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WIRTSCHAFT/105: Demokratische Anforderungen an eine europäische Wirtschaftsregierung (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Referat Internationale Politikanalyse

Demokratische Anforderungen an eine europäische Wirtschaftsregierung

Von Stefan Colligan, Dezember 2010


• Die Eurokrise hat die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Eurozone offensichtlich werden lassen. Die Logik einer gemeinsamen Währung macht es erforderlich, die makroökonomische Politikgestaltung auf EU-Ebene zu zentralisieren, denn sonst werden die Regierungen der Mitgliedstaaten immer das Gemeingut durch die Verfolgung von partiellen Interessen destabilisieren.

• Die Zentralisierung der Politikgestaltung auf europäischer Ebene wirft die problematische Frage der Legitimität auf. Das Grundproblem der europäischen Governance ist ihr Demokratiemangel. Die von der Kommission und der Van-Rompuy-Task-Force sowie in französisch-deutschen Vorstößen unterbreiteten Reformvorschläge sind bürokratisch und undemokratisch. Mit ihnen sind zukünftig keine Krisen zu verhindern.

• Alternativ könnte die Europäische Kommission in eine Europäische Wirtschaftsregierung umgewandelt werden, die durch den Rat und das Europäische Parlament demokratisch kontrolliert würde. Das Instrument zur Ausführung makroökonomischer Politik auf europäischer Ebene ist das im Vertrag von Lissabon neugeschaffene »ordentliche Gesetzgebungsverfahren«, das das europäische Sekundärrecht auf ein Mitentscheidungsverfahren unter Beteiligung von Kommission, Rat und Europäischem Parlament fußt. In diesem Beitrag wird ein Vorschlag unterbreitet, wie der Wachstums- und Stabilitätspakt unter einer demokratischen Wirtschaftsregierung funktionieren könnte.


INHALT:


Einleitung
1. Die Transformation der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Eurozone
1.1 Politische Erschütterungen und das Koordinationsversagen in der Eurozone
1.2 Welchen Unterschied das Geld
1.3 Politische Anreize in der Eurozone
2. Ein demokratisches Rahmenwerk für eine Reform der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung
2.1 Argumente für mehr Demokratie in Europa
3. Eine Wirtschaftsregierung für Europa
3.1 Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
3.2 Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte in der Eurozone
3.3 Die verpasste Gelegenheit, die wirtschaftspolitische Steuerung Europas zu reformieren
3.4 Die demokratische Revolution
4. Demokratische Reformen von Europas wirtschaftspolitischer Steuerung
4.1 Eine demokratische Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts
Schlussbemerkung
Literatur


Einleitung

Im Mai 2010 befand sich die EU am Rand des Zusammenbruchs. Nur durch die Einrichtung der mit 750 Milliarden Euro ausgestatteten Europäischen Finanzstabilitätsfazilität konnte ein Kollaps der Finanzmärkte in der Eurozone verhindert werden, der das ganze europäische Einigungswerk zum Einsturz gebracht hätte. Die Krise scheint denjenigen Recht zu geben, die schon immer behauptet haben, das System der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Eurozone sei nicht stark genug, um den Euro vor größeren Erschütterungen und Krisen zu schützen. In den ersten Jahren des Aufbaus der Währungsunion wurden in der französischen Politelite immer wieder Forderungen nach einer gouvernement économique für die Eurozone laut, um die nicht-monetären Aspekte der Wirtschafts- und Währungsunion zu stärken. Es wurde jedoch nie konkretisiert, was genau darunter zu verstehen war. In Deutschland widersetzte sich die politische Elite dieser Idee, weil sie eine französische Konspiration zur Unterminierung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) befürchtete. Mitten in der jüngsten Krise unterstützte Kanzlerin Merkel jedoch Sarkozys erneute Forderung nach einer Wirtschaftsregierung und gab dazu diese Erklärung ab: »Die Wirtschaftsregierung sind wir« (1). In Reaktion auf die griechische Schuldenkrise haben die zentralen Organe der Europäischen Union nun damit begonnen, Vorschläge zur Reform der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung zu unterbreiten, mit dem Ziel, deren Effizienz zu erhöhen. All diese Vorschläge haben aber einen ernsthaften Haken: Sie konzentrieren sich weiterhin auf eine Zusammenarbeit zwischen den Regierungen und vermeiden es, sich mit dem grundlegenden Problem der Legitimierung politischer Entscheidungen auf europäischer Ebene auseinanderzusetzen. Diese Vorschläge perpetuieren die Trugschlüsse des vor der Krise bestehenden Systems und können deshalb für die Zukunft ein Versagen der Koordination zwischen den Mitgliedstaaten nicht ausschließen.

Die Frage lautet, warum Europas Governance so schwach ist, dass bestehende Richtlinien nicht durchgesetzt werden, und welche Impulse nötig sind, um die Situation zu verbessern. Die meisten Reformer wollen die Überwachung der nationalen Regierungen verstärken und bei der Nichteinhaltung von Bestimmungen Sanktionen auferlegen, doch sie übersehen dabei, dass die demokratischen Regierungen in der EU ihrem nationalen Mandat verpflichtet sind, und dass ihre Verpflichtungen sie oft dazu veranlassen, die übergreifenden gemeinsamen Interessen aller europäischen Bürger zu missachten, weil es keine europäische Autorität gibt, die ihr unkooperatives Verhalten auf legitime Weise außer Kraft setzen und stoppen kann. Das Grundproblem der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung ist ihr Mangel an Demokratie. Dies wird deutlich, wenn man jene grundlegende Frage stellt, die niemand ansprechen will: Wie ist es möglich, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten sich gegenseitig Vorschriften machen, wenn jede einzelne von ihnen demokratisch für eine ganz andere Aufgabe gewählt wurde?

In diesem Beitrag wird versucht, diese Frage zu beantworten, indem Modalitäten für den Aufbau einer »Europäischen Wirtschaftsregierung« vorgeschlagen werden, die voll und ganz demokratisch legitimiert ist, um im gemeinsamen Interesse der europäischen Bürger zu agieren. Bevor eine solche Regierung umrissen werden kann, ist eine kurze Analyse der Mängel des gegenwärtigen Systems notwendig, die sich in der Eurokrise der jüngsten Vergangenheit offenbarten, sowie jener der von den europäischen Organen gemachten politischen Vorschläge.


1. Die Transformation der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Eurozone

Der Philosoph Gilbert Ryle erklärte einst, dass es eine Kategorienverwechslung sei zu sagen: »Das Glas zerbrach, weil es von einem Stein getroffen wurde.« Die korrekte Aussage laute dagegen: »Das Glas zerbrach, als es von einem Stein getroffen wurde, weil es zerbrechlich war.« Um die Krise Europas zu verstehen und Wege aus der Krise zu finden, müssen wir begreifen, wie das System der wirtschaftspolitischen Steuerung weniger zerbrechlich gemacht und wie die Wahrscheinlichkeit von Erschütterungen, die das System treffen könnten, reduziert werden kann. Lösungen für beide Fragen erfordern demokratischere Formen der Governance, aber das Problem wird dadurch verkompliziert, dass die Zerbrechlichkeit des Systems politische Erschütterungen geradezu anzieht.


1.1 Politische Erschütterungen und das Koordinationsversagen in der Eurozone

Die Eurokrise von 2010 wurde von der griechischen Schuldenkrise ausgelöst, der zweiten großen Erschütterung innerhalb von zwei Jahren nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008. Die gerade ins Amt gewählte griechische Regierung unter Ministerpräsident Papandreou entdeckte, dass die Vorgängerregierung zweimal so viel Schulden angehäuft hatte als die offiziell angegebenen sechs Prozent des BIP, was die in den EU-Verträgen akzeptierten Grenzen bei weitem überschritt. Wie auch in anderen Mitgliedstaaten waren diese hohen Schulden eine Folge der Mindereinnahmen aufgrund der weltweiten Rezession, aber in Griechenland war die Situation noch gravierender, weil die Karamanlis-Regierung im Vorfeld der Wahlen vom Herbst 2009 eine unverantwortliche Politik verfolgt hatte. Nach der Enthüllung des 12-prozentigen Haushaltsdefizits wurden auf den Finanzmärkten nicht nur schnell Zweifel an der Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik laut, sondern auch an der Effektivität des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Zahlungsunfähigkeiten zu verhindern. Als die deutsche Regierung aus strategischen Erwägungen im Zusammenhang mit Landtagswahlen vorgab, kein Rettungspaket für Griechenland schnüren zu wollen, breiteten sich diese Sorgen schnell auch in Bezug auf andere Mitgliedstaaten der Eurozone aus, die sich durch zunehmende Staatsverschuldung und große Leistungsbilanzdefizite auszeichneten. So löste eine wirtschaftliche Erschütterung aufgrund der inkohärenten politischen Strukturen in der EU eine politische Erschütterung aus, was wiederum einen weiteren wirtschaftlichen Schock zur Folge hatte.

Im Mai 2010 drohte die Gefahr, dass die Märkte für diese staatlichen Schuldner keine Gelder mehr bereitstellen würden. Die Zahlungsunfähigkeit eines Staates hätte das bereits geschwächte europäische Bankensystem jedoch dramatisch weiter destabilisiert. Deshalb einigte sich der Europäische Rat auf den Europäischen Finanzstabilitätsmechanismus, mit dem die Europäische Union zusammen mit dem IWF eine Kreditlinie für in Schwierigkeiten geratene Regierungen einrichtete. Die EZB erklärte sich auch bereit, staatliche Schuldtitel in nicht näher angegebener Höhe zu kaufen, um das korrekte Funktionieren der Märkte sicherzustellen. Dieses Rettungspaket trug erfolgreich zur Wiederherstellung des Marktvertrauens bei, auch wenn die politische Ungewissheit über die Krisenbewältigung in den Mitgliedstaaten nach wie vor die Notierung des Euro und die Zinssätze überschattet.

