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PARTEIEN/311: Jeremy Corbyn bleibt Chef der Labour Party (SB)


Jeremy Corbyn bleibt Chef der Labour Party

Blair-Fraktion mit ihrem Putschversuch vorerst gescheitert


Kaum, daß sich am Vormittag des 24. Juni das Votum einer Mehrheit der Menschen in Großbritannien und Nordirland bei der Volksabstimmung am Tag davor für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union abzeichnete, da setzten schon die Gegner Jeremy Corbyns an, diesen als Vorsitzenden der Labour Party abzusetzen. In einem Interview der allmorgentlichen Today Show von BBC Radio 4 gab Tony Blairs Vertrauter, der Ex-Minister und EU-Handelskommissar Peter Mandelson, der in den neunziger Jahren "New Labour" aus der Taufe gehoben hatte, Corbyn die Hauptschuld für den Brexit, weil dieser sich angeblich nicht energisch für den Verbleib in der EU engagiert hatte. Seitdem läuft eine in ihrer Heftigkeit und Einseitigkeit beispiellose Schmutzkampagne, um Corbyn zu demontieren und die sozialdemokratische Partei als Instrument einzusetzen, damit die EU-Befürworter im britischen Establishment auf dem parlamentarischen Weg den Brexit doch noch rückgängig machen können.

Corbyn, seit Jahrzehnten eine Ikone der sozialdemokratischen Linken, der im Frühjahr 2003 die größte Massendemonstration der britischen Geschichte gegen die Beteiligung seines Landes am bevorstehenden Irakkrieg organisiert und damit für immer die Feindschaft des Klüngels um den damaligen Premierminister Tony Blair auf sich gezogen hatte, war im Sommer 2015 nach der verheerenden Niederlage der Labour Party bei den Unterhauswahlen überraschend Parteichef geworden. Seine Wahl erfolgte aufgrund einer Regeländerung, die Blair und Mandelson eigens zur Beschneidung der Macht der Gewerkschaften eingeführt hatten, wonach die Wahl des Vorsitzenden der Labour Party mittels einer landesweiten Abstimmung unter den einfachen Mitgliedern zu erfolgen habe. Seitdem wird innerhalb der Unterhausfraktion gegen Corbyn opponiert, weil er viele der "Reformen" der Blair-Ära für falsch hält, das Bahnsystem verstaatlichen, Hochschulgebühren abschaffen, das Gesundheitssystem nicht privatisieren, den sozialen Wohnungsbau vorantreiben und das britische Atomwaffenarsenal einmotten will. Wegen letzteren Ziels hat es bereits offene Putsch-Drohungen seitens der Generalität für den Fall gegeben, daß Labour mit Corbyn an der Spitze die nächste Unterhauswahl gewinnt.

Bei vielen einfachen Briten kommt das klare Bekenntnis Corbyns zum Sozialismus und die Wünschenswertigkeit seiner Realisierung gut an. Nach der Wahl Corbyns zum Vorsitzenden verzeichnete die Labour-Partei einen rasanten Anstieg bei der Anzahl neuer Mitglieder. Diese bestehen aus älteren Menschen, die angewidert vom Reformkurs Blairs der Partei den Rücken gekehrt hatten, sowie aus Jugendlichen, die in der heutigen Wirtschaft keinen Arbeitsplatz finden bzw. sich wegen der horrenden Immobilienpreise niemals eine eigene Wohnung werden kaufen können. Letztlich war der Brexit-Votum Ausdruck eines gesellschaftlichen Protests gegen die zunehmende Prekarisierung der Lebensverhältnisse im allgemeinen. Nichtsdestotrotz haben die EU-freundlichen Blairites die durch das Brexit-Votum ausgelöste politische Instabilität - der konservative Premierminister David Cameron war gleich am Tag nach der Abstimmung zurückgetreten - als Gelegenheit für einen Putschversuch gegen Corbyn genutzt.

