum anderen sind die Menschen mehrheitlich der Auffassung, dass die Banken und Finanzjongleure als Mitverursacher der Krise und diejenigen, die über ein exorbitant hohes Einkommen verfügen, stärker kontrolliert und in die Pflicht genommen werden sollen. Hier deutet sich eine europaweite Konfliktlinie an, die nicht zwischen den verschiedenen Nationalstaaten (zum Beispiel Deutschland versus Griechenland) verläuft, sondern zwischen einer kleinen transnationalen Klasse vor allem aus dem Banken- und Finanzsektor einerseits und den Bürgern Europas andererseits. Die Tatsache, dass diese Konfliktlinienstruktur quer zu den Nationalstaaten verläuft, ist dabei eine Chance für die Politik, die Sozialintegration der Bürger Europas in der Krise sogar zu stärken. Angesichts dieser Befunde möchte man den europäischen Eliten mehr Mut zusprechen, trotz der dramatischen Krise das europäische Projekt durch eine weitere Vertiefung und Demokratisierung voranzutreiben und keine Angst vor zu großen Renationalisierungstendenzen zu haben.


Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie und geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie der Freien Universität Berlin. Er ist WZB-Fellow und war 2012 Karl W. Deutsch-Professor am WZB.
j.gerhards@fu-berlin.de

Holger Lengfeld ist Professor für Soziologie an der Universität Hamburg und dort Leiter des Fachbereichs Sozialökonomie.
holger.lengfeld@wiso.uni-hamburg.de



Literatur

Gerhards, Jürgen/Lengfeld, Holger: Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger. Wiesbaden: Springer VS 2013.

Lengfeld, Holger/Schmidt, Sara/Häuberer, Julia: "Solidarität in der europäischen Fiskalkrise: Sind die EU-Bürger zu finanzieller Unterstützung von hoch verschuldeten EU-Ländern bereit?", Hamburg Reports on Contemporary Societies No. 5/2012, online:
http://www.wiso.uni-hamburg.de/fileadmin/sozialoekonomie/lengfeld/HRCS_5_2012.pdf
(Stand: 22.03.2013).

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 140, Juni 2013, Seite 30 - 32
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2013