Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

WIRTSCHAFT/064: Zukunft des sozialen Europa in globalisierter Ökonomie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2007

Die Zukunft des sozialen Europa in einer globalisierten Ökonomie

Von Karl Aiginger


Das Projekt Europa ist trotz Verfassungskrise, kurzfristiger Enttäuschungen und unterschiedlicher Position zur Irakfrage, trotz der Legitimations- und Demokratiedefizite in der EU politisch ein historischer Erfolg. Immer mehr Länder bewerben sich um die Mitgliedschaft. Der EURO ist eingeführt und erfolgreich. Die friedenschaffende Wirkung ist unumkehrbar, es hat 60 Jahre auf dem Gebiet der Eu keinen Krieg gegeben. Die Existenz der Eu alleine und ihre Politik entschärft Konflikte und Krisengebiete, vom "Südtirolproblem" über die Balkanregion bis in die Türkei. Menschenrechte werden nun doch schrittweise geachtet, Kriegsverbrecher manchmal ausgeliefert, vielleicht sogar Häfen für "feindliche Schiffe" geöffnet, weil das die Chancen erhöht, der Eu beitreten zu können. Aber die wirtschaftliche Dynamik ist enttäuschend. Das Wachstum ist niedrig, die Arbeitslosigkeit stetig hoch, die Binnennachfrage springt erst 2006 nach mehr als zehn Jahren Unterbrechung an. Die Budgetdefizite bleiben auch im "besten Jahr" der Weltkonjunktur knapp an der Alarmgrenze. Infrastrukturprojekte verzögern sich. Und damit stellt sich die Frage nach der richtigen Wirtschaftspolitik und nach dem anzustrebenden Wirtschafts- und Sozialmodell.


Durchwachsene, zuletzt enttäuschende wirtschaftliche Bilanz

Die enttäuschende wirtschaftliche Dynamik Europas ist nicht eine Folge des Binnenmarktes und der europäischen Einigung. Ohne Integration und ohne Erweiterung wären Strukturen nicht aufgebrochen, Reformen und Marktöffnung nicht erfolgt, und die zukünftigen Probleme wären noch wesentlich größer. Die Einkommen wären europaweit nach Ländern unterschiedlicher, der Rückstand des Südens und des Ostens wäre größer, und die kleinen Länder hätten schlechtere Leistungsindikatoren als die großen, während sie in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt rascher wuchsen als in den drei großen kontinentalen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien). Nationale Monopole z.B. im Telekombereich würden weiter dominieren, die Landwirtschaft bekäme weniger ökologisch orientierte Subventionen, die Internationalität und Qualität der Ausbildung ließe (noch mehr) zu wünschen übrig, die Mobilität der Europäer wäre geringer.

Die Wachstumsbilanz der EU muss in zwei Perioden unterteilt werden. Die ersten 35 Jahre der europäischen Integration sind ein beeindruckender Erfolg. Europa ist stärker gewachsen als die Weltwirtschaft und hat den Produktivitätsvorsprung der USA fast eingeholt. Europäische Firmen haben in der Luft- und Raumfahrt mit den USA gleichgezogen. DAIMLER-CHRYSLER ist erfolgreicher als die großen amerikanischen Autokonzerne (wenn auch weniger erfolgreich als die japanischen Konzerne). Die Arbeitslosenquote lag lange Zeit in Europa niedriger als in den USA, die Beschäftigungsquote höher.

In den letzten 15 Jahren ist das Wachstum Europas verflacht und die Arbeitslosigkeit gestiegen. Eine Arbeitslosenquote von 8% (EU 15) bzw. 8,7% (EU 25) und eine Gesamtzahl der Arbeitslosen von 14 Mio. (EU 15) und 19 Mio. (EU 25) sind keine akzeptable Bilanz. Finanzanleger investieren heute lieber in den USA, weil dort die Renditen höher sind und die Firmen besser kontrolliert werden. Selbst europäische Firmen zögern bei jeder Kapazitätserweiterung in Europa. Gewinnerhöhungen, die in Europa erarbeitet werden, werden zur Absicherung des europäischen Standortes verlangt, benötigt und akzeptiert, nicht aber für Ausweitungen und Wachstum genützt. Die europäische Integration wird erst als wirtschaftlicher Erfolg zu werten sein, wenn die Einkommen auf breiter Front steigen und die Arbeitslosigkeit sinkt.


Ist das Europäische Modell konkurrenzfähig?