Die beschriebenen Sofortmaßnahmen konnten die akute Krise mildern, aber sie haben nicht dafür gesorgt, dass das europäische System der Governance weniger zerbrechlich wurde. Die politischen Entscheidungsträger haben realisiert, dass sie die Governance in Europa reformieren müssen, um ähnliche Krisen in Zukunft zu verhindern. Ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Krisenvermeidung, d. h. auf der Reduzierung der Häufigkeit und Heftigkeit von Erschütterungen. Es wird wenig dafür getan, das System stabiler zu machen, was eine nicht so diffuse, sondern sehr viel zentralisiertere Regierungsform in der Eurozone erfordern würde. Die politischen Entscheidungsträger scheinen zu glauben, dass das alte zerbrechliche System des Intergouvernementalismus überleben könne, wenn sie nur dafür sorgten, dass es zu keinen weiteren Erschütterungen kommt. Zu diesem Zweck versuchen sie, bessere Richtlinien einzuführen, doch ist es zweifelhaft, ob mit politischen Richtlinien alle exogenen Erschütterungen vorherzusehen und zu verhindern sind. Deshalb ist es so wichtig, das wirtschaftspolitische System von innen zu stärken, insbesondere in der Eurozone.

Mit der Schaffung des Euro im Jahr 1999 haben sich zwar die Qualität und die Anforderungen an eine politische Koordination grundlegend gewandelt, aber nicht die Methoden, mit denen Europa regiert wird. In den frühen Phasen der europäischen Integration wurde die Dynamik der politischen Kooperation der Mitgliedstaaten durch Synergien, Positivsummenspiele und Vorteile in Gang gehalten, die für die Nationalstaaten hinreichende Anreize waren, ihre politischen Maßnahmen freiwillig zu koordinieren. In der Wirtschaftsliteratur werden diese Anreize mit der Theorie der sogenannten inklusiven öffentlichen Güter beschrieben, die sich von der Analyse der exklusiven Gemeingüter unterscheidet (Cornes und Sandler 1996; Cooper und John 1988). Erstere zeichnen sich durch Verteilungseffekte aus, die in ihrer Gesamtsumme positiv sind, was bedeutete, dass es dank der europäischen Integration jedem besser und niemandem schlechter ging (eine sogenannte Win-Win-Situation)(2). Beispielsweise konnten die sich aus der Bildung einer Zollunion oder des gemeinsamen Marktes ergebenden Vorteile aus der Differenz zwischen den Handel schaffenden und Handel umlenkenden Wirkungen errechnet werden. Wenn der Nettonutzen überwog, hatte ein Mitgliedstaat eindeutige Anreize, der Gemeinschaft und ihren Richtlinien zu folgen. Deswegen werden diese öffentlichen Güter als »inklusiv« bezeichnet. Inklusive öffentliche Güter können durch freiwillige Politikkoordination erfolgreich verwaltet werden, auch wenn sich Probleme ergeben können, wenn es Regierungen durch Informationsasymmetrien verwehrt ist, den aus der Kooperation zu ziehenden möglichen Nutzen zu sehen. Hier war es die Aufgabe der Europäischen Kommission, sicherzustellen, dass alle nationalen Regierungen die sich aus der Kooperation ergebenden Vorteile erkannten.

Mit der Schaffung des europäischen Binnenmarktes und der gemeinsamen Währung sind neue Politikfelder entstanden, auf denen solche Anreize nicht länger selbstverständlich sind. Die Logik der freiwilligen Koordination funktioniert nach wie vor gut in den »alten« Politikbereichen wie Außenhandel, gemeinsamer Agrar- und Wettbewerbspolitik, aber mit dem Aufkommen neuer exklusiver europäischer gemeinsamer Güter, im Folgenden kurz »exklusive Gemeingüter« genannt, geraten die Mitgliedstaaten leicht in Versuchung, die Vorteile auf Kosten der anderen Länder zu genießen.(3) Da es sich bei exklusiven Gemeingütern um begrenzte Ressourcen handelt, folgen sie der Verteilungslogik von Nullsummeneffekten, wobei die Akteure bestrebt sind, den Nutzen aus ihnen zu ziehen, die Kosten aber den anderen aufzubürden. Deshalb ist bei exklusiven Gemeingütern eine ganz andere Art der Governance vonnöten als bei den zuvor erwähnten inklusiven öffentlichen Gütern. Im Folgenden werde ich darlegen, dass diese Transformation der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung durch den Euro verursacht wurde, weil Geld in einer Währungsunion eine gemeinsame Ressource, mithin ein exklusives Gemeingut ist. Im Hinblick auf kollektives Handeln führt das zu Problemen und zum Versagen der Koordination zwischen den Regierungen, insbesondere im Bereich der makroökonomischen Politik.


1.2 Welchen Unterschied das Geld macht

In jeder gut funktionierenden Marktwirtschaft ist Geld ein gemeinsames Gut, das als harte Haushaltsbegrenzung fungiert, und diese Funktion ermöglicht es, dass in Geld ausgedrückte Preise anzeigen, wie die Ressourcen wirkungsvoll zuzuteilen sind. Das heißt, dass Geld ein knappes Gut für alle Wirtschaftsakteure ist, die es schon im Vorfeld ihrer Anschaffungen brauchen, unabhängig davon, ob sie private oder öffentliche Akteure, Firmen oder Verbraucher, Investoren oder Lohnempfänger sind. In den sozialistischen Wirtschaften Osteuropas war Geld eine weiche Haushaltsbegrenzung, und der Übergang von den Planwirtschaften zu modernen sozialen Marktwirtschaften bestand genau darin, Geld statt Güter zur verbindlichen Begrenzung zu machen (Kornai, Maskin Roland 2003; Riese 1990). Modernes Geld wird von der Notenbank ausgegeben, die es knapp halten muss, um sicherzustellen, dass die Märkte effizient funktionieren, und genau das ist das Grundprinzip, auf das sich die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und ihr vorrangiges Hauptziel, die Preisstabilität zu wahren, stützen. Wäre die EZB nicht unabhängig, und könnten Regierungen sie zwingen, ihnen Geld zu geben, würde die Eurohaushaltsbegrenzung weich werden. Die Preisstabilität ginge verloren und die Ressourcen könnten nicht länger entsprechend den Signalen des Marktprozesses ihrem produktivsten Nutzen zugeteilt werden.

Der Zinssatz ist der Knappheitspreis für Geld, mit dem die Bedingungen festgelegt werden, unter denen das Bankensystem von der Zentralbank Liquidität erhalten und Kredite an die »reale« Wirtschaft auszahlen kann. Diese Bedingungen wirken sich auf alle Wirtschaftsakteure gleichermaßen aus, auch wenn Banken und Kapitalmärkte aufgrund von Risikoabwägungen unterschiedliche Prämien erheben. Weil die harte Haushaltsbegrenzung für Regierungen und private Akteure gleichermaßen bindend ist, stehen die »souveränen« Kreditnehmer in der Wirtschafts- und Währungsunion genauso da wie alle anderen Schuldner auch. Die Unabhängigkeit der Zentralbank verhindert, dass Politiker die Finanzmärkte verzerren und die harten Haushaltsbegrenzungen aufweichen können. Von daher ist es Geld, das die Eurozone als integrierte Wirtschaft definiert. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist ein »Land« das Währungsgebiet und nicht das Hoheitsgebiet, das mehr oder weniger willkürlich aus der Geschichte hervorging; aus einem politischen Blickwinkel erscheinen die Dinge natürlich anders, und dieser Unterschied in der Wahrnehmung ist der Grund vieler Widersprüche und Konflikte. Eine Konsequenz der harten Haushaltsbegrenzung ist, dass sie politische Wechselwirkungen mit einer Nullsummenverteilungsdynamik erzeugt. Anders gesagt, schaffen einige politische Maßnahmen vielleicht Nutzen für bestimmte Gruppen oder Länder, aber immer auf Kosten anderer. Wirtschaftswissenschaftler beschreiben dies normalerweise mit dem Gesetz von Walras, das besagt, dass die Überschussnachfrage in einem Markt durch ein Überschussangebot in einem anderen bedingt sein muss. Obwohl dieses Gesetz normalerweise als statisches Gleichgewicht formuliert wird, gilt es auch für eine wachsende Wirtschaft, wenn die Geldmenge im richtigen Verhältnis zur Realwirtschaft zunimmt. Daraus folgt, dass ein überdurchschnittliches Wachstum in einem Sektor oder einer Region andernorts ein unterdurchschnittliches Wachstum impliziert. So sind in einer integrierten Geldwirtschaft die Wirkungen und Leistungen in einem Sektor oder einer Region bzw. einem Mitgliedstaat nie unabhängig davon, was im Rest des Währungsgebietes passiert. Beispielsweise wuchsen im letzten Jahrzehnt südliche Volkswirtschaften wie Griechenland und Spanien, aber auch Irland sehr schnell, während Deutschland stagnierte. Das hat sich nun ins Gegenteil verkehrt: Deutschlands Wirtschaftswachstum ist heute größer als das der übrigen Eurozone, während es in südlichen Ländern gerade stagniert.

Die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit in der Währungsunion erzeugt für die Regierungen politische Anreize zur Trittbrettfahrerei auf Kosten ihrer Partner. Dies trat bei der ungenügenden Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts sehr deutlich zutage. Die Logik hinter diesem Versagen der Zusammenarbeit im Finanzbereich besteht darin: Da Geld eine knappe Ressource ist, müssen Regierungen, die höhere Kredite aufnehmen wollen, als der Bankensektor bereitstellen kann, den darüber hinausgehenden Betrag von anderen Regierungen oder privaten Akteuren leihen. Regierungen, die sich bemühen, weniger Schulden zu machen, sparen ihre eigenen Mittel und können daher mehr Geld verleihen. Wenn dieser Überschuss zum Verleihen von niemandem in Anspruch genommen wird, kommt es zu einer Inkonsistenz von Geldforderungen, die zu Arbeitslosigkeit führt, oder auch zu Inflation, wenn die Nachfrage das Kreditpotential übersteigt. Genauso werden die politischen Maßnahmen eines Mitgliedstaates, wenn sie zu Hause das Wachstum verhindern oder beschleunigen, auch das Wachstum in anderen Mitgliedstaaten beeinflussen, selbst wenn die Wechselwirkungen ambivalent sind. Solange die Ressourcen im Währungsgebiet nicht voll genutzt werden, wird ein Boom in einem Land die Nachfrage und das Wachstum in anderen stimulieren; beispielsweise haben die Wohlstandseffekte der steigenden Immobilienpreise in Spanien die Verbraucher stimuliert, deutsche Autos zu kaufen, und das hat wiederum Deutschland vor einer höheren Arbeitslosigkeit bewahrt. Diese Nebenwirkungen verteilen sich jedoch ungleichmäßig, und Deutschlands Wirtschaftswachstum war fast ein Jahrzehnt lang nicht so stark wie das Spaniens. Allgemein gesehen und angesichts der Tatsache, dass die EZB das Geld knapp hält, ist ein Konjunkturaufschwung auf lokaler Ebene nur möglich, wenn Investitionsgelegenheiten vor Ort Mittel anziehen, die nicht anderswo investiert werden. So zieht in einer Währungsunion ein lokaler Boom mit überdurchschnittlichem Wachstum immer langsames Wachstum anderswo nach sich, und Regierungen haben einen Anreiz, auf Kosten anderer Mittel zu ihrer eigenen lokalen Verwendung anzuziehen oder übermäßig hohe Kredite aufzunehmen.(4)


