Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

WIRTSCHAFT/110: Die Krise des Euroregimes (Sozialismus)


Sozialismus Heft 1/2011

Die Krise des Euroregimes

Von Joachim Bischoff und Richard Detje


Dass die Bude brennt, ist kein Geheimnis. Fall zu Fall-Entscheidungen, wann die Feuerwehr ausrückt, um Brände in Griechenland, Irland, Portugal oder Belgien zu löschen, überzeugen niemanden - schon gar nicht Finanzmarktakteure. Deshalb haben sich die EU-Staats- und -Regierungschefs schließlich im Dezember 2010 auf die Einführung eines dauerhaften Rettungsschirms für überschuldete Mitgliedstaaten und damit für die europäische Gemeinschaftswährung geeinigt. Sogar eine koordinierte Wirtschaftspolitik soll es geben, auch wenn die deutsche Bundeskanzlerin abwiegelt: "das ist ein langer Prozess".

Die entscheidende Frage bleibt: Reicht die Beendigung des provisorischen Rettungsschirms, die Verbesserung der Kapitalausstattung der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Druck zur Sanierung der Haushalte aus, um genügend Zeit für die Entwicklung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu schaffen? Nicht der Euro ist das Hauptproblem, sondern die großen Differenzen bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder, die sich in der letzten Zeit eher erweitert als verringert haben.

Für die Einrichtung des Krisenfonds ist eine Änderung des Lissabon-Vertrags nötig.(1) Der ab 2012 gültige neue Mechanismus - "European Stability Mechanism (ESM)" - könnte Euro-Staaten in Schuldennöten unter strikten Auflagen mit Krediten unter die Arme greifen, wobei er ähnlich funktionieren würde wie die derzeitige, im Falle Irlands zum Einsatz kommende "European Financial Stability Facility" (EFSF). Der ESM soll Mitte 2013 die beiden europäischen Teile des derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirms ablösen, darunter die EFSF. Die deutsche Regierung hat durchgesetzt, dass Hilfen aus dem Fonds nur als "letztes Mittel" gewährt werden sollen. Wie viele Milliarden Euro der neue Schirm umfassen soll, ist noch offen.

Neu definiert werden soll die Rolle der Gläubiger: Hat ein Mitgliedstaat nicht "nur" ein Liquiditäts-, sondern ein Insolvenzproblem, kann er den ESM nur anzapfen, wenn er mit seinen privaten Gläubigern bereits einen Plan zur Umstrukturierung seiner Schulden ausgehandelt hat. Dies soll zusammen mit harten finanzpolitischen Auflagen sicherstellen, dass die Nutzung des ESM möglichst vermieden wird.


Politik auf Zeit

Durch diese Beschlüsse will man den Druck der Finanzmärkte mildern. Denn diese haben die politischen Akteure im vergangenen Jahr beständig vor sich hergetrieben.(2) Im Mai 2010 hatten die Staats- und Regierungschefs schon einmal geglaubt, mit der Aufspannung des Rettungsschirms in Höhe von 750 Mrd. Euro genügend Zeit gewonnen zu haben, um weiteren Spekulationen der Märkte gegen einzelne EU-Staaten den Boden zu entziehen. Schon damals musste sich die deutsche Regierung anhören, dass wir es mit einem hartnäckigeren Problem zu tun haben, mit dem "dritten Akt der globalen Finanzkrise".(3) Allerdings hielt auch der Sachverständigenrat, der diese Warnung ausgesprochen hatte, die "ungewöhnlich umfangreichen, koordinierten Hilfsmaßnahmen" seitens der Staaten, der EU, von EZB und IWF zu jener Zeit für einen nachhaltigen Faktor, der die Situation stabilisieren könnte. Davon kann ein halbes Jahr später keine Rede mehr sein.