Am 26. und 27. Juni traten nacheinander sämtliche Mitglieder des Schattenkabinetts zurück. Ihr Wortführer, der einstige außenpolitische Sprecher Hillary Benn, behauptete, daß Corbyn, weil er die britische Arbeiterschaft von der Notwendigkeit eines Verbleibs Großbritanniens in der EU nicht habe überzeugen können, weg müsse (Corbyn hatte sich sehr wohl gegen den Brexit ausgesprochen, gleichzeitig aber bei landesweiten Auftritten den Verbleib mit der Forderung nach Reformen der EU-Institutionen hin zu einem sozial gerechteren Europa verknüpft). Bei einem Vertrauensvotum in der Fraktion am 28. Juni verlor Corbyn mit 172 zu 40 Stimmen. Doch der selbsternannte demokratische Sozialist gab dem Druck der Mehrheit der eigenen Fraktion nicht nach. Seine Standfestigkeit wurde durch eine enorme Welle der Unterstützung außerhalb des Parlaments honoriert. Entsetzt über die machiavellistischen Machenschaften der Labour-Fraktion sowie den positiven Anklang bei den großen Medien traten noch mehr Menschen den Sozialdemokraten bei.

Wegen der Konfrontation wurde im Juni entschieden, eine Kampfabstimmung über den Parteivorsitz abzuhalten. Mit dem perfiden Versuch, Corbyns Teilnahme von der Unterstützung einer Mehrheit der Fraktionskollegen abhängig zu machen, sind die Anhänger von "New Labour" nach juristischer Überprüfung der Parteisatzung doch noch gescheitert. Owen Smith, ein gesichtsloser "gemäßigter" Pragmatist aus Wales, wurde als Gegenkandidat aufgestellt. Über Monate wurde über die Presse der Eindruck erzeugt, unter Corbyn sei die Labour-Partei zu einem antisemitischen, trotzkistischen Altlinkenverein mutiert, der den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen sei. Die durchsichtige Diffamierungskampagne, an der nicht nur konservative Zeitungen wie Daily Telegraph, Times und Sun, sondern auch der linksliberale Guardian und sogar der staatliche BBC aktiv teilnahmen, hat nicht gefruchtet. Inzwischen steht die Zahl der Labour-Parteimitglieder bei mehr als 600.000. Sie ist damit die mitgliederstärkste Partei Westeuropas. Und diese Mitgliedschaft hat bei der Wahl des Vorsitzenden mit 62 Prozent für Corbyn gestimmt. Smith hat lediglich 38 Prozent erhalten. Am 24. September, am Vorabend des diesjährigen Labour-Parteitags in Liverpool, wurde das Ergebnis der Abstimmung bekanntgegeben.

Nach dem Sieg hat Corbyn, wie so häufig in den letzten Wochen, seinen Gegnern die Hand des Friedens gereicht und zur Zusammenarbeit aufgerufen. Man müsse den Zulauf neuer Mitglieder, der auf eine große Unzufriedenheit mit der Politik der regierenden Konservativen hindeute, nutzen, um einen Sieg von Labour bei der nächsten Unterhauswahl zu erreichen und eine generelle Abkehr von der herrschenden neoliberalen Wirtschaftslehre zu verwirklichen, so Corbyn. An letzterem sind Leute wie Hillary Benn und Owen Smith jedoch nicht im geringsten interessiert. Wenn, denn wollen sie wie einst Blair und Mandelson Großbritannien im Sinne des Großkapitals regieren. Darum ist der laufende Parteitag in Liverpool nicht von Einigkeit, sondern Zwist gekennzeichnet. Amanda Eagle, die als erste um den Parteivorsitz gebuhlt und später zugunsten Smiths auf eine eigene Kandidatur verzichtet hatte, bezichtigt Corbyn und den Schatten-Finanzminister John McDonnell, innerhalb der Labour Party eine "populistisch-autoritäre Herrschaft" zu etablieren. Hillary Benn wirft Corbyn "Isolationismus" vor, weil dieser die Beteiligung britischer Streitkräfte am Syrienkrieg unter dem Vorwand der Bekämpfung der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) weiterhin ablehnt. Die elitären Blairites werden nicht ruhen, bis sie entweder die Kontrolle über die Labour-Partei zurückerlangt oder diese durch Austritte gespalten haben. Auf keinen Fall wollen sie zulassen, daß Labour unter Corbyn an die Macht kommt und der bodenständige 67jährige Abgeordnete aus dem Londoner Wahlbezirk Islington seine sozialistischen Ideen in die Tat umzusetzen versuchen könnte.

26. September 2016


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