1.3 Politische Anreize in der Eurozone

In einer Währungsunion sind makroökonomische Entwicklung und Politik nicht länger nur eine nationale Angelegenheit. Durch die gemeinsame Währung und dadurch, dass man derselben Haushaltsbegrenzung unterliegt, werden die aggregierte Nachfrage und ihre wirtschaftlichen Folgen wie Wachstum oder Arbeitslosigkeit zu einem »europäischen Gemeingut«, das alle Bürger im Euroland gleichermaßen betrifft, und ihnen die Berechtigung verleiht, gemeinsam darüber zu entscheiden, wie dieses Gut zu verwalten ist. Die von einem Land verfolgte Politik erzeugt Externalitäten für andere, und es ist ein Fehler zu glauben, dass die Mitgliedstaaten ihre Angelegenheiten isoliert durchführen können. Deshalb müssen die Mitgliedstaaten miteinander kooperieren. Aber wenn die Verteilungseffekte in einer integrierten Wirtschaft der Logik von Nullsummengewinnen folgen, funktioniert die freiwillige Kooperation zwischen Regierungen nicht, weil die von einem Land gemachten Gewinne zwangsläufig (relative) Nachteile für andere Länder bedeuten, und jedes Land versuchen wird, sich die Vorteile zunutze zu machen und die Kosten zu vermeiden. Dies führt zu dem typischen und häufig beklagten »nationalen Egoismus«. Weil einzelne Regierungen Anreize haben, das Gegenteil von dem zu tun, was der Union dient, erfordern die exklusiven Gemeingüter sehr viel strengere Formen der Governance als es Europa bisher gewohnt ist. In der Situation werden häufig verbindliche Richtlinien und Regeln mit Sanktionen vorgeschlagen, um die Stabilität und Nachhaltigkeit einer integrierten Wirtschaft sicherzustellen und eine Beschädigung des Gemeininteresses zu verhindern. Es gibt jedoch auch politische Bereiche, in denen es notwendig sein könnte, auf Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen Umfeld zu reagieren. Feste Regeln sind dann zu restriktiv und lassen keine optimalen politischen Reaktionen zu; selbst verbindliche Richtlinien können das Problem ihrer ungenügenden Befolgung nicht lösen. Zum Erhalt der Kohärenz der Wirtschaft ist eine unabhängige Autorität supra partes erforderlich. Anders ausgedrückt braucht die Eurozone eine richtige Wirtschaftsregierung mit voller Autorität, um im gemeinsamen Interesse aller zu agieren.

Es wurde und wird manchmal argumentiert, dass die europäische Integration das Überleben der nationalen Wohlfahrtsstaaten unmöglich machen würde. Das trifft jedoch nicht zu. Die von den exklusiven Gemeingütern geschaffene, wechselseitig wirtschaftliche Abhängigkeit schließt die Möglichkeit nicht aus, Mittel gemäß den nationalen räferenzen zu verwenden, vorausgesetzt diese Verwendung erzeugt keine Externalitäten für alle anderen. Beispielsweise verlagern höhere Ausgaben für öffentliche Güter wie soziale Dienstleistungen und ihre Finanzierung durch Steuern auf den privaten Konsum die Güterverwendung vom privaten auf den öffentlichen Sektor, ohne dabei zwangsläufig Auswirkungen auf das aggregierte Defizit in der Eurozone zu haben. Das aggregierte Defizit bestimmt jedoch die gesamte Verwendung der Güter und hat daher externe Effekte auf Zinssätze, Inflation, Investitionen, Wachstum und Arbeitslosigkeit, die sich ihrerseits auf die gemeinsamen Bedingungen der Wirtschaftsentwicklung in der Währungsunion auswirken. Daraus folgt, dass in einer Währungsunion Entscheidungen über Ressourcenzuteilung im Bereich der nationalen Politik verbleiben können, während das aggregierte Defizit (und allgemein die makroökonomische Politik) der Eurozone eindeutig für alle Bürger relevant ist. Die Literatur zu öffentlichen Finanzen ist daher zu dem Schluss gekommen, dass die Zuteilungsfunktion der Regierung dezentralisiert werden könne, während die Stabilisierungsfunktion in Bezug auf öffentliche Ausgaben zentralisiert werden müsse (Musgrave 1956). Die Schlussfolgerung für Europa ist, dass die Währungsunion keine Annäherung an ein einheitliches Sozial- und Wirtschaftsmodell der Ressourcenverwendung braucht, aber eine Kohärenz bei der Bewältigung der Externalitäten und Wechselwirkungen durch öffentliche Ausgaben. Der Wohlfahrtsstaat kann in seinen wesentlichen Strukturen national bleiben, zum Beispiel in der Frage der Rentenfinanzierung, aber er muss in einen größeren makroökonomischen Rahmen eingebettet werden, der seine langfristige Tragfähigkeit sicherstellt. Leider schwächen die Anreize im intergouvernementalen System, die Vorteile auf Kosten der Partner mitzunehmen, die Kohärenz der Eurozone und machen sie verwundbarer. Der Wohlfahrtsstaat ist ohne ein kohärentes System der Steuerung der Währungsunion nicht tragfähig. Deshalb ist eine europäische Wirtschaftsregierung notwendig, um die Eurozone widerstandsfähiger gegen Erschütterungen zu machen und das europäische Sozialmodell in seiner ganzen Vielfältigkeit zu bewahren.

Die aus einem Mangel an politischer Kohärenz entstehenden Probleme werden von politischen Externalitäten und Nebeneffekten weiter verstärkt, wenn die Nationen im Alleingang agieren können. Mit der weiteren Integrierung der europäischen Wirtschaft verursacht die Entscheidung eines Mitgliedstaates häufig erhebliche externe Effekte, die sich auf alle anderen Mitgliedstaaten auswirken. Folglich sind Millionen europäischer Bürger von Entscheidungen durch Regierungen betroffen, die sie nicht selbst gewählt haben und auf die sie keinen Einfluss ausüben können. Zudem können diese Entscheidungen möglicherweise das Gemeininteresse der Union erschüttern. Beispielsweise wurde die Regierung von Konstantin Karamanlis 2000, 2004 und 2007 von 1,2 bis 1,5 Millionen Griechen gewählt, aber 2010 bekamen 329 Millionen Bürger in der Eurozone die Konsequenzen seiner Politik schmerzlich zu spüren. Und auch Kanzlerin Angela Merkel bemühte sich mit der Bedienung eines deutschen Chauvinismus mehr um den Gewinn von 2,6 Millionen Stimmen bei den Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen als um die Stabilisierung des Euros mitten in seiner tiefsten Krise. Diese Beispiele zeigen, dass das, was im Kontext eines Nationalstaates als demokratisch legitimiert scheint, verheerende Auswirkungen für die Europäische Union haben kann. Deshalb darf die Politik für die Europäische Union nicht von den Mitgliedstaaten im Alleingang gemacht werden.

Keine nationale Regierung kann für sich das legitime Recht beanspruchen, eine Politik zu gestalten, die alle Europäer betrifft, und im Folgenden werde ich darlegen, dass es auch dem (Europäischen) Rat an Legitimation mangelt, um als europäische Regierung zu fungieren. Wenn die Richtlinien der wirtschaftspolitischen Steuerung ein widersprüchliches und voneinander abweichendes politisches Verhalten zulassen oder sogar fördern, wie es heute in Bezug auf die exklusiven Gemeingüter der Fall ist, ist das System nicht tragfähig. In diesem Fall funktioniert die freiwillige politische Zusammenarbeit zwischen den Regierungen nicht optimal und eine einheitliche politische Instanz wird gebraucht; die Mitgliedstaaten müssen ihre Befugnisse zur Politikgestaltung einer europäischen Institution übertragen.


2. Ein demokratisches Rahmenwerk für eine Reform der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung

Die Europäische Kommission ist die natürliche Institution, die als eine europäische Regierung fungieren könnte. Sie verfügt bereits über die notwendigen administrativen Kapazitäten und ist auch dem Rat und dem Europaparlament demokratisch rechenschaftspflichtig. In der Gemeinschaftsmethode fiel der Kommission traditionell die Rolle zu, die Politikkoordination zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern. Zu diesem Zweck hatte sie bestimmte Privilegien, vor allem das alleinige Initiativrecht. Die Mitgliedstaaten blieben jedoch »souveräne« Akteure, die von Fall zu Fall entschieden, ob und welche Befugnisse sie der Gemeinschaft übertragen (Bundesverfassungsgericht 2009). Daher spielte die Kommission zwar eine überaus bedeutende Rolle als Koordinator, aber die endgültige Entscheidungsgewalt verblieb bei den Nationalstaaten. Die einzige echte Ausnahme dazu ist die Währungspolitik: Hier wurde der Europäischen Zentralbank die »unabhängige« Macht erteilt, Entscheidungen zu fällen und umzusetzen. Etliche politische Beobachter forderten kürzlich eine unabhängige Europäische Finanzbehörde, die haushaltspolitische Maßnahmen beurteilt, entwirft und sogar verabschiedet. Diese Ideen sind eindeutig antidemokratisch. Es ist zwar richtig, dass die makroökonomische Politik auf europäischer Ebene zentralisiert werden muss, aber eine größere Machtzentralisierung in Brüssel ohne eine Erhöhung der demokratischen Kontrolle durch die Bürger ist unakzeptabel. Das wäre mit dem grundlegendsten Prinzip unvereinbar, auf dem die EU aufbaut, nämlich dem Prinzip der Demokratie. Von daher müssen jetzt die Argumente für mehr Demokratie in der Europäischen Union untersucht werden.


2.1 Argumente für mehr Demokratie in Europa

Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Demokratien. Das ist eine Grundvoraussetzung für den Beitritt in die EU. Die Demokratie auf nationaler Ebene wird jedoch immer unvereinbarer mit den Anforderungen effizienter Politik auf europäischer Ebene. Seit Jahren gibt es eine ausführliche Debatte über das sogenannte Demokratiedefizit, und ich werde die Argumente hier nicht erneut anführen. Stattdessen möchte ich die negativen Externalitäten erörtern, die von der nationalen Politik ausgehen und sich auf das europäische Gemeinwohl auswirken können.

