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WIRTSCHAFT/070: Küstenmanagement - Tourismus gegen Tourismus (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Dezember 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Küstenmanagement - Tourismus gegen Tourismus

Von Matthieu Lethé


Auf dem weltweiten Tourismusmarkt nimmt die Europäische Union eine zentrale Stellung ein. Die rund 458 Millionen Besucher, die jedes Jahr über die Gebiete ihrer Mitgliedstaaten hereinbrechen, sind unbestreitbar ein Motor der Wirtschaft: fünf Prozent des europäischen BIP stammen direkt und zehn Prozent indirekt aus dem Tourismus. Obwohl er Arbeitsplätze und Wachstum schafft, kann der Tourismus aber auch zum Opfer seines eigenen Erfolgs werden. Das betrifft vor allem die Küstengebiete, die regelmäßig von einem großen Touristenstrom aufgesucht werden, mit schädlichen Folgen für das soziale Gefüge, das wirtschaftliche Gleichgewicht, die Qualität der Umwelt und schließlich auch für die Attraktivität des Tourismus.


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In wenigen Jahrzehnten ist der Tourismus zu einem unverzichtbaren gesellschaftlichen Phänomen geworden. Jedes Jahr kreuzen sich die Wege von Millionen Reisenden auf dem ganzen Planeten. Bevorzugte Ausrüstung: Badesachen, Strandspielzeug und Sonnencreme. Denn in der ganzen Fülle von Ferienangeboten stehen die Küsten ganz weit vorn auf der Beliebtheitsskala: Sonne, Meer, belebende Luft und idyllische Strände üben eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft aus. Laut Gabor Vereczi, dem Verantwortlichen für nachhaltige Entwicklung bei der Welttourismus organisation (UNWTO), "ist das Mittelmeer bei weitem das beliebteste Ferienziel weltweit". 2006 waren fast 160 Millionen Touristen an den europäischen Küsten registriert.


Vom nicht nachhaltigen Tourismus...

Die Folgen eines schlecht beherrschten Küstentourismus zu erfassen, ist eine schwierige Aufgabe, denn man könnte damit viele Seiten füllen. Dennoch haben sich die Beobachter des Sektors verständigt, um drei große Folgenkategorien zu bestimmen: die wirtschaftlichen, die soziokulturellen und die ökologischen.

Auf wirtschaftlicher Ebene ist klar, dass der Touristenstrom eine positive Wirkung auf die Lokalgemeinschaften hat. Erhebliche Devisenmengen fließen ein und aus diesem Grund haben die Behörden oft massiv in große Infrastrukturen investiert, um das Leben der Touristen bequemer zu machen (Flughäfen, Straßen und Autobahnen, Staudämme, Stadtplanung,...). Die Kehrseite der Medaille sieht aber ganz anders aus, vor allem für die Lokalbevölkerung. Durch den Tourismus verändert sich die Beschäftigungsstruktur. Aktivitäten, die mit der Industrie, der Landwirtschaft und der Fischerei zusammenhängen, drohen zu verschwinden, wogegen die Saisonarbeit zur Norm wird. Die Folge: Die Einkommen reichen nicht aus, um mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten, die durch den Zustrom einer wohlhabenden Bevölkerung hervorgerufen werden, Schritt zu halten - insbesondere auf dem Immobilienmarkt.

Dieser Aspekt hat auf soziokultureller Ebene einige Konsequenzen. Angesichts der Ausbreitung von Hotelanlagen und Sommerhäusern an der Küste tendiert die Lokalbevölkerung dazu, ins Binnenland abzuwandern. Häufig haben die Zurückbleibenden keine andere Wahl, als sich an die touristische Nachfrage anzupassen - Gründung von Geschäften aller Art, lokales Kunsthandwerk, das zur Massenware tendiert, und so weiter. Daraus folgt ein Verlust der kulturellen Identität dieser Bevölkerungen, wobei das Aussterben der traditionellen Berufe diesen Prozess noch verstärkt.

Auf ökologischer Ebene sind die Folgen eines schlecht beherrschten Küstentourismus unzählig:

Die übertriebenen Bauaktivitäten und der Bau von Verkehrsverbindungen bilden die Grundlage für zahlreiche Umweltprobleme: die Entwaldung und Zerstörung natürlicher Räume, die Zerstörung von Lebensräumen der Tierwelt, der Abbau von Meersand zur Herstellung von Baumaterial usw. Dabei darf man auch die optischen Folgen nicht vergessen, auch aus ästhetischer Sicht sind diese verheerend.
 
Wegen der kontinuierlichen Trinkwasserverschwendung durch die Touristen, die täglich die dreifache Wassermenge der Ortsbevölkerung verbrauchen (Schwimmbäder, Bewässerung, Hygiene,...), werden die Wasservorräte immer knapper. Hinzu kommt, dass der größte Anteil des Brauchwassers in den meisten Fällen ungeklärt wieder ins Meer eingeleitet wird.
 
Was für das Wasser gilt, gilt auch für die verschiedenen Energieressourcen: Der Verbrauch an Strom und fossilen Brennstoffen durch die Touristen ist sehr hoch (Klimaanlagen, Heizung, Transport,...), wodurch hohe umweltverschmutzende Abgasemissionen entstehen. Auch produzieren Touristen riesige Abfallmengen, derer sich die Lokalgemeinschaften so gut, wie es geht, annehmen müssen.
 