Sicher: Die beteiligten Euro-Länder wollen weitere Währungskrisen vermeiden. Daher jetzt die Position: Die Währungsunion erfordert eine politische Union. Der französische Präsident Sarkozy will nach Abstimmung mit der deutschen Bundesregierung Vorschläge für eine Wirtschaftsregierung vorlegen. Eine substanzielle Koordination der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik steht jedoch vor dem Problem unterschiedlicher Interessenlagen. Da ist auf der einen Seite der Club um Deutschland, die Niederlande, Österreich, Finnland und Fall zu Fall auch Frankreich, der auf eine Beruhigung der Finanzmärkte durch Verstetigung des wirtschaftlichen Aufschwungs und "eiserne Haushaltsdisziplin" setzt. Bis Mitte 2011 müsse man noch "auf Sicht" fahren, um dann ein hartes Austeritätsregime zu installieren.

Auf der anderen Seite hat sich eine äußerst heterogene Gruppe zusammengetan, die es für unabdingbar hält, mehr Zeit zu kaufen

- mit Euro-Bonds, die die Zinslast jener Staaten senken, die im Zentrum der Attacken der Finanzmärkte stehen,
- und/oder mit der Verdoppelung der Spannweite des Euro-Rettungsschirms, wie von IWF und Europäischer Zentralbank gefordert,
- und/oder mit neuen Instrumenten für die den Rettungsfonds verwaltende EFSF, beispielsweise dadurch, dass diese künftig selbst Staatsanleihen ankauft.

Es geht in dieser Auseinandersetzung auch um die Hegemonie in Europa. Politiker aus Luxemburg warnen Deutschland und Frankreich vor einem "Machtanspruch", "der eine gewisse Überheblichkeit und Arroganz ausdrückt". Die Marschroute der Union könne "nicht von den großen Ländern vorgeschrieben" werden.

Das ist das Drama, das sich in Europa zur Zeit abspielt: zwei Varianten eines Spiels auf Zeit - die eine teurer als die andere -, die tatsächlich die Zukunft verspielen. Denn die Zeit für die Strategievariante des "sich durchwurstelns" ist abgelaufen.


Gefahr der Insolvenz

Zwar beansprucht das Kreditpaket für Irland nur etwa 10% der Kapazitäten des Rettungsschirms. Ein Programm zugunsten von Portugal, das derzeit am gefährdetsten gilt, wäre noch problemlos zu finanzieren. Sollte die Krise indessen über Portugal hinausgreifen, stößt das ganze Modell an Grenzen: Es müssten immer weniger Staaten für Darlehen an immer mehr Kreditnehmer bürgen.

Auf Seiten der Finanzmarktakteure, die an der Verschuldungskrise in der EU kräftig verdienen, überwiegt die Skepsis. So hat die Rating-Agentur Moody's die Kreditwürdigkeit Irlands drastisch herabgestuft. Obwohl die EU und der IWF das Land mit Milliarden stützen, senkte Moody's die Bewertung gleich um fünf Stufen von Aa2 auf Baa1. Sollte die irische Wirtschaft in den nächsten Jahren stagnieren, statt wie angenommen mit 2,25% wachsen, würde die Schuldenquote 2015 155% erreichen. Es sieht eher danach aus, dass Irland ein Insolvenz-, statt nur ein Liquiditätsproblem hat.

Der Fall Griechenland stellt sich ähnlich dar. Als Griechenland im Frühjahr 2010 die Finanzhilfe in Anspruch nahm, geschah dies nicht, weil der Staat am nächsten Tag überhaupt keine liquiden Mittel mehr gehabt hätte. Auslöser war vielmehr, dass Griechenland eine Anleihe zurückzahlen und sie über den Markt hätte refinanzieren müssen - zu sehr teuren Konditionen. Wären die hohen Zinsen bei immer mehr neuen Anleihen fällig geworden, hätte das den finanziellen Spielraum des Landes extrem eingeschränkt. Bei einem durchschnittlichen Zins von 6,5% (über alle Laufzeiten) hätte Griechenland im Jahr 2012 immerhin 41% seiner Staatseinnahmen für Zinsen ausgeben müssen. Mit dem Finanzpaket von IMF, EU und Euroländern, das Zinssätze von rund 5% ermöglicht, werden es "nur" 32% sein. Aber auch hier ist unterstellt, dass der massive Sparkurs die Akkumulationsdynamik nicht abwürgt, denn dann wäre Griechenland bald wieder in der Größenordnung einer Zinslast von über 40%.