Die nationalen Regierungen werden auf der Grundlage von politischen Programmen gewählt, in denen nationale und europäische Politikdimensionen miteinander verschmelzen. Die Wähler können sich pauschal zwischen diesen Paketen entscheiden, aber sie müssen sie so nehmen, wie sie sind, und können keine Auswahl zwischen ihren nationalen und europäischen Interessen treffen. Da die nationale Dimension vorherrscht, werden auch diese Entscheidungen von nationalen Belangen dominiert. Der »Bündelungseffekt« lässt den Eindruck »nationaler Präferenzen« entstehen, die von den Regierungen vorgebracht werden, wenn sie »in Brüssel« verhandeln. Sie ziehen »Grenzlinien«, handeln Kompromisse aus und kehren als Helden nach Hause zurück, die das »nationale Interesse« erfolgreich gegen alle Widrigkeiten verteidigt haben. Angesichts der Tatsache, dass die Kompromisse jedoch möglicherweise nur partiellen Interessen dienen, wird das Allgemeininteresse aller Bürger oft vernachlässigt oder sogar geschädigt. Hier ist zu beachten, dass die abträglichen Effekte dieser Regierungszusammenarbeit auch die Interessen der Bürger aus den Mitgliedstaaten betreffen, die »als Sieger« aus den Verhandlungen hervorgehen. Man denke nur an die griechische Finanzpolitik. Die hohe Verschuldung hat vielleicht einigen gesellschaftlichen Gruppen in Griechenland gedient, aber die Konsequenzen waren für alle Europäer verheerend - auch für die Griechen. Man erinnere sich daran, dass die deutsche Kanzlerin als Gewinnerin im Kampf gegen das finanzielle Rettungspaket für Griechenland galt, bis der Euro fast zusammenbrach, und die Kosten für die deutschen Steuerzahler am Ende höher waren, als wenn Merkel von Anfang an kooperiert hätte. So ist es also teilweise die Bündelung von nationalen mit europäischen Problemen, die negative Externalitäten für alle europäischen Bürger generiert.

Die Tatsache, dass die europäische Politik so eng mit nationaler Politik verbandelt ist, macht es für die Bürger unmöglich, zwischen alternativen politischen Programmen auf EU-Ebene zu wählen. Da ist es nur zu verständlich, dass die Bürger das Gefühl haben, die Regierungen machten, was ihnen passte, und ließen die Präferenzen der Bürger ständig außer Acht. Der Mangel an Demokratie auf EU-Ebene mindert in den Augen der nationalen Wählerschaften und ihren Debatten die intergouvernementale Legitimität der europäischen Politik, und die Regierungen verhandeln unter dem Druck dessen, was die nationalen Debatten ihnen erlauben. Daraus folgt, dass sich aus der Regierungszusammenarbeit ein schwach übergreifender Konsens zwischen teillegitimierten Regierungen ergibt, auch wenn sie selten einen Konsens unter den Bürgern herstellt. Der Vorteil des intergouvernementalen Konsens besteht darin, dass er Konflikte zwischen Staaten überwindet; das war der Zweck der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch die Schwäche der Konsenspolitik ist eindeutig ein Nachteil, wenn es darum geht, eine Politik im gemeinsamen Interesse aller europäischen Bürger umzusetzen. Um die Effektivität der Politikkoordination zu erhöhen, muss die Schwäche des intergouvernementalen Konsensus durch die von den Bürgern ausgehende demokratische Legitimierung ausgeglichen werden.

Man könnte einwenden, dass die Wähler auch in ihren nationalen Zusammenhängen eine Politik hinnehmen müssen, die sie nicht mögen, weil die von ihnen bevorzugte Politik eine Minderheitsmeinung ist und sie ohne politische Parteien die Politik nicht selbst gestalten können. Aber der wesentliche Unterschied zwischen der Demokratie im Nationalstaat und dem Mangel an Demokratie in Europa besteht darin, dass die politischen Parteien in der nationalen Politik um das Regierungsamt wetteifern, was dazu führt, dass sie auf die Debatten und Präferenzen ihrer potentiellen Wähler eingehen; in der Europäischen Union ist das unmöglich, weil es keine europäische Regierung gibt. Per definitionem sind die Mitgliedstaaten nicht rechenschaftspflichtig gegenüber einer europäischen Wählerschaft. Deshalb müssen sie auch immer nur einen Bruchteil der europäischen Bürger zufriedenstellen. Im Gegensatz dazu würde die Existenz einer demokratisch gewählten Regierung auf europäischer Ebene einen Wettbewerb zwischen politischen Parteien in Gang bringen, die zur Regierungsbildung eine Mehrheit der europäischen Bürger hinter sich bringen und ihnen deshalb die Wahl zwischen politischen Alternativen bieten müssten.(5) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Beschlüssen zu Maastricht und Lissabon behauptet, es könne keine europäische Demokratie geben, solange es kein europäisches »Volk« gäbe. Unsere Argumentation zeigt, dass eine funktionierende europäische Demokratie davon abhängt, ob es Institutionen gibt, die den Bürgern eine Wahlmöglichkeit bieten; nur solche Institutionen könnten der europäischen Politikgestaltung Legitimität verleihen.

Es existieren viele Theorien über demokratische Legitimität. Im Wesentlichen fordern alle, dass die Bürger über das Wahlrecht ein Mitspracherecht in Bezug auf die sie betreffende Politik haben müssen. Seit der Französischen Revolution erachten wir die Bürger und nicht die Regierungen als souverän; das heißt, dass sie das Recht zur Ernennung und Absetzung von Regierungen als ihre Vertreter zur Durchführung der von ihnen gewählten Politik haben. Karl Popper (1996: 124) zufolge gibt es zwei Arten von Regierungen: zum einen Regierungen in demokratischen Herrschaftsformen, die von den Menschen durch Parlamentswahlen abgesetzt werden können, und zum anderen Regierungen in von Popper als »Tyrannei« bezeichneten Herrschaftsformen, die von den Beherrschten nicht abgewählt werden können. Die Methode der Regierungszusammenarbeit bringt eine gehörige Portion Tyrannei in die europäische Politik, weil die Bürger den intergouvernementalen Konsens des Rates nicht abwählen können. Die Wahl eines Parlaments, die edelste aller demokratischen Handlungen, basiert auf allgemeinen Wahlen und einem universellen Wahlrecht, aber das intergouvernementale System beraubt die Bürger ihrer edlen demokratischen Aufgabe, denn es gibt keine allgemeinen Wahlen, durch die die Bürger den Rat ersetzen und die generelle politische Richtung ändern könnten. Sie können natürlich ihre nationale Regierung und damit ein Siebenundzwanzigstel der herrschenden Macht in Europa abberufen, aber das ist wohl kaum dasselbe wie »one man, one vote« in Parlamentswahlen.(6) Sie können auch das Europaparlament wählen, aber dieses Parlament ernennt (noch) keine europäische Regierung, in der Tat noch nicht einmal eine begrenzte Wirtschaftsregierung, weil der Rat sich Regierungsbefugnisse angeeignet hat. Deswegen ist die demokratische Legitimität des Europäischen Rats als einer Art Wirtschaftsregierung gelinde gesagt zweifelhaft: Er verstößt gegen den demokratischen Grundsatz »one man, one vote« und ähnelt einem sehr Langen Parlament (7), das nie aufgelöst und nie durch Parlamentswahlen gewählt, sondern sozusagen ausschließlich durch Nachwahlen besetzt wird. Darüber hinaus ist die Idee, Europas Wirtschaftsregierung auf die Eurogruppe zu beschränken, nichts weiter als der Versuch, ein europäisches Rumpfparlament zu errichten. Wer würde das noch Demokratie nennen? Wenn die europäische Politik nicht als »tyrannisch«, also undemokratisch, gelten will, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Wirtschaftsregierung von den Bürgern und nicht von den Regierungen gewählt wird.

Um voll und ganz verantwortlich zu sein, muss eine demokratische Regierung Richtlinien, Bestimmungen und Gesetze für die Bürger erlassen, von denen sie gewählt wird. Nicht mehr und nicht weniger. (8) Nationale Regierungen sind nicht berechtigt, Gesetze für Menschen zu verabschieden, die sie nicht gewählt haben, und genauso gilt, dass eine europäische Regierung sich nicht das Recht aneignen darf, politische Maßnahmen einzuführen, die nicht alle europäischen Bürger gemeinsam betreffen. Das Recht, eine Regierung zu ernennen, ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Befugnisse zur politischen Gestaltung der Regierung sich mit der Wählerschaft überschneiden, die sie ernennt. Habermas (1998: 100, Hervorhebung im Original) hat diese Voraussetzung in folgender klassischer Formulierung zum Ausdruck gebracht: »Der demokratische Verfassungsstaat ist seiner Idee nach eine vom Volk selbst gewollte und durch dessen freie Meinungs- und Willensbildung legitimierte Ordnung, die den Adressaten des Rechts erlaubt, sich zugleich als dessen Autoren zu verstehen.« Das Problem mit dem europäischen Intergouvernementalismus ist, dass er genau gegen dieses Prinzip verstößt.

Die Lösung des Problems besteht darin, Europas Bürgern das Recht zu gewähren, durch ihre Vertreter im Europaparlament eine europäische Regierung zu wählen, wobei die Befugnisse dieser Regierung ausschließlich auf die öffentlichen Güter und politischen Maßnahmen einzugrenzen sind, die alle Europäer gemeinsam betreffen. Bei diesen Kompetenzen geht es größtenteils um Wirtschaftsfragen in der Eurozone, sodass die europäische Regierung, zumindest am Anfang, lediglich eine Wirtschaftsregierung für die Eurozone wäre.(9) Die geeignete demokratische Kontrolle einer solchen Regierung muss durch den Umstand gewährleistet sein, dass das Europaparlament die Europäische Kommission dazu autorisiert, bestimmte politische Maßnahmen des makroökonomischen Managements einzuführen. Die Mitwirkung des Europaparlaments bei der Autorisierung der Kommission würde den Bürgern die Gelegenheit geben, im Zuge der Wahlen zum Europaparlament die groben Richtungen der Europapolitik zu debattieren und für eine der Alternativen zu stimmen.

