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PARTEIEN/325: Ex-IRA-Chef und Sinn-Féin-Anführer McGuinness gestorben (SB)


Ex-IRA-Chef und Sinn-Féin-Anführer McGuinness gestorben

Chefarchitekt des nordirischen Friedensprozesses wurde 66 Jahre alt


Martin McGuinness, der ehemalige Stellvertretende Premierminister Nordirlands, ist in den frühen Morgenstunden des 21. März im Alter von 66 Jahren an den Folgen der Herz- und Nierenerkrankung Amyloidose im Krankenhaus Altnagevin in seiner Heimatstadt Derry gestorben. In zahlreichen Stellungnahmen haben ehemalige und amtierende Politiker in Irland, Großbritannien und den USA das Lebenswerk jenes Mannes, der vom einfachen Fleischerlehrling zum "Topterroristen" und später zum Hauptförderer der sogenannten Friedensprozesses in Nordirland aufstieg, gewürdigt. Der Tod von McGuinness markiert für den irischen Republikanismus das Ende einer Ära. Die Generation nordirischer Katholiken, die sich Ende der sechziger Jahre gegen die gewalttätige Unterdrückung durch protestantische Unionisten auflehnten und später in den achtziger und neunziger Jahren den bewaffneten Kampf der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) durch den Marsch der Sinn-Féin-Partei durch die Institutionen ersetzten, verläßt allmählich die politische Bühne. Ihr oberstes Ziel, die Aufhebung der künstlichen Trennung Irlands und die politische Wiedervereinigung der Insel, erscheint - dank Brexit und des demographischen Wandels - näher denn je.

Der 1950 geborene McGuinness wurde nach Ausbruch der "Troubles" in Nordirland 1968/1969 in jungen Jahren Stellvertretender Oberkommandeur der IRA in Derry. Er hatte diese Position inne, als am 30. Januar 1972 - dem "Bloody Sunday" - in der Stadt am Foyle britische Fallschirmjäger 14 unbewaffnete Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration erschossen. Lange Zeit behauptete das britische Militär, auf die Soldaten sei zuerst geschossen worden, sie hätten lediglich das Feuer erwidert. In der britischen Presse wurde McGuinness als der mutmaßliche IRA-Schütze gehandelt. Nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 wies McGuinness beim Auftritt vor dem Bloody-Sunday-Tribunal im Jahr 2007 die Vorwürfe gegen ihn zurück. Tatsächlich hatte die IRA, um an jenem Tag keine bewaffnete Konfrontation entstehen zu lassen, im Vorfeld der Demonstration ihr gesamtes Arsenal aus Derry geschafft. Unter Eid gab McGuinness vor dem Saville-Tribunal erstmals zu, Mitglied der verbotenen IRA gewesen zu sein, behauptete jedoch, bereits 1974 aus der Untergrundarmee ausgeschieden zu sein.

Niemand glaubt den letzten Teil dieser Aussage. Bis zu seinem Tod war McGuinness neben seinem Belfaster Kollegen und Kampfgefährten Gerry Adams der wichtigste Anführer des irischen Republikanismus in Nordirland. Bereits 1972 flog die britische Regierung Adams, McGuinness und andere IRA-Spitzenvertreter zu Geheimverhandlungen über eine Beendigung des Nordirland-Konfliktes nach England ein, die leider scheiterten. Nur wegen ihrer unangefochtenen Führungspositionen im Armeerat, dem obersten Entscheidungsgremium der IRA, gelang es den beiden Männern 1986, die Delegierten auf einem Parteitag von Sinn Féin davon zu überzeugen, ihren Boykott nordirischer politischer Institutionen aufzugeben. Der dramatische Sieg des IRA-Hungerstreikenden Bobby Sands 1981, wenige Tage vor seinem Tod, bei einer Nachwahl zum britischen Unterhaus hatte der Entscheidung der Sinn-Féin-Spitze für die zweigleisige Strategie "Armalite and ballot box" - in der einen Hand das Gewehr und in der anderen der Wahlzettel - den Weg bereitet.

Während Gerry Adams Anfang bis Mitte der neunziger Jahre durch seine Gespräche mit John Hume, damals Anführer der katholischen Social Democratic Labour Party (SDLP), den Weg Sinn Féins aus der politischen Isolation hinein in die reguläre Politik bahnte, war es McGuinness, der mittels jahrelangen Geheimkontakten mit dem MI6-Vertreter Michael Oatley die Regierung in London von der Bereitschaft der IRA überzeugte, unter bestimmten Bedingungen die Waffen in Nordirland schweigen zu lassen. Bis heute gibt es Ex-IRA-Kämpfer, die der Meinung sind, McGuinness habe damit nicht nur Verrat begangen, sondern sich sogar als feindlicher Spitzel Londons betätigt. Auch wenn der von Adams und McGuinness eingeschlagene Weg Sinn Féin von einer revolutionären Bewegung in einen Stabilisierungsfaktor des nordirischen Zwergstaats verwandelt hat, ist ihr Verdienst beachtlich, den mörderischen Bürgerkrieg, bei dem keine der beiden Seiten die andere bezwingen konnte, beendet zu haben.

Seit 1998 hat sich McGuinness mehr als jeder andere Politiker in Nordirland bemüht, die Gräben zwischen Katholiken und Protestanten, Nationalisten und Unionisten, Republikanern und Loyalisten, wieder zuzuschütten. Obwohl angeblich ein geschickter und knallharter Verhandlungsführer hinter verschlossenen Türen, hat er im Umgang mit dem politischen Gegner stets demonstrativ Respekt und Wärme an den Tag gelegt. Der überraschende, für manche Steinzeit-Unionisten schockierende, weil herzliche Umgang zwischen ihm und dem früheren Haßprediger Reverend Ian Paisley, als ab 2007 Sinn Féin mit der Democratic Unionist Party (DUP) eine Koalitionsregierung in Belfast bildete, brachte den beiden Männern den Spitznamen "The Chuckle Brothers" ein. Die Begegnung, bei der McGuinness 2012 Königin Elizabeth II. bei einem Besuch in Belfