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PARTEIEN/312: Theresa May kündigt "harten Brexit" aus der EU an (SB)


Theresa May kündigt "harten Brexit" aus der EU an

In Irland hallt das Brexit-Erdbeben nach


Der Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der EU, der sogenannte Brexit, nimmt inzwischen konkrete Gestalt an. Nach dem entsprechenden Votum einer Mehrheit der Wähler im Vereinigten Königreich bei einer Volksbefragung am 23. Juni, dem Rücktritt David Camerons als Premierminister und Vorsitzender der regierenden konservativen Partei am darauffolgenden Tag und dessen Ablösung in beiden Posten durch die bisherige Innenminister Theresa May wenige Wochen später, blieb der Kurs Londons in der Europapolitik lange unklar. Starke Kräfte in Politik und Wirtschaft drängten auf eine zweites Referendum bzw. eine Abstimmung im Parlament, um Großbritannien doch noch in der EU zu halten. Am 2. Oktober, dem Vorabend des diesjährigen Parteitages der Tories, hat May für eindeutige Verhältnisse gesorgt. Ende März kommenden Jahres wird London Absatz 50 des Lissaboner Vertrages aktivieren und damit in Brüssel formell das Austrittsgesuch Großbritanniens stellen. Gemäß des Lissaboner Vertrag sollen die Verhandlungen über die Trennung Großbritannien von der EU innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein, doch können sie angesichts der komplizierten Materie theoretisch eventuell etwas länger dauern.

Über Monate war gerätselt worden, was May bei ihrer Antrittsrede als Premierministerin am 13. Juli vor ihrem Amtssitz in Number 10 Downing Street mit der Aussage "Brexit heißt Brexit" gemeint hatte. Die EU-Befürworter hofften, die neue "eiserne Lady" wollte nur die Brexiteers besänftigen und das Ergebnis des Plebiszits nach außen hin anerkennen, um einen "sanften Brexit", das hieße Verbleib Großbritanniens in der europäischen Freihandelszone ähnlich wie Norwegen, während Kompromisse hinsichtlich der Freizügigkeit mit Brüssel auszuhandeln wären. In eine ähnliche Richtung wiesen Spekulationen, May wolle mit der Aufnahme der wichtigsten EU-Skeptiker ins Kabinett - Boris Johnson als Außenminister, David Davis als Brexit-Minister und Liam Fox als Handelsminister - die drei parteiinternen Rivalen an der Mammutaufgabe scheitern lassen, um danach der britischen Öffentlichkeit sagen zu können, ein drastischer Bruch mit den europäischen Partnern sei unrealistisch, London müsse sich mit einer Kompromißlösung bis hin zum Verbleib in einer "reformierten" EU begnügen.

Das Interview, das May am 2. Oktober im BBC-Fernsehen gab, hat die Hoffnungen der britischen EU-Freunde, es werde zu einer wie auch immer gearteten Revision des Referendumsergebnisses kommen, zur Makulatur gemacht. Die Tory-Chefin legte sich nicht nur auf ein Datum für die Aufnahme der Austrittsverhandlungen fest, sondern erklärte zudem, alle EU-Richtlinien, die derzeit aufgrund des European Communities Act (ECA) aus dem Jahr 1972 Gültigkeit im Vereinigten Königreich haben, sollten nächstes Jahr durch die geplante Verabschiedung eines Great Repeal Bill ins britisches Recht übertragen, um danach im einzelnen vom Londoner Parlament überprüft und entweder beibehalten oder abgeschafft zu werden.

Keine 24 Stunden nach dem Interview in der "Andrew Marr Show" hat May bei der Eröffnungsrede auf dem konservativen Parteitag in Birmingham zur Freude der EU-Skeptiker in den eigenen Reihen ihr Bekenntnis zum "harten Brexit" bekräftigt. Die Entscheidung über die Aktivierung von Artikel 50 stehe weder dem Unterhaus noch dem House of Lords, sondern allein der Regierung zu, so May. Sie erteilte den zahlreichen Forderungen nach einer zweiter Volksbefragung eine endgültige Absage und kündigte an, den künftigen Alleingang Großbritanniens in der Welt zu einem Erfolg führen zu wollen. Da die Einwanderung das entscheidende Thema für den Ausgang des Referendums gewesen ist, stellte May fest, es werde keinen Kuhhandel zwischen London und Brüssel wie etwa die Beibehaltung der Freizügigkeit gegen weiteren Zugang zum EU-Binnenmarkt für britische Handelsgüter geben. Nach dem Austritt aus der EU werde Großbritannien wieder ein "völlig unabhängiges und souveränes Land" werden und als solches "selbst entscheiden", wie es "die Einwanderung regeln" wolle, so May.