Der Vertrag von Lissabon hat den Weg für neue demokratische Praktiken geöffnet, die das Europaparlament einschließen. Mit dem Vertrag wurde das »ordentliche Gesetzgebungsverfahren« (Art. 294) eingeführt, das dem Europaparlament ermöglicht, seine Rolle als Vertretung der europäischen Bürger in der Wirtschaftspolitik als mitentscheidende Instanz neben dem Rat einzunehmen. Mit diesem »ordentlichen Gesetzgebungsverfahren« wird die Arbeitsweise für die Interaktion von Kommission, Rat und Europaparlament festgelegt.(10) Im Vertrag wird ausgeführt, wie Rechtsakte zu verabschieden und für wen sie verbindlich sind (Art. 289 und 294). Da Rechtsakte der Zustimmung des Europaparlaments bedürfen, die die europäischen Bürger in ihrer Gesamtheit vertreten, hat dieses Verfahren das Potential, die demokratische Legitimität der Politikgestaltung auf europäischer Ebene beträchtlich zu erhöhen.(11) Somit verfügt die Europäische Union jetzt über ein institutionelles Rahmenwerk, durch das europäische politische Entscheidungen einen Grad an Legitimität erreichen könnten, der zuvor kaum zu erreichen war. Um diesen Fortschritt zu nutzen, ist es jedoch notwendig, dass die vorgeschlagenen Reformen zur multilateralen Überwachung der Wirtschaftspolitik die Rolle des europäischen Sekundärrechts stärken, wenn darin reguliert wird, was von »allgemeinem Belang« ist.


3. Eine Wirtschaftsregierung für Europa

Seit Mai 2010 haben alle europäischen Organe Reformvorschläge unterbreitet. Die Europäische Kommission formulierte Richtlinienentwürfe, in denen sich die Wünsche einiger Mitgliedstaaten nach strengerer Überwachung und entschiedenerer Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts wiederfinden. Die Van-Rompuy-Task-Force (European Council 2010) empfahl die maximale Ausnutzung aller Möglichkeiten, die das EU-Sekundärrecht innerhalb des existierenden gesetzlichen Rahmens der Europäischen Union bietet. Die Heranziehung des Sekundärrechts für Reformen ist insofern der richtige Ansatz, als europäische Richtlinien dem »ordentlichen Gesetzgebungsverfahren« unterliegen. Insgesamt hat jedoch keines dieser Organe den von der EZB geforderten »Quantensprung« gemacht. Und auch von Rompuys Arbeitsgruppe hat die ihrer Meinung nach nötigen »grundlegende(n) Veränderungen bei der wirtschaftspolitischen Steuerung in Europa, die dem Grad an wirtschaftlicher und finanzieller Integration, der durch die Währungsunion und den Binnenmarkt bereits erreicht wurde, angemessen sein müssen« in ihrem Abschlussbericht nicht konkretisiert. Darüber hinaus haben die deutsche und französische Regierung im Einklang mit dem, was man von der Regierungszusammenarbeit erwarten würde, die von der Kommission vorgelegten Vorschläge verwässert, sodass das Gespann Sarkozy-Merkel nach Jahrzehnten des franko-deutschen Integrationsantriebs nun effektiv zu einer Störkraft in der europäischen Integration geworden ist.

Trotz einiger Abweichungen erheben alle Vorschläge der Kommission, der EZB oder van Rompuys den Anspruch, eine effektivere wirtschaftspolitische Koordination anzustreben. Sie konzentrieren sich auf drei Hauptbereiche: 1. die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, 2. ein Verfahren zur Verhinderung von Ungleichgewichten innerhalb der Eurozone und 3. einen institutionellen Mechanismus für ein Krisenmanagement. Abgesehen von der deutschen Forderung, das Stimmrecht derjenigen Mitgliedstaaten im Rat auszusetzen, die zu hohe Haushaltsdefizite aufweisen, sind die meisten Vorschläge mit dem Vertrag von Lissabon vereinbar. Die Europäische Kommission hat ein detailliertes Paket mit Sekundärrechten erstellt, darunter vier Richtlinien zu finanzpolitischen Fragen einschließlich einer weitreichenden Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) sowie zwei neue Verordnungen, die darauf abzielen, entstehende makroökonomische Ungleichgewichte in der EU und der Eurozone zu erkennen und wirksam dagegen anzugehen.

Bisher wurde allerdings noch keinerlei Einigung darüber erzielt, wie ein Mechanismus zum Krisenmanagement aussehen könnte, und für welche Dauer er eingeführt werden sollte. Die deutsche Regierung will hier eine Vertragsänderung, um Komplikationen mit dem Bundesverfassungsgericht zu vermeiden. Im Abschlussbericht der Task-Force heißt es: »Die Schaffung eines Krisenbewältigungsrahmens erfordert weitere Beratungen. Die spezifischen Merkmale dieses Rahmens können unter Umständen Vertragsänderungen erforderlich machen, so dass der Europäische Rat befasst werden muss. Der Europäische Rat kann zudem noch andere offene Fragen, beispielsweise die Aussetzung des Stimmrechts, prüfen.« Am 29.10.2010 bat der Europäische Rat seinen Präsidenten van Rompuy um Klärung, ob Letzteres überhaupt zulässig sei. Es gibt kaum eindeutigere Verletzungen des demokratischen Rechts von Bürgern auf Repräsentation als den Entzug des Stimmrechts. Die deutsche Position ist nur unter der Annahme verständlich, dass »die Bürger dem Staat gehören«, sodass sie mit zu bestrafen sind, wenn ihre Regierung die Vorgaben nicht erfüllt. Darin spiegelt sich vielleicht konservative »Obrigkeitsstaatlichkeit« à la Merkel und Sarkozy, aber es ist kaum mit einer neuzeitlichen Demokratie in Europa vereinbar.

Im Folgenden stelle ich die Reformvorschläge in einer Zusammenfassung dar:


3.1 Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts

Die Europäische Kommission nimmt für sich in Anspruch, der Eurozone mit ihren Vorschlägen die nötige Kapazität und Stärke zu verleihen, um eine solide Wirtschaftspolitik zu verfolgen und damit zu nachhaltigerem Wachstum und Arbeitsplätzen beizutragen, was den Zielen der Strategie »Europa 2020« entspräche. Sie will »Zähne zeigen« und einen effektiven Durchsetzungsmechanismus in Gang setzen sowie den Ermessensspielraum bei der Verhängung von Sanktionen gegen Mitgliedstaaten der Eurozone einschränken. Anders gesagt wird der SWP zukünftig mehr auf »Regeln beruhen«, und für Länder, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, sind Sanktionen die automatische Konsequenz. In ihren vier Richtlinienentwürfen macht die Kommission folgende Vorschläge:

• Die präventive Komponente des SWP soll gewährleisten, dass die EU-Mitgliedstaaten in guten Zeiten eine umsichtige Finanzpolitik verfolgen, um das notwendige Polster für schlechte Zeiten zu bilden. Diese Komponente basiert auf einem neuen Konzept vorsichtiger Haushaltspolitik und erlaubt es der Kommission, im Fall einer erheblichen Abweichung von dieser Politik eine Verwarnung auszusprechen. Die korrektive Komponente des SWP soll dahingehend verändert werden, dass die Schuldenentwicklung genauer verfolgt werden kann. Mitgliedstaaten, deren Haushaltsdefizit 60 Prozent des BIP übersteigt, werden dazu angehalten, Maßnahmen zur Verringerung des Schuldenstands zu ergreifen. Die Größenordnung dieser Verringerung ist mit einem Zwanzigstel des Abstands zum 60 Prozent-Richtwert über drei Jahre angegeben.(12)

• Mit einer Verordnung über die wirksame Durchsetzung der Haushaltsüberwachung wird eine Reihe abgestufter finanzieller Sanktionen eingeführt, die gegen Mitgliedstaaten der Eurozone verhängt werden können. In einem ersten präventiven Schritt wird eine verzinsliche Einlage von den Mitgliedstaaten gefordert, die von der vorsichtigen Haushaltspolitik abweichen. Im zweiten korrektiven Schritt würde dann eine unverzinsliche Einlage von 0,2 Prozent des BIP verhängt, wenn in einem Land ein »übermäßiges Defizit« festgestellt wird. Diese Einlage würde in eine Geldbuße umgewandelt, falls das Land nicht den Empfehlungen nachkäme, das übermäßige Defizit zu verringern. Die Zinsgewinne aus den Einlagen und die Geldbußen würden unter den Mitgliedstaaten der Eurozone aufgeteilt, bei denen alles »in Ordnung« ist.

• Zur Absicherung, dass diese Maßnahmen nicht dadurch blockiert werden, dass die »Sünder« sich in Bündnissen zusammenschließen, soll für die Verhängung von Sanktionen ein Mechanismus der »umgekehrten Abstimmung« eingeführt werden: Das heißt, dass der Kommissionsvorschlag, eine Sanktion zu verhängen, als angenommen gilt, wenn er im Rat nicht durch eine qualifizierte Mehrheit abgelehnt wird. Sollte sich dieser Reformvorschlag durchsetzen, würde die Kommission effektiv zur Europäischen Wirtschaftsregierung werden.

• Bei der dezentralisierten Finanzpolitik ist es von entscheidender Bedeutung, dass die nationalen haushaltspolitischen Ziele im Einklang mit der gemeinsamen Währungspolitik stehen. Die Europäische Kommission schlägt vor, dass sich die Bestimmungen des SWP in den nationalen haushaltspolitischen Rahmenwerken widerspiegeln. Zu diesem Zweck hat sie in einer Richtlinie die von den Mitgliedstaaten zu befolgenden Mindestanforderungen für die Harmonisierung und Koordinierung ihrer Rechnungslegungssysteme, Statistiken, Prognosemethoden, haushaltsbezogenen Vorschriften und Verfahren sowie Finanzbeziehungen zu anderen Instanzen wie kommunalen und regionalen Behörden festgelegt. Während eines »Europäischen Semesters« würden die Mitgliedstaaten ihre nationale Politik mit den Anforderungen des SWP in Einklang bringen.