Es gibt Analytiker, die die Ursache für die europäische Wachstumsschwäche in dem umfassenden Sozialnetz, den hohen Löhnen, dem starken Einfluss des Staates und den Umweltauflagen sehen. An diesem Argument stimmt, dass Kosten und bürokratische Verzögerungen in einer integrierten und globalisierten Wirtschaft durch das Auftreten neuer Konkurrenten schwerer wiegen als in den ruhigeren Perioden. Aber das Sozialnetz hat auch Vorteile rein ökonomischer Art, es bringt Sicherheit und erhöht den Konsum und die Lernbereitschaft, reduziert Armut und Arbeitslosigkeit. Zäune, Sicherheitsanlagen, Gefängnisse, Kriminalität sind auch volkswirtschaftlich Kosten. Dennoch müssen wir zugestehen, dass die Dynamik von Produktion, Beschäftigung und Produktivität seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA höher ist als in Europa und die Frage zulassen, ob das Europäische Modell gegenüber den USA konkurrenzfähig ist.


Erfolgreiche Länder sind soziale und ökologische Vorreiter

Gegen eine Wachstumsblockade durch das Europäische Modell spricht, dass die in den letzten Jahren erfolgreichsten europäischen Länder Schweden, Finnland, Dänemark Wohlfahrtsstaaten sind. Alle drei Länder haben ein hohes Sozialniveau und geben der Umwelt einen hohen Stellenwert. Und sie haben in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ein höheres Wachstum, höhere Beschäftigungsquoten, niedrigere Arbeitslosigkeit, Budgets weisen Überschüsse auf, die Wettbewerbsfähigkeit ist auch im Technologie- und Qualitätsbereich gegeben, und Globalisierung wird nicht als Bedrohung sondern als Chance gesehen. Die gute Performance der skandinavischen Länder ist vor allem deswegen interessant, weil der Erfolg z.B. in Schweden erst nach langen Krisen, oftmaligen Abwertungen und dem fast völligen Verlust des Vorsprungs im Pro-Kopf-Einkommen gegenüber dem europäischen Durchschnitt eintrat.


Fünf Reformelemente im skandinavischen Modell

In meiner Interpretation hat der Erfolg der skandinavischen Länder fünf wichtige Elemente:

(1) Ausgewogene und gesteuerte Flexibilität:

Firmen benötigen zur Anpassung an neue Technologien, Markt- und Nachfrageschwankungen Flexibilität, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen benötigen für Ausbildung, Weiterbildung und zur Nutzung von Konsum und Lebenschancen eine gewisse Sicherheit.

Diese Kombination ging unter dem Schlagwort Flexicurity in die Literatur ein. Dänische Firmen können zum Beispiel leicht kündigen, Arbeitnehmer erhalten hohe Ersatzraten, effiziente Neuvermittlung und Requalifikation. Teilzeit ist ein Wahlrecht mit Sozialleistungen und Rückkehrrecht bzw. Vorrang bei Vollzeitarbeitsplätzen.

(2) Effiziente Arbeitsanreize und Training:

Die Löhne sind auch für gering Qualifizierte attraktiv und werden aufgebessert, zumindest indem der Unterschied zwischen Brutto- und Nettolohn gering gehalten wird.

Training und Weiterbildung ist auch für Arbeitslose und Teilzeitbeschäftigte zugänglich, und eine Eigenleistung wird als Grundlage für dauerhafte Sozialleistungen verlangt. Das Verlassen eines Auffangschemas ist günstiger als das Verbleiben. Arbeitsmarktvermittlung ist zwingend, effizient und hat ein hohes Prestige.

(3) Disziplin und Qualität der Staatsfinanzen:

Die Budgets sind ausgeglichen, in der Regel ist dieser Zustand schrittweise und gezielt durch Grenzen bei den Ausgaben erreicht worden. Alle drei Länder haben mittelfristige Budgetüberschüsse. Die Staatsausgaben sind relativ zu anderen Ländern anteilig am BIP hoch, aber gegenüber dem Höhepunkt deutlich gesunken (15 Prozentpunkte in Schweden und Finnland, zehn Prozentpunkte in Dänemark).

Die prinzipiell hohe Steuerlast ist niedriger für Unternehmer (duales Steuersystem) und für niedrige Einkommensbezieher, höher für hohe Einkommen, Vermögen und Ressourcenverbrauch werden besteuert. Die Ausgaben begünstigen den Sozial- und Gesundheitssektor und die Zukunftsinvestitionen (Innovation, Bildung, Weiterbildung).

(4) Forcierung der technologischen und bildungsmäßigen Exzellenz:

Die Forschungsquote ist hoch, ebenso Quantität und Qualität der Ausbildung und der Weiterbildung. In den neuen Technologien wird die Spitzenposition erreicht bzw. angestrebt.

Die Ausgaben für Zukunftsinvestitionen (Ausbildung, Forschung, neue Technologien) sind um 50% höher als im europäischen Durchschnitt. Sie übertreffen die Lissabonziele und erreichen einen ebenso hohen Anteil des BIP wie in den USA.