Die Küstenerosion: Dämme, Wellenbrecher und Deiche sollen Strände und die Wohngebiete vor den Wellen, der Erosion und möglichen Überschwemmungen schützen. Aber häufig wird das Problem weiter weggeschoben, hinter die urbanisierten Gebiete, dort, wo solche Infrastrukturen nicht existieren. Die Folge: Diese Bereiche werden nach und nach von der Erosion weggenagt.


...zum verantwortlichen Tourismus

"Seit einigen Jahren sind sich lokale, nationale und internationale Behörden dessen bewusst, dass ein schlecht entwickelter Tourismus sich selbst eine Grube graben kann", sagt Jean-Pierre Martinetti, Experte für nachhaltigen Tourismus und Mitglied der Gruppe für nachhaltigen Tourismus (GNT), die von der Europäischen Kommission eingerichtet wurde, um über das Problem des nachhaltigen Tourismus nachzudenken. "Wenn man von nachhaltigem Tourismus spricht", fährt er fort, "muss man immer den folgenden Widerspruch im Auge behalten: Einerseits kann der Tourismus wie ein Schmarotzer Raubbau betreiben und jedes Milieu zerstören, sogar sich selbst, denn er schadet nicht nur der Umgebung, in die er eindringt, sondern auch sich selbst, wenn er nicht gebändigt wird. In diesem Sinn ist er von jeglicher Vorstellung der Nachhaltigkeit weit entfernt. Andererseits kann er der Hebel für eine nachhaltige Entwicklung sein, als Quelle für eine wirtschaftliche Entwicklung, für den Fortschritt der Gesellschaft, den Austausch zwischen Menschen, und er kann zur Kenntnis und Valorisierung von Kulturen beitragen und auch einen sorgsamen Umgang mit der Umwelt fördern."

Die Gruppe für nachhaltigen Tourismus besteht aus Tourismusexperten aus allen Sektoren und Ländern der Europäischen Union und hat ihre Arbeiten im Januar 2005 aufgenommen. Zwei Jahre später veröffentlichte sie ihren Abschlussbericht (1), dem eine umfangreiche Konsultation vorausgegangen war. Für Jean-Pierre Martinetti hat sich "aus diesen Arbeiten eine gemeinsame nachhaltige Kultur des Tourismus herausgebildet, und das trotz der unterschiedlichen Ursprünge und Empfindlichkeiten. Die Herausforderungen lagen ganz klar vor unseren Augen: Verringerung der saisonbedingten Nachfrage, Beherrschung der Auswirkungen des touristischen Verkehrs, Verbesserung der Beschäftigungsqualität im Tourismussektor, Pflege und Stärkung des Wohlstands und der örtlichen Lebensqualität, Minimierung der Ressourceneinsätze und Abfallvermeidung, Beobachtung und Valorisierung des natürlichen und kulturellen Erbes, Ferien für alle und schließlich der Tourismus als Hebel für eine nachhaltige Entwicklung."

"Der zentrale Auftrag der Gruppe war die Operationalität", führt der Experte weiter aus. "Deshalb haben wir eine Reihe konkreter Vorschläge ausgearbeitet, die auf die Herausforderungen antworten und sich an die verschiedenen Akteure der Tourismusindustrie richten: an die öffentlichen und privaten Leiter der Ferienziele, an die Reiseagenturen und natürlich an die Touristen selbst und an alle Organisationen, die bei diesen ein nachhaltiges Verhalten beeinflussen könnten (Schulen, Verbrauchervereinigungen, NRO usw.)."

"Jeder dieser Akteure muss spüren, dass er seinen Teil der Verantwortung für einen nachhaltigeren Tourismus trägt", schließt Jean-Pierre Martinetti. "Aber diese Verantwortung wird zwischen den verschiedenen Akteuren auf allen Ebenen des Tourismussystems aufgeteilt."


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Die drei Stützpfeiler des nachhaltigen Tourismus

Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt. Um diese drei Worte kommt man nicht herum, wenn man vom nachhaltigen Tourismus spricht. Es geht darum, Wohlstand auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft zu schaffen, indem man sich um die Rentabilität der verschiedenen Wirtschaftssektoren kümmert. Gleichzeitig müssen die Menschenrechte und die Chancengleichheit für alle respektiert, die Armut bekämpft und die verschiedenen Kulturen anerkannt werden. Schließlich muss die Umwelt in ihrer ganzen Vielfalt geschützt werden, vor allem nicht erneuerbare Ressourcen und solche, die für den Menschen einen besonderen Wert darstellen. "Um das endgültige Ziel, die Lebensfähigkeit dieser drei Stützpfeiler, zu erreichen, muss man diese in ausgewogener Weise entwickeln", erklärt Jean-Pierre Martinetti. "Viel zu oft sind Fehler gemacht worden, weil man den Schwerpunkt nur auf einen der drei Pfeiler gelegt und die anderen vernachlässigt hat." Die Entwicklung des Tourismus muss daher das Ergebnis einer weisen Dosierung sein, um auch nachhaltig zu werden. Nur dann wird auch das Milieu, in dem er sich entwickelt, in seiner ganzen Vielfalt respektiert werden.

Anmerkung:
(1) http://ec.europa.eu/enterprise/services/tourism/tourism_sustainability_group.htm


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Dezember 2007, Seite 30
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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Internet: http://ec.europa.eu./research/research-eu

research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2008