3.2 Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte in der Eurozone

Die Krise hat ans Licht gebracht, dass die Mitgliedstaaten mit großen Haushaltsdefiziten häufig auch unter anderen Ungleichgewichten leiden, vor allem in der Leistungsbilanz. Die Europäische Kommission hat daher ein neues »Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht« (Excessive Imbalance Procedure, EIP) vorgeschlagen. Es umfasst eine regelmäßige Bewertung der Risiken von Ungleichgewichten auf der Basis eines Scoreboards von Wirtschaftsindikatoren. Auf dieser Grundlage könnte die Kommission eine eingehende Überprüfung bei Mitgliedstaaten einleiten, bei denen ein Risiko erkannt wird. Wenn sich dabei herausstellen sollte, dass die Ungleichgewichte ein Risiko für das Funktionieren der Währungsunion darstellen, kann der Rat Empfehlungen aussprechen und das neugeschaffene »Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht« einleiten. Ein Mitgliedstaat, gegen den ein solches Verfahren eingeleitet wurde, müsste einen Korrekturplan vorlegen und der Rat würde die Frist für die Durchführung der Korrekturen festsetzen. Werden diese Korrekturmaßnahmen wiederholt nicht vereinbarungsgemäß durchgeführt, drohen dem Mitgliedstaat Sanktionen, die denen im Fall von übermäßigen Defiziten ähneln, aber nicht ganz so streng sind (eine Einlage von 0,1 Prozent statt 0,2 Prozent des BIP).

Diese Ideen stecken noch in den Kinderschuhen und es hängt viel davon ab, wie die Kommission das Scoreboard definieren wird. Es ist jedoch bereits absehbar, dass Deutschland sich dagegen wehren wird, seinen Überschuss zu korrigieren, und es bestehen auch berechtigte Zweifel daran, ob die Sanktionen gegen Mitgliedstaaten, die kontinuierlich Ungleichgewichte aufweisen, tatsächlich je verhängt werden.


3.3 Die verpasste Gelegenheit, die wirtschaftspolitische Steuerung Europas zu reformieren

Mit diesen Reformvorschlägen wurde die Gelegenheit verpasst, das europäische System der wirtschaftspolitischen Steuerung widerstandsfähiger zu machen. Stattdessen werden sie weitere politische Erschütterungen mit sich bringen; sie verbleiben vollkommen der Methode der Regierungszusammenarbeit verhaftet und erweitern nicht die demokratischen Rechte der Bürger. Dies wird besonders im Hinblick auf die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts deutlich.

Ausgangspunkt des offiziellen Vorschlags ist die Annahme, dass eine auf Regeln basierende Politik optimal ist, und dass es bisher nur deshalb zu Problemen gekommen ist, weil einzelne Mitgliedstaaten diese Regeln nicht befolgt haben. Daher werden eine strengere Überwachung zur früheren Entdeckung des Fehlverhaltens und härtere Sanktionen vorgeschlagen, um die Durchsetzung der Regeln sicherzustellen. Es ist jedoch alles andere als klar, ob die Grundannahme überhaupt richtig ist. Es trifft zwar zu, dass nicht nur die Karamanlis-Regierung, sondern fast alle Mitgliedstaaten häufig gegen die Regeln des SWP verstoßen haben, aber es stimmt auch, dass alle Mitgliedstaaten aufgrund eines starken Rückgangs ihres BIP während der Rezession eine rapide Verschlechterung ihrer öffentlichen Finanzen erlebt haben. Das hat die Verschuldungsstände nach oben gedrückt, oft weit über die Maastricht-Grenzen hinaus. Aber es ist überhaupt nicht sicher, ob die öffentliche Verschuldung in Europa wirklich unhaltbar ist. Bis jetzt hat niemand nachweisen können, dass irgendein Mitgliedstaat, nicht einmal Griechenland, effektiv zahlungsunfähig ist; in der Tat konnte ich Gegenteiliges belegen (Collignon 2010). Daher ist die Krise im europäischen Süden vielmehr eine Liquiditätskrise als eine unhaltbare Verschuldung. Die Finanzmärkte haben nur deshalb so nervös reagiert, weil keine Mechanismen vorhanden waren, mit denen eine tragfähige Refinanzierung fällig werdender Verbindlichkeiten garantiert war. Die Europäische Finanzstabilitätsfazilität, die am 9.5.2010 als ad-hoc-Kriseninstrument eingerichtet wurde, hat die Märkte beruhigt. Die daraus zu ziehende Lehre ist, dass die Eurozone mit der öffentlichen Verschuldung auf eine kohärentere Weise umgehen muss als unter dem SWP festgelegt. Das Schuldenmanagement erfordert nicht nur eine Kontrolle über die Defizite, sondern auch das Management von Geldflüssen (cash flow). Darüber hinaus erfordert eine mittelfristige Strategie zur Wiederherstellung des Vertrauens nicht nur eine finanzielle Konsolidierung durch Ausgabensenkungen, sondern auch eine Erhöhung der Staatseinnahmen durch ein schnelles Wirtschaftswachstum. Der SWP lässt den Aspekt steigender öffentlicher Defizite in einer schweren Rezession weitgehend außer Acht.

Dass die Wachstumsdimension nicht angesprochen wird, ist eine Folge der intergouvernementalen Konzentration auf die Finanzpolitik in der Eurozone. Alternative politische Prioritäten werden im Rat von der Mehrheit abgeblockt, der es gelingt, ihre politischen Präferenzen durch die Definition von scheinbar »neutralen« und einvernehmlichen finanzpolitischen Bestimmungen durchzusetzen. Hier ist nicht ausschlaggebend, ob die vorgeschlagenen politischen Maßnahmen richtig oder falsch sind, sondern dass es kein Forum gibt, in dem eine Debatte über alternative Ideen und abweichende politische Präferenzen stattfinden kann. Normalerweise finden derartige Debatten im Parlament statt, in dem die Regierung und die Opposition ihre jeweiligen Argumente vortragen, so dass die Wähler bei den Parlamentswahlen ihr Gefallen oder Missfallen zum Ausdruck bringen können. Europas intergouvernementales System der Politikgestaltung verhindert derartige Beratungen auf europäischer Ebene. In den nationalen Parlamenten finden diese Debatten möglicherweise statt, aber in den politischen Entscheidungen spiegeln sich lediglich die zwischen den Regierungen im Rat ausgehandelten Kompromisse wider, und mit keiner nationalen Parlamentswahl kann je eine auf europäischer Ebene getroffene Entscheidung rückgängig gemacht werden. Widerstand gegen die europäische Wirtschaftspolitik kann durch soziale Aktionen (Demonstrationen, Streiks) oder durch die Wahl von Randparteien zum Ausdruck gebracht werden, aber es gibt keinen institutionellen Mechanismus, durch den die Opposition Einfluss auf die politischen Orientierungen nehmen könnte. Die nationalen Regierungen rechtfertigen ihre Kompromisse mit dem TINA-Prinzip (There Is No Alternative), doch die Folge ist eine zügellose Untergrabung der demokratischen Legitimität der Politikgestaltung auf europäischer und nationaler Ebene. Die Reformvorschläge für Europas wirtschaftspolitische Steuerung lassen diesen Aspekt der politischen Legitimität völlig außer Acht.

Die globale Finanzkrise hat deutlich gemacht, dass in einem sich verändernden wirtschaftlichen Umfeld flexible politische Maßnahmen zu ergreifen sind, um die durch die Erschütterungen verursachte jeweilige besondere Situation zu bewältigen. Feste Regeln sind gut, um eine Konsistenz in der politischen Gestaltung über einen längeren Zeitraum sicherzustellen, in dem die Erwartungen gleichbleibend sind. Aber wenn die Bedingungen sich ändern oder eine Krise droht, muss eine einheitliche politische Autorität schnelle und kohärente Entscheidungen treffen können. Die offiziellen Reformvorschläge berücksichtigen aber diese Krisensituationen nicht. Sie fragen nicht, warum die Mitgliedstaaten die Bestimmungen nicht umsetzten, zu denen sie sich verpflichtet hatten, und auch nicht, warum nie Sanktionen verhängt wurden. Sie sehen gar nicht, dass die enttäuschenden politischen Ergebnisse des letzten Jahrzehnts die Folge rationaler Regierungen waren, die mit Trittbrettfahrerei und auf Kosten ihrer Nachbarländer versucht haben, ihre Sonderinteressen durchzusetzen. Die Kommission hat daher auch keine Erklärung, warum die neuen politischen Bestimmungen der schärferen Überwachung und härteren Sanktionen besser funktionieren sollten als die vorhergehenden Arrangements.

Aus der Wirtschaftstheorie ist jedoch bekannt, dass die sogenannten Probleme kollektiven Handelns (Olsen 1971) in einer relativ großen Gruppe von Akteuren immer dazu neigen, suboptimale Ergebnisse hervorzubringen. Die richtige Reaktion auf diese Probleme ist, immer mehr Entscheidungsbefugnisse einer europäischen Institution zu übertragen, um eine einheitliche Politikgestaltung mit einem beträchtlichen Grad an Ermessensfreiheit sicherzustellen. Die Europäische Zentralbank ließ das konventionelle Denken hinter sich, als sie einen Quantensprung in Bezug auf Europas wirtschaftspolitische Steuerung forderte und die Idee einer umgekehrten Abstimmung aufbrachte, mit der die Rolle einer Wirtschaftsregierung praktisch der Kommission zugewiesen würde. Dieser Vorschlag wurde jetzt vom Rat für ein sehr begrenztes Spektrum an politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Verhängung von Sanktionen gegen Mitgliedstaaten gebilligt. Das verleiht der Europäischen Kommission eine überaus bedeutende politische Rolle als Europas entstehende Wirtschaftsregierung, aber es generiert auch neue Probleme im Hinblick auf die Legitimität.


3.4 Die demokratische Revolution

Während alle Reformvorschläge darauf abzielen, die Effizienz der Governance der Eurozone zu verbessern, leiden sie unter der Vernachlässigung der demokratischen Legitimität. Europa kann nicht länger von »aufgeklärten Despoten« regiert werden; die Bürger fordern nun, ihre souveränen Rechte ernsthaft wahrnehmen zu können. Die wirtschaftspolitische Steuerung in Europa betrifft hier den Kern der Demokratie. Solange man davon ausgeht, dass die Mitgliedstaaten die Inhaber der Souveränität sind, gibt es keine Lösung für das Problem. Erkennt man jedoch an, dass die Bürger der Souverän ist (was seit der Französischen Revolution Teil der politischen Kultur Europas ist), ist die Lösung ganz einfach: Die Bürger müssen eine Regierung als ihre Vertretung autorisieren, die eine Politik in ihrem Interesse verfolgt, in der sich ihre Präferenzen widerspiegeln. Angesichts der Tatsache, dass die makroökonomische Politik in der Eurozone alle europäischen Bürger betrifft, muss ihnen auch das Recht eingeräumt werden, gemeinsam eine europäische Wirtschaftsregierung zu ernennen und diese wieder abzusetzen, wenn sie das wollen. Wenn die Kommission, wie die EZB vorschlägt, die richtige Institution ist, effizient im Gemeininteresse Europas politische Maßnahmen vorzuschlagen, ist das Europäische Parlament die einzige Institution, die solche Maßnahmen im Gemeininteresse legitimieren kann. Das soll nicht heißen, dass nationale Regierungen nicht ihre legitimen partiellen Interessen vertreten dürfen, aber natürlich kann ein Teil nicht für das Ganze sprechen. Das Europäische Parlament ist die Repräsentation der europäischen Bürger, und ihm muss daher eine Rolle bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik zufallen. Die von den europäischen Organen unterbreiteten Vorschläge erkennen das Parlament nicht als einen Akteur an; das ist der größte Irrtum in ihren Reformvorschlägen. Man kann nur hoffen, dass das Europäische Parlament die historische Gelegenheit am Schopfe packt, um Europas Governance und Zukunft zu verbessern.