(5) Konsistente, konsensuale und langfristige Strategie:

Die Strategie wird von Regierung, Sozialpartnern und Experten entworfen und unterstützt, sie wird dauerhaft verfolgt und ändert sich nur wenig bei Regierungswechsel. Die ökologischen und sozialen Komponenten sind Bestandteile des Systems. Die Bereitschaft und Freude an Veränderungen ist gegeben, Reformen sind positiv und nicht durch Drohungen motiviert.


Das neue europäische Modell des reformierten Wohlfahrtsstaates

Die Einführung des EURO erforderte eine Schuldenbremse in den Ländern mit hohem Defizit und Disziplin in den großen Ländern, um die Währung glaubwürdig zu machen. Und bisher fehlt der Mut, diese restriktive Makrosteuerung für beendet und Wachstum zur ersten Priorität zu erklären. Zweitens hat Deutschland durch die Wiedervereinigung besonders große Lasten zu tragen gehabt. Allerdings hatte das Ausbildungssystem schon vorher Schwächen gezeigt und das Land mit den höchsten Löhnen hatte ein beträchtliches und wachsendes Defizit im Hochtechnologiebereich. Liberalisierung und Privatisierung durch das Binnenmarktprogramm bringen langfristig Wachstum und Jobs, kurzfristig kosten sie Arbeitsplätze und hätten besser funktioniert bei einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik. Und die dritte Komponente der Wirtschaftspolitik, die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Innovation, Topausbildung und Weiterbildung wurde immer wieder hinausgeschoben. Die USA geben für Forschung, Ausbildung und moderne Technologien um 50% mehr aus als Europa, ebenso wie die skandinavischen Länder. Der Gipfel von Luxemburg hat Schritte in die richtige Richtung gesetzt, den Stabilitätspakt gelockert, die Liberalisierung der Dienstleistungen wird noch einmal nachadjustiert, die Aktivstrategie soll in "Nationalen Lissabon-Plänen" reaktiviert werden. Aber seither ist wieder viel Zeit verstrichen, ohne dass die Innovationsausgaben deutlich gestiegen sind und die Ausbildungssysteme reformiert wurden. Die europäischen Infrastrukturprojekte dümpeln dahin. Die gute Konjunktur des Jahres 2006 wird in den meisten Ländern nicht für Strukturinvestitionen und Zukunftsausgaben genutzt.

Europa darf nicht und muss nicht das amerikanische Modell kopieren. Europa kann von Amerika lernen, dass flexible Wirtschaften Arbeitsplätze schaffen, und wird moderne Technologien rasch implementieren, wenn genügend in die Zukunft investiert wird. Wir können und müssen von den skandinavischen Ländern lernen, dass Wohlfahrtsstaaten so reformiert werden können, dass sie flexibel werden und in der globalisierten Welt wettbewerbsfähig sind. Das neue europäische Modell ist nicht das alte, es hat drei Adjektive: effizient, sozial und ökologisch. Wer das erste Adjektiv vergisst, verrät das zweite und das dritte. Ein europäisches Modell des reformierten Wohlfahrtsstaates - kostenbewusst, anreizoptimierend, wachstumsorientiert - ist konkurrenzfähig und kombiniert Einkommen, soziale Sicherheit und ökologische Verantwortung.

Ein zentrales Element der Wirtschaftspolitik auf europäischer wie auf nationaler Ebene muss es sein, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Bei einem Wachstum von 2% gibt es keine Chance auf ein Sinken der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig befriedigendem, die Konkurrenzfähigkeit gewährleistenden Produktivitätsanstieg. Dies gilt besonders für Länder, in denen das Arbeitsangebot steigt (wie in Österreich). Das Wachstum kann nur dann erhöht werden, wenn angebotsseitige und nachfrageseitige Strategieelemente verfolgt und durch flexibilisierende und absichernde Strategieelemente ergänzt werden (siehe WIFO-Weißbuch, 2006). Mikroökonomische Flexibilität kann besser erreicht werden in einem Klima der Partnerschaft sowie bei wachstumsfreundlicher Wirtschaftspolitik. Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist unter diesen Bedingungen kein Hindernis für den Wirtschaftserfolg, sondern kann eine Produktivkraft sein.


(Karl Aiginger (*1948) ist seit 2005 Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Professor für Volkswirtschaft an der JOHANNES-KEPLER-UNIVERSITÄT Linz. karl.aiginger@wifo.ac.at)


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2007, S. 52-55
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 93 58-19, -20, -21, Fax: 030/26 93 58-55
Internet: www.ng-fh.de

Das NF/FH erscheint monatlich.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2007