Eine wirklich sehr unangenehme Begleiterscheinung der Brexit-Debatte in Großbritannien ist ein Erstarken des britischen, besser gesagt englischen Chauvinismus. Seit dem Referendum schießt in Großbritannien die Zahl ausländerfeindlich motivierter Straftaten in die Höhe. Jeden Tag werden Menschen, die keine weiße Hautfarbe haben oder sich in anderen Sprachen als Englisch unterhalten, auf offener Straße oder im öffentlichen Nahverkehr eingeschüchtert bzw. tätlich angegriffen. Als Boris Johnson auf dem konservativen Parteitag die Zukunft des Vereinigten Königreichs in der Nach-EU-Ära beschrieb, stellte er quasi eine Wiederauferstehung des British Empire in Aussicht nach dem Motto, am britischen Wesen solle die Welt genesen. Die Briten trügen damals, heute und morgen "Freiheit" und "Demokratie" in die Welt hinaus, die königlichen Streitkräfte verliehen London auf der internationalen Bühne Schlagkraft, während die BBC das von allen beneidete Instrument der "soft power" schlechthin sei, so Johnson.

Auch May konnte sich auf dem Parteitag einen Angriff auf die Schotten nicht verkneifen. Beim Referendum im Juni hatten die Menschen nördlich von Hadrians Mauer mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert. Seitdem droht die Autonomieregierung in Edinburgh unter der Führung von Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) mit einer erneuten Durchführung einer Volksbefragung über die Unabhängigkeit Schottlands, weil vor zwei Jahren eine knappe Mehrheit der Schotten für die Beibehaltung der Union mit England nur dadurch zustande kam, daß man den Leuten erklärt hatte, nur so könnte man den Verbleib Schottlands in der EU garantieren. Angesichts der Brexit-Entscheidung fühlen sich viele Schotten betrogen. Laut Umfragen liegen die Unabhängigkeitsbefürworter wieder vorne.

Für ihre Noch-Landsleute in Schottland hatte May eine unmißverständliche Botschaft parat: "Weil wir bei der Volksbefragung als ein Vereinigtes Königreich entschieden haben, werden wir als ein Vereinigtes Königreich [mit Brüssel - Anm. d. SB-Red.] verhandeln. Es gibt keine Ausstiegsklausel aus dem Brexit. Und ich werde niemals zulassen, daß Uneinigkeit stiftende Nationalisten die kostbare Union zwischen den vier Nationen unseres Vereinigte Königreichs unterminieren." Am westlichen Ufer der Irischen See dürfte Mays Formulierung von den "vier Nationen" ein gewisses Stirnrunzeln ausgelöst haben, denn streng genommen gibt es neben Engländern, Schotten und Walisern keine nordirische Nation. Die meisten Katholiken in den sechs nordöstlichsten Grafschaften der grünen Insel betrachten sich als Iren und streben die Wiedervereinigung mit der Republik an, während die meisten Protestanten sich als nordirische Briten empfinden.

Der Ausgang des Brexit-Referendums hat die Frage der Wiedervereingung Irlands neu entfacht. Die meisten Menschen in Nordirland - die Katholiken mit großer Mehrheit und eine Minderheit der Protestanten - haben für den Verbleib in der EU votiert. Nun befürchten alle auf der Insel, daß die Verhandlungen zwischen London und Brüssel in Disharmonie verlaufen und zu einer festen EU-Außengrenze zwischen Nordirland und der Republik führen könnten. Die Regierung in Dublin läuft gegen ein solches Szenario Sturm und verlangt die Beibehaltung der visumsfreien Common Travel Area, wie sie seit 1923 zwischen Irland und Großbritannien existiert.

Seit dem 5. Oktober wird vor dem High Court in Belfast eine Klage gegen den Austritt Nordirlands aus der EU verhandelt. Die Klageführer berufen sich auf das Karfreitagsabkommen, mit dem 1998 nach dreißig Jahren die nordirischen "Troubles" beigelegt wurden. Nach dem Abkommen, das beiderseits der inneririschen Grenze per Plebiszit ratifiziert wurde, kann Nordirland nur mit der Republik vereinigt werden, wenn eine Mehrheit der Bürger im Nordteil der Insel dies beschließt. Damals hat die Republik ihren verfassungsmäßigen Anspruch - Artikel 2 und 3 - auf ganz Irland aufgegeben, dafür die Wiedervereinigung des nationalen Territoriums zu einem einzig mit friedlichen Mitteln zu erreichenden Staatsziel erklärt. Doch das Recht, das damals die Republik den Mitbürgern in spe in Nordirland zugestand, verlangen die Klageführer, darunter die beiden nationalistischen Parteien Sinn Féin und Social Democratic Labour Party (SDLP), wiederum von London. Vor Gericht vertreten ihre Anwälte die Auffassung, daß die Regierung des Vereinigten Königreichs seit 1998 nicht mehr nach eigenem Gutdünken über das Schicksal Nordirlands entscheiden darf. Hinzu kommt die Tatsache, daß das Karfreitagsabkommen jedem Menschen in Nordirland das Recht auf die irische Staatsbürgerschaft und damit auf einen EU-Reisepaß garantiert. Die Beschwerdeführer lehnen eine Beschneidung dieses Rechts ebenfalls als unzulässig ab. Wie man sieht, wirft die Verwirklichung des Brexit gewaltige Probleme - und ganz besonders in Irland - auf.

6. Oktober 2016


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