Eine Europäische Wirtschaftsregierung mag eine Revolution sein, aber sie erfordert keine Veränderung des Vertrags von Lissabon. Wie oben erwähnt sollte eine Europäische Wirtschaftsregierung logischerweise aus der Europäischen Kommission hervorgehen, die durch den Vertrag damit betraut ist, den allgemeinen Interessen der Union zu dienen,(13) und die über die notwendigen administrativen Dienste dazu verfügt. Es besteht jedoch die Gefahr, dass eine Kommission, die in erster Linie von der Zustimmung des Rates abhängig ist, und deren Präsident von den Staats- und Regierungschefs statt durch universelles Wahlrecht und das Europäische Parlament gewählt wird, in dem Sinne bürokratisch und tyrannisch wird, dass sie den Bürgern keine Wahl über die politische Richtung gewährt, die sie selbst umgesetzt sehen will. Der richtige Umgang mit dieser Gefahr besteht darin, sich auf die Bestimmungen im Vertrag von Lissabon zu berufen, in denen dem Europarlament ein Zustimmungsrecht verliehen wird. Damit ist das »ordentliche Gesetzgebungsverfahren« gemeint, das bei der Verabschiedung von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen in Bezug auf die alle europäischen Bürger betreffende Wirtschaftspolitik zur Anwendung kommt.

Der Vorschlag, die demokratische Mitentscheidung des Europäischen Parlaments in Fragen der wirtschaftspolitischen Steuerung zu stärken, impliziert eine Veränderung der Machtverhältnisse zwischen den europäischen Institutionen, aber es erfordert keine neuen Institutionen. Der Vertrag von Lissabon stellt das notwendige institutionelle Rahmenwerk bereit. Allerdings werden sich die Mitgliedstaaten sicherlich gegen eine demokratische europäische Regierung wehren, die ihre eigenen Entscheidungen überstimmen könnte.

Eines sollte jedoch klar sein: Wenn sich Europas wirtschaftspolitische Steuerung verbessern soll, kann das Europäische Parlament nicht darauf warten, dass ihm - beispielsweise durch die Mitgliedstaaten - ein größeres Mitspracherecht und mehr Einfluss gewährt wird. Das Parlament muss sich dieses Recht nehmen. Es darf nicht konfliktscheu sein und muss bei wichtigen Angelegenheiten in Opposition zum Rat gehen sowie der Kommission die Zustimmung und Legitimität verweigern, bis diese Institutionen dem Willen der Mehrheit im Europäischen Parlament die gebührende Aufmerksamkeit zollen.


4. Demokratische Reformen von Europas wirtschaftspolitischer Steuerung

In diesem Beitrag geht es darum, wie Europas wirtschaftspolitische Steuerung demokratischer gestaltet werden könnte. Da die Finanzpolitik für die Umsetzung der kohärenten makroökonomischen Politik so entscheidend ist, werde ich im Folgenden einige Ideen umreißen, wie die Rolle des Europäischen Parlaments in einem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt werden könnte. Diese Ideen bedürfen natürlich detaillierter sachlicher und politischer Erörterungen. Aber die für diesen Zweck benutzten Prinzipien können auch auf andere Politikfelder übertragen werden.


4.1 Eine demokratische Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts

Wir haben gesehen, wie wichtig es für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungssituation ist, das aggregierte Haushaltsdefizit auf der Ebene der Eurozone zu definieren. Dennoch steht ein großer zentralisierter föderaler Haushalt nicht zur Debatte. Die Haushaltspolitik bleibt ein wichtiger Bereich der nationalen Verantwortung im Hinblick auf die Zuweisung von Ressourcen. Der europäische Haushalt macht weniger als ein Prozent aus, während die aggregierten öffentlichen Ausgaben der Mitgliedstaaten etwa 50 Prozent des BIP der Union darstellen (Europäische Kommission 2010a). Von Bedeutung für die makroökonomische Stabilität ist jedoch die aggregierte Haushaltslage, d. h. das Gesamtdefizit aller Mitgliedstaaten der Eurozone, und deshalb ist es notwendig, eine Haushaltspolitik zu definieren und zu implementieren, die auf die sich wandelnden Erfordernisse des Konjunkturzyklus reagiert. Da das aggregierte Haushaltsdefizit von dem Beitrag jedes einzelnen Mitgliedstaats abhängt, ist die Überwachung der nationalen Haushaltspolitik wichtig. Daher ist es nur vernünftig, dass sich die Reform der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung auf »(e)ine bessere Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und tiefergehende haushaltspolitische Koordinierung« konzentriert (Europäische Kommission 2010).

Es gibt allerdings auch erhebliche Probleme mit den Reformvorschlägen der Kommission und des Rats. Zum einen schlägt der Rat eine rein intergouvernementale Politikkoordination vor (mit der Kommission als Handlangerin). Wie wir aber gesehen haben, funktioniert die freiwillige Politikkoordination nur im Zusammenhang mit europäischen inklusiven Gütern, aber nicht im Hinblick auf die von der Währungsunion geschaffenen exklusiven Gemeingüter. Zum anderen streben die Vorschläge bürokratische statt demokratische Verfahren zur Überwachung und Sanktionsverfahren an. Mit diesen Reformen bewegen wir uns auf ein vordemokratisches ancien régime zu. Drittens gibt es keinen inneren Mechanismus, mit dem die Umsetzung der bürokratischen Politiküberwachung sichergestellt werden kann, weil die Legitimität, über Steuern, Ausgaben und Schulden zu entscheiden, den nationalen Parlamenten vorbehalten ist. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese Parlamente das tun, was auf europäischer Ebene am optimalsten wäre, weil Regierungen auf die partiellen Interessen ihrer Wählerschaft reagieren. Es ist daher äußerst zweifelhaft, ob die vorgeschlagenen Reformen zur wirtschaftspolitischen Steuerung Europas zukünftige Krisen vermeiden können. Hier ist ein anderer Ansatz erforderlich.

In einem früheren Artikel (Collignon 2010a) verwies ich auf die Idee handelbarer Verschuldungszertifikate (Casella 2001) und verknüpfte sie mit dem Ansatz der Grundzüge der Wirtschaftspolitik (siehe auch Amato 2002). Dieser Vorschlag könnte durch folgende Maßnahmen eine beträchtliche demokratische Dimension für die europäische Finanzpolitik eröffnen:

• Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik werden zu einem Rechtsakt der Union, mit dem die allgemeine politische Orientierung und die optimale Verschuldungsquote für die Eurozone festgelegt wird, also das aggregierte Haushaltsdefizit, das als konsistent mit dem wirtschaftlichen Umfeld (Konjunkturzyklus) und den strukturellen Anforderungen der europäischen Wirtschaft (öffentliche Investitionen, Alterung usw.) erachtet wird. Auf Grundlage der Einschätzung durch die Kommission wird der Rat zusammen mit dem Europäische Parlament eine Richtlinie verabschieden, mit der das Gesamtvolumen der möglichen Schulden für die Eurozone festgelegt und die Erlaubnis zu weiteren Kreditaufnahmen erteilt wird. Mit dieser Direktive werden den Mitgliedstaaten auch die Verschuldungszertifikate gemäß dem unten beschriebenen Verfahren zugeteilt.

• Das Europäische Parlament übernimmt eine aktive Rolle bei der Festsetzung des wünschenswerten aggregierten Gesamtdefizits. In Art. 136(b) des AEUV wird dem Rat die Aufgabe erteilt, »für diese Staaten Grundzüge der Wirtschaftspolitik auszuarbeiten, wobei darauf zu achten ist, dass diese mit den für die gesamte Union angenommenen Grundzügen der Wirtschaftspolitik vereinbar sind, und ihre Einhaltung zu überwachen«. A priori wird damit das Parlament ausgeschlossen, aber wer würde Einwände dagegen erheben, wenn der Rat mit Verweis auf Art. 289 und 290 festlegte, dass die Grundzüge der Wirtschaftspolitik durch ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren das wünschenswerte Gesamtdefizit der Eurozone definieren würde? Der Schlüssel zu so einer Reform ist der politische Wille.

• Wenn mit dem aggregierten Gesamtdefizit die externen Effekte der öffentlichen Ausgaben reguliert werden, die sich aus der jeweiligen Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten ergeben, müssen diese die Mittel auf eine Weise verwenden, die mit dem definierten Gesamtdefizit im Einklang steht. Zu diesem Zweck muss jedem Mitgliedstaat ein Anteil an der zulässigen Gesamtverschuldung zugeteilt werden. Das naheliegende Kriterium für diese Zuteilung ist der relative Anteil am BIP, aber es sind auch Modifikationen dieser Verteilung vorstellbar, in denen sich andere Kriterien widerspiegeln, beispielsweise das Überschreiten der 60-Prozent-Schuldenquote.