Ab welchem Zins ein Staat in ein Finanzierungsproblem gerät, ist aufgrund der unterschiedlichen Laufzeiten und Volumina der Staatsanleihen schwer zu berechnen. Angenommen wird: Eine Zinslast ist für Staaten dann kritisch, wenn sie ca. 30% der Staatseinnahmen übersteigt; ab 40% ist eine positive Wende praktisch ausgeschlossen.

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich taxierte die Gesamtforderungen an Griechenland, Irland, Portugal und Spanien im Dezember 2010 bei 2,2 Bio. US-Dollar. Für Deutschland ergeben sich laut BIZ Forderungen von 513 Mrd. US-Dollar (388 Mrd. Euro). Davon entfallen auf Griechenland 65,5 Mrd., Portugal 44,2 Mrd., Irland 186,5 Mrd. und Spanien 216,6 Mrd. Eine Absenkung der Zinslast hilft diesen Ländern gewiss, aber dauerhaft ist dies nur, wenn auch die Wirtschaftskraft entwickelt wird.

Irland und Portugal wenden gegenwärtig rund 19% ihrer Einnahmen für den Zinsendienst auf, Spanien etwa 12%. Spanien hat also noch Luft bis zu jener "Gefahrenzone", in der die Zinslast 30% übersteigt. Und auch das vermeintlich so stabile Frankreich ist mittlerweile ins Fadenkreuz der Märkte geraten. Die FAZ titelte am 21.12.2010 "Zweifel an Frankreichs erstklassiger Bonität", denn Sorgen um die sinkende Kreditwürdigkeit haben die Risikoprämien Frankreichs auf eine Rekordhöhe anschwellen lassen. "Die Absicherung einer fünfjährigen Forderung von einer Million Euro gegenüber dem französischen Staat kostete eine jährliche Versicherungsprämie von 10.600 Euro. Händler führen dies auf die Befürchtung zurück, Frankreich könne seine erstklassige Bonitätsnote (AAA/Aaa) bei den Ratingagenturen verlieren."

Der Hintergrund: Frankreichs Kreditbedarf ist auf mittlere Sicht so hoch wie in keinem anderen Land des Euroraums. Die Neuverschuldung der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU wird bis zum Jahresende insgesamt 149,7 Mrd. Euro betragen. Das ist in absoluten Beträgen so viel wie noch nie und relativ zum Bruttoinlandsprodukt nur knapp unter der Verschuldungsrate von Griechenland, Irland und Portugal. "Zur Verschuldung des französischen Zentralstaats kommen die Milliarden-Defizite der staatlichen Sozialversicherung und der Kommunen hinzu. In zwei Jahren wird die auf 55 Milliarden Euro geschätzte Zinslast fast so schwer wiegen wie die Staatsausgaben für Bildung und Erziehung." (FAZ, 21.12.2010). Noch kritischer wird die Lage für Belgien beurteilt.

Die weitere Entwicklung hängt davon ab, ob erstens die Ökonomie auf mittlere Sicht in allen Euroländern stabilisiert werden kann und zweitens das allgemeine Zinsniveau eingefroren bleibt und die Anleger wenig Anlass für hohe Risikoaufschläge sehen. Der Risikoaufschlag für die "PIIGS"-Staaten hat sich von Anfang 2010 bis November - vor der Ankündigung des Rettungspakets für Irland - um mehr als 200% verteuert, gemessen an dem arithmetisch gewichteten Credit-Default-Swap (CDS) auf Staatspapiere mit fünfjähriger Laufzeit. Im Vergleich dazu hat sich der CDS auf deutsche Staatsanleihen nur um rund 50% verteuert.