• Einige Länder wollen vielleicht höhere Kredite aufnehmen als ihnen in Form von Verschuldungszertifikaten zugestanden wurde. Die Kohärenz der Finanzpolitik kann nur bewahrt werden, wenn eine über das Limit hinausgehende Kreditaufnahme durch ein geringeres Schuldenvolumen anderer Länder ausgeglichen wird. Daher muss es die Möglichkeit horizontaler Transfers der Verschuldungszertifikate geben. In Anlehnung an die handelbaren Emissionszertifikate könnten diese Transfers auf einem speziell dafür eingerichteten Markt gehandelt werden. Tabelle 1 gibt einen Hinweis auf die Größenordnung solcher Transfers auf der Grundlage der aktuellen Verschuldung in der Eurozone im Jahr 2009.(14) Die Gesamtverschuldung betrug 574,7 Milliarden Euro, das entspricht 6,5 Prozent des BIP. Unter der Annahme, dass dies der wünschenswerte Betrag der aggregierten Verschuldung in der Krisensituation sein könnte, betrug Deutschlands tatsächlicher Schuldenanteil nur die Hälfte seiner BIP-Gewichtung, während Spaniens Anteil fast doppelt so hoch war. Mit dem System der handelbaren Zertifikate hätte die überschüssige Verschuldung von Irland, Griechenland, Frankreich und Spanien durch ungenutzte Zertifikate Deutschlands, Italiens, der Niederlande, Finnlands und Österreichs autorisiert werden können.

• Die Idee, Verschuldungszertifikate durch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zu schaffen, wird auch die Überwachung und Durchsetzung der vereinbarten gemeinsamen Finanzpolitik erleichtern. Ein europäisches Gesetz in Form einer Richtlinie könnte Finanzinstitutionen dazu zwingen, nur öffentlichen Instanzen Kredite zu gewähren, wenn diese Verschuldungszertifikate in der erforderlichen Höhe vorweisen können. Damit wird sichergestellt, dass keine Regierung gegen das festgelegte Gesamtdefizit verstoßen kann, das von den demokratischen Institutionen der Europäischen Union für optimal gehalten wurde. Im Gegensatz zu der von den europäischen Organen vorgeschlagenen bürokratischen Überwachung würde das System der Verschuldungszertifikate der Festlegung des wünschenswerten aggregierten Gesamtdefizits für die Eurozone demokratische Legitimität verleihen und die Umsetzung der Politik dezentralisieren. Die Einhaltung des Gesetzes würde von den Märkten überwacht.


Schlussbemerkung

In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass die wirtschaftspolitische Steuerung Europas nicht durch eine Verschärfung der allgemeinen Regeln für die intergouvernementale Politikkoordination zu verbessern ist. Dieses System bleibt anfällig, weil das wohlbekannte Problem des kollektiven Handelns kohärentes politisches Handeln verhindert, wenn die Wirtschaft durch Schocks von außen erschüttert wird. Insbesondere seit der Schaffung des Euro gibt es für die nationalen Regierungen starke Anreize, sich auf Kosten der Nachbarländer Vorteile zu verschaffen. Zur Berichtigung dieser destruktiven Tendenz muss die makroökonomische Politikgestaltung für die Eurozone in einer europäischen Wirtschaftsregierung zentralisiert werden, die auf natürliche Weise aus der Europäischen Kommission hervorgehen und sich zur Wirtschaftssteuerung auf das Sekundärrecht stützen würde. Diese zentralisierte Macht hätte jedoch nur ihre Berechtigung, wenn eine solche Regierung demokratisch kontrolliert würde; deshalb muss das Europäische Parlament als die Vertretung der Unionsbürger auf der Basis des im Vertrag von Lissabon geschaffenen »ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens« an der Verabschiedung des Sekundärrechts voll beteiligt werden.

Eine derartige demokratische Kontrolle der Kommission erfordert die Politisierung von Europas Wirtschaftsregierung. Die politischen Parteien müssen konkurrierende politische Programme anbieten, damit die Wähler eine Wahl haben. Die Aufstellung von Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vor den Wahlen zum Europäische Parlament würde die Wähler mobilisieren. Als ersten Schritt zu einem wirklich demokratischen Europa ist es jetzt an der Zeit, dass die fortschrittlichen Kräfte Europas auf eine demokratische Wirtschaftsregierung in der Eurozone drängen.


Tabelle 1. Abweichungen von aggregierten Verschuldungsanforderungen

 %-Anteile in:    
          Differenz

Schulden     BIP  
   % des BIP    In Mrd. Euro
Deutschland
Italien
Niederlande
Finnland
Österreich
Belgien
Zypern
Slowakei
Slowenien
Portugal
Irland
Griechenland
Frankreich
Spanien
Eurozone (13)
14,0      27,3 
13,9      17,0 
4,7       6,3 
0,9       2,0 
2,1       3,0 
3,5       3,8 
0,2       0,2 
0,7       0,7 
0,4       0,4 
2,2       1,8 
3,6       1,5 
5,3       2,6 
28,0      22,0 
20,5      11,5 
100,0     100,0 
   -13,3           -76,6    
    -3,1           -17,6    
    -1,6            -9,1    
    -1,1            -6,4    
    -0,9            -5,3    
    -0,3            -1,9    
     0,0            -0,2    
     0,0             0,0    
     0,0             0,1    
     0,5             2,8    
     2,0            11,8    
     2,7            15,8    
     6,0            34,6    
     9,0            52,0    
   100,0           100,0    
Eurozone Gesamt in Mrd. Euro
574,7    8908,5 
     6,5%                   


Anmerkungen:

(1) Diese Erklärung von Merkel, die sie an der Seite des französischen Präsidenten stehend abgab, klingt gefährlich nach dem Ludwig XIV. zugeschriebenen absolutistischen Leitsatz: »L'Etat, c'est moi«.

(2) Siehe z.B. Europaparlament 2010, wo ausdrücklich auf Win-Win- Situationen verwiesen wird, ohne Nullsummensituationen miteinzubeziehen.

(3) Eine Erörterung des Problems des kollektiven Handelns im Zusammenhang mit diesen neuen europäischen öffentlichen Gütern findet sich in Collignon (2010, 2003, 2007).

(4) Alan Walters (ein Berater Margaret Thatchers in den 1980er Jahren) hat dieses Phänomen der »kommunizierenden Röhren« in seiner Euro-Kritik mit Unterschieden bei den realen Zinssätzen in konjunkturstarken und -schwachen Volkswirtschaften erklärt. Das wirft jedoch die Frage auf, warum die Inflationsraten in effizienten Märkten zwischen Mitgliedstaaten einer Währungsunion voneinander abweichen können. Für Euroskeptiker wie Walters bestand die Konsequenz darin, sich nicht der Währungsintegration anzuschließen. Konservative Wirtschaftswissenschaftler fordern strukturelle Reformen, um die Märkte flexibler zu machen. Wenn jedoch die Investition von »Lebensgeistern« angetrieben wird, wie Keynes beobachtete, sind solche rotierenden Booms unvermeidbar und die Wirtschaftspolitik sollte darauf abzielen, Abweichungen vom Durchschnitt der Eurozone einzudämmen. Genau das wäre die Aufgabe einer effizienten Wirtschaftsregierung.

(5) Vertrag von Lissabon, Art. 10.4 EUV: »Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.«

(6) Die Auswirkung in Bezug auf qualifizierte Mehrheiten im Rat wird durch die in Artikel 16 des Vertrags von Lissabon und im Protokoll Nr. 36 angeführte Gewichtung der Stimmen festgesetzt.

(7) Als Langes Parlament (Long Parliament) wird das von Karl I. 1640 in England einberufene Parlament bezeichnet. Es erhielt seinen Namen aufgrund der Tatsache, dass durch einen Parlamentsbeschluss verfügt wurde, dass es nur im Einverständnis der Abgeordneten aufgelöst werden könnte, und dass diese Abgeordneten erst zwanzig Jahre später, 1660, nach dem Bürgerkrieg und der Englischen Republik, der Parlamentsauflösung zustimmten. Das Lange Parlament tagte von 1640 bis 1648 in immer gleicher Zusammensetzung, bis die New Model Army die Abgeordneten entfernte, die ihren Interessen nicht zustimmten. Die nach der »Säuberung« durch die Army verbliebenen Abgeordneten bildeten das sogenannte Rumpfparlament.

(8) Im Vertrag von Lissabon wird dem unter den Schlagwörtern Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen. Siehe Art. 5 EUV.

(9) Das hohe Maß an makroökonomischer Wechselwirkung in der Eurozone (siehe unten) rechtfertigt eine verstärkte Zusammenarbeit (Art. 20, EUV), insbesondere in der Eurozone (Art. 136, AEUV). Vertreter aus Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung gemäß Art. 139, AEUV, oder aus Mitgliedstaaten, die sich gegen die Einführung des Euros entschieden haben (Dänemark und Großbritannien), sind bei Fragen zur Euro-Governance nicht stimmberechtigt, aber an der Beratung beteiligt.

(10) AEUV, Art. 289: »Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren besteht in der gemeinsamen Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament und den Rat auf Vorschlag der Kommission. Dieses Verfahren ist in Artikel 294 festgelegt.«

(11) EUV, Art. 10.2.: »Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten.«

(12) Die Anwendung dieser neuen Bestimmung würde eine zu jedem Zeitpunkt tragfähige Staatsverschuldung in allen Mitgliedstaaten garantieren. Eine formale Berechnung als Beleg dafür findet sich in Collignon, 2010.

(13) Vertrag von Lissabon (EUV), Art 17: »Die Kommission fördert die allgemeinen Interessen der Union und ergreift geeignete Initiativen zu diesem Zweck. Sie sorgt für die Anwendung der Verträge sowie der von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen. Sie überwacht die Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Gerichtshofs der Europäischen Union. Sie führt den Haushaltsplan aus und verwaltet die Programme. Sie übt nach Maßgabe der Verträge Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus. Außer in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den übrigen in den Verträgen vorgesehenen Fällen nimmt sie die Vertretung der Union nach außen wahr. Sie leitet die jährliche und die mehrjährige Programmplanung der Union mit dem Ziel ein, interinstitutionelle Vereinbarungen zu erreichen.«

(14) Luxemburg und Malta waren in diesem Zusammenhang als Schuldner insignifikant und wurden nicht in die Tabelle aufgenommen.



Literatur:

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Über den Autor
Dr. Stefan Collignon ist Professor an der Scuola Superiore Sant'Anna, Pisa, und Gastprofessor an der Universität Hamburg.

Die Internationale Politikanalyse (IPA) ist die Analyseeinheit der Abteilung Internationaler Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung. In unseren Publikationen und Studien bearbeiten wir Schlüsselthemen der europäischen und internationalen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Unser Ziel ist die Entwicklung von politischen Handlungsempfehlungen und Szenarien aus der Perspektive der Sozialen Demokratie.

Diese Publikation erscheint im Rahmen der Arbeitslinie »Internationale Wirtschaftspolitik«,
Redaktion: Dr. Björn Hacker, bjoern.hacker@fes.de

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ISBN: 978-3-86872-593-3


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2011