Schlechtes Krisenmanagement

Die Krise des Euroregimes beeinflusst die Verbraucher in Deutschland im Moment noch wenig. Die Konsumausgaben steigen seit Monaten und Ökonomen gehen davon aus, dass der private Konsum im kommenden Jahr einer der Haupttreiber der Konjunktur sein wird. Mit dieser Sonderkonjunktur wäre es aber vorbei, wenn sich die EU-Krise weiter zuspitzt. Trotz fulminanter Exporterfolge in Asien bleibt die deutsche Wirtschaft in hohem Maße von den europäischen Exportmärkten abhängig und profitiert vom Euro.

Barry Eichengreen, der mit seinem Dubliner Kollegen Kevin O'Rourke früh auf die historische Dimension der Krise aufmerksam gemacht hatte, hält eine Zuspitzung der Lage für unausweichlich. Das Krisenmanagement in Europa würde keine Gelegenheit auslassen, "alles schlimmer zu machen" (Handelsblatt, 1.12.2010). Hinter dem Spiel auf Zeit stecke nichts anderes als die Schröpfung der Masse der SteuerzahlerInnen (nicht der Vermögenden), der BezieherInnen von Sozialleistungen und der öffentlich Beschäftigten, um weiterhin "Reparationen" an die Anleihebesitzer zahlen zu können.

Worum es nicht geht, liegt auf der Hand: Schuldenabbau für die am härtesten betroffenen Länder beispielsweise dadurch, dass Gläubiger einen Teil ihrer Forderungen abschreiben müssen - stattdessen werden im Falle Griechenlands wie Irlands außerhalb und im Rahmen des so genannten Rettungsschirms weitere Schulden aufgetürmt. Warum? "Die politische Führung in Deutschland - und mit ihr jene in Großbritannien und Frankreich - ist zu Tode darüber erschrocken, was eine Umschuldung der irischen [griechischen, portugiesischen, spanischen, vielleicht belgischen] Bankschulden für das eigene Bankensystem bedeuten würde" (Eichengreen).

Das europäische Krisenmanagement versucht zwar, den Schein der Steuerungsfähigkeit zu wahren, wird aber eng an der Kandare der Finanzmärkte gehalten. Die Crux: Wie die Entwicklung in Griechenland und Irland zeigt, bringt diese Politik die wirtschaftliche Realität weiter an den Abgrund. Denn wie 5,8% und mehr Zinsen gezahlt werden könnten von Volkswirtschaften, die nicht in einer entsprechenden Größenordnung wachsen, sondern "gesundschrumpfen" sollen (H.-W. Sinn, Handelsblatt 10.12.2010), ist ebenso ein Mirakel wie die Kunst, aus Kohle Gold zu machen.

Eine einfache Rechnung: Sollte Irland seinen Kreditrahmen des Rettungsfonds voll ausschöpfen, würde sich die Verschuldung bis 2014 auf 175 Mrd. Euro verdoppeln. Pro Jahr wären 8,5 Mrd. Euro an Zinsen fällig, gegen die schlechterdings nicht angespart werden kann. Die Verschuldungsspirale dreht sich folglich weiter - und schneller. Nehmen wir nur den nächsten Kandidaten: Portugal hat im vergangenen Jahrzehnt eine durchschnittliche Wachstumsrate von einem Prozent gehabt; wenn selbst die noch geschrumpft wird, müssen Zinsen und Tilgung aus weiterer Verschuldung finanziert werden.

Pessimisten werden deshalb wohl Realisten sein. Kenneth Rogoff zum Beispiel, der damit schon vor dem Ausbruch der Großen Krise richtig lag. Für ihn ist der Euro-Club "wahrscheinlich erst in der Mitte" der Verschuldungs-Austeritäts-Währungskrise angekommen. "Die so genannten PIGS-Staaten können sich auf ein verlorenes Jahrzehnt gefasst machen, ähnlich wie Lateinamerika in den 1980er Jahren. Lateinamerikas Wiedergeburt und moderne Wachstumsdynamik entfalteten sich erst wirklich, nachdem der Brady-Plan 1987 massive Schuldenabschreibungen in der gesamten Region organisierte. Eine ähnliche Umschuldung ist in Europa das plausibelste Szenario." (Financial Times Deutschland [FDT] 7.12.2010).

Doch hoppla. Im Falle Argentiniens ging es um die Umschuldung von 170 Mrd. US-Dollar. Allein im Fall Griechenland ginge es bei einem Volumen von über 300 Mrd. Euro um die größte Umschuldungsaktion seit den 1930er Jahren - plus Irland, Portugal usw.

Bei derart düsteren Prognosen empfiehlt Kevin O'Rourke seinen Landsleuten, es den IsländerInnen gleich zu tun: Dort hatten die WählerInnen nach dem Zusammenbruch der Banken in einem Referendum entschieden, die ausländischen Gläubiger nicht zu bedienen. Eine Empfehlung aus Verzweiflung denn die Hoheit über das Budget haben die irische Regierung und das irische Parlament längst an den IWF und die EU-Kommission abgegeben.

Wenn vielleicht auch keinen realpolitischen Ausweg, so doch eine klare Richtungsentscheidung kann man den Vorschlägen von Joseph Stiglitz abgewinnen (FTD, 9.12.2010). Tief betroffen von den Vorschlägen, die Obamas "überparteiliche" Kommission zur Defizitreduzierung demnächst auch öffentlich vorlegen wird, ruft Stiglitz noch einmal die entscheidenden Verschuldungsfaktoren der vergangenen zehn Jahre in Erinnerung:

"1. Eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben, angeheizt von zwei sinnlosen Kriegen. 2. Zunehmende Ungleichheit, wobei das oberste Prozent der Bevölkerung mehr als 20% des Nationaleinkommens einstreicht, begleitet von einer Schwächung der Mittelschicht: Das mittlere Einkommen der US-Privathaushalte ist im letzten Jahrzehnt um mehr als fünf Prozent gefallen... 3. Zu geringe Investitionen in den staatlichen Sektor, einschließlich Infrastruktur, was auf dramatische Weise durch die Dammbrüche in New Orleans belegt wurde. 4. Eine Zunahme der wohltätigen Maßnahmen für Unternehmen - von Bankenrettungspaketen über Ethanolsubventionen bis hin zu einer Fortsetzung der Agrarsubventionen, auch wenn die Welthandelsorganisation entschieden hat, dass diese Subventionen illegal sind."

Stiglitz empfiehlt, es anders herum zu machen: rentierliche öffentliche Investitionen kräftig erhöhen; Militärausgaben noch kräftiger kürzen; Beihilfen und Subventionen insbesondere für Banken, Pharmakonzerne und die Agrarlobby abschaffen; Streichung der Sonderrechte für Kapitalgewinne und Dividenden im Steuersystem: Erhöhung der tatsächlich gezahlten Steuern, was in erste Linie verstärkte Steuerprüfung bei Vermögenden und Unternehmen bedeuten würde.

Es gibt nur ein Problem - und das liegt im bestimmenden Einfluss mächtiger Lobbygruppen auf die politische Legislative und Exekutive. Wie in den 1930er Jahren müssen Veränderungen der institutionellen Regulation des Kapitalismus im harten Kampf gegen die alten Interessen erzwungen werden. Roosevelt sagte 1936 in einer Rede: "Wir kämpfen seit vier Jahren erbittert gegen die Hochfinanz und die Wirtschaftsbosse, die gewissenlosen Spekulanten, gegen die Klassenspaltung, den Partikularismus und gegen die Kriegsprofiteure. Sie alle hatten sich daran gewöhnt, die amerikanische Regierung als Anhängsel ihrer Geschäfte zu betrachten. Wir wissen nun, vom organisierten Geld regiert zu werden, ist genauso gefährlich, wie von der Mafia regiert zu werden."

Der US-Ökonom Roubini trifft aus unserer Sicht den Kern der Problematik: "auch ein größerer Rettungsschirm ist nicht ausreichend, um die Insolvenzprobleme von Griechenland, Irland und möglicherweise Portugal und Spanien zu lösen. Daher müssen in einem zweiten Schritt alle ungesicherten Gläubiger von Banken an deren Verlusten beteiligt werden, damit die Staatshaushalte nicht noch mehr belastet werden und alles in einem finanziellen Desaster endet" (HB, 20.12.2010). Wir werden also neben der dauerhaften Einrichtung eines Rettungsfonds und dessen quantitativer Erweiterung auch die baldige Einführung der "collective action clauses" (CAC) sehen. CAC sind Klauseln in einzelnen Obligationen, die z.B. angeben, mit welcher Mehrheit Gläubiger eine Restrukturierung der Schulden gutheißen müssen, damit diese auch den Rest bindet. Festgelegt wird auch, wie die Gläubiger einer Emission in Verhandlungen mit dem Schuldner repräsentiert werden und welche Daten der Schuldner den Gläubigern liefern muss.


Alternativen oder Gefahr des Rechtsrutsches

Das ehemalige Mitglied der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken im Europäischen Parlament, André Brie, sieht weder bei der Sozialdemokratie noch bei der Linken tragfähige Positionen, die den europapolitischen Herausforderungen gerecht werden.(4) Zu Recht weist er darauf hin, dass in Deutschland Rot-Grün die politische Verantwortung für den Lissabonprozess trägt, "der genau diesen Vorrang des Wettbewerbs (und zwar nicht eines Unternehmens-, sondern staatlichen Standortwettbewerbs) mit all seinen unsozialen Deregulierungs- und 'Flexibilisierungs'schritten und den 40 Maßnahmen der EU-Kommission zur Deregulierung des europäischen Finanzmarktes bedeutete". Und SPD und Grüne hätten die verfassungsrechtliche Festschreibung dieser Politik im Verfassungs- wie im Lissabonvertrag in Kauf genommen. Auf Seiten der Linken vermisst er eine offensive proeuropäische Position, die diese Fehler vermeidet. Seine Formel "Keine Integration ohne Sozialunion" ist zwar richtig, greift aber zu kurz.

Die Bewährungsprobe für die EU insgesamt kommt 2011. Dann steigen die Refinanzierungsbedarfe der Banken auf Rekordwerte und ebenso der Kapitalbedarf der Staaten. Gleichzeitig geht es wieder runter mit der Konjunktur. Und in der Folge auch mit den Staatseinnahmen. Das Schlüpfen unter den Rettungsschirm überbrückt Liquiditätsengpässe. Aber die zentrale Herausforderung der hoch verschuldeten Euro-Länder ist die de-facto-Insolvenz ihres Finanzsystems. Neue Kredite lindern momentane Not, verschärfen aber letztlich das Schuldenlastproblem.

Die Euro-Krise ist längst noch nicht vorbei. Die Spannungen an den Finanzmärkten werden auch 2011 bleiben. Ohne Kapitalschnitt (hair cut), bei dem ein größerer Teil der Ansprüche abgeschrieben werden muss, gebt es nicht. Das Problem ist allerdings, dass diese Regelung erst ab Sommer 2013 gelten soll. Der Mechanismus kommt damit viel zu spät.

Eine schnelle, einfache und ordnungspolitisch saubere Lösung wird es nicht geben. Mit dem Ausschluss von Mitgliedstaaten oder Träumen von einem Nord-Euro ist nichts gewonnen. Die BürgerInnen der betroffenen Länder würden versuchen, ihr Geld in Sicherheit zu bringen - um zu verhindern, dass ihre Ersparnisse in die neue Währung umgetauscht werden, die dann an den Devisenmärkten abwertet. Kollabiert der Euro, kommt es zu Bankenkrisen und Staatsbankrotten. Ein Ende des Euros wird das angeschlagene Banken- und Finanzsystem nicht überleben. Die Politik muss sich entscheiden. Entweder sie baut jetzt eine glaubwürdige und damit langfristig stabile Wirtschafts- und Fiskalunion auf oder sie riskiert einen Zusammenbruch der Währungsunion und damit des Euro. Die Kosten einer Auflösung der Währungsunion wären sehr hoch. Der Austritt oder Ausschluss einiger Mitgliederländer aus dem Euro-Währungsverbund würde in eine schwere Erschütterung des europäischen und internationalen Finanzregimes umschlagen. Die Bürger der betroffenen Länder würden sich schlagartig ihre Bankguthaben in Euro-Banknoten auszahlen lassen, um der erwarteten Abwertung der nationalen Währung zu entgehen. Kein Bankensystem der Welt könnte einem solchen Ansturm standhalten. Und umgekehrt: Würde Deutschland aussteigen, würden Finanzinvestoren ihre Guthaben in Portugal oder Griechenland auflösen und auf Konten in Deutschland umbuchen - also eine Kapitalflucht aus den ohnehin schwachen Ländern auslösen.

Mit dem Euro wankt die gesamte europäische Statik. Das Euro-Regime war von vornherein eine Fehlkonstruktion; aber die beseitigt man nicht, in dem man den Euro wieder abschafft. Regelwerke für eine positive Integration durch eine gemeinschaftliche Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik sind bisher Fehlanzeige. Ebenso wie eine demokratische Verfassung. Die Frustration über Eurotechnokraten und Bürgerferne überrascht nicht. Nun kommt die Angst um das Geld und die Wut über die Banken hinzu. Die Welle der Euro-Feinde könnte demnächst in vielen Ländern die politischen Kräfteverhältnisse umpflügen nach Rechtsaußen.

Es kann nur einen gemeinsamen Ausweg geben. Der Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse und die Ausweitung der Binnenökonomie in den Kernländern sind unverzichtbare Beiträge zur Stabilisierung der EU. Notwendig ist eine Reform, die statt auf einer Säule - der Geld- und Währungspolitik - auf drei weiteren Säulen aufbaut: einer gemeinsamen Fiskalpolitik, die von oben nach unten umverteilt, einer Wirtschaftspolitik, die mit öffentlichen Investitionsprogrammen Europa sozial und ökologisch erneuert, und einer Sozialpolitik, die Armut beseitigt und Entwicklungschancen schafft. Das wird Deutschland Milliarden Euro kosten, aber ein Scheitern der Währungsunion mit anschließender Krise der EU wäre bestimmt sehr viel teurer.


Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) Der Vertrag wird um zwei Sätze ergänzt: "Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert werden kann, wenn dies für die Bewahrung der Stabilität der Euro-Zone als Ganzes unabdingbar ist. Die Bewilligung jedes finanziellen Beistands unter diesem Mechanismus wird unter strikte Bedingungen gestellt."

(2) Siehe hierzu ausführlicher unseren Beitrag "Überlebenskrise der EU" in Sozialismus 12/2010, S. 13ff.

(3) Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung. Jahresgutachten 2010/11, S. 68.

(4) André Brie: Europapolitische Herausforderungen der Linken und ihre Defizite in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 12/2010, S. 44ff.


*


Quelle:
Sozialismus Heft 1/2011, Seite 2 - 6
Redaktion Sozialismus
Postfach 10 61 27, 20042 Hamburg
St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg
Tel.: 040/28 09 52 77-40, Fax: 040/28 09 52 77-50
E-Mail: redaktion@sozialismus.de
Internet: www.sozialismus.de
Die Zeitschrift ist ein Forum für die politische
Debatte der Linken. Manuskripte und Zuschriften
sind daher ausdrücklich erwünscht.

Sozialismus erscheint 11 x jährlich.
Einzelheft: 6,20 Euro,
Jahresabonnement: 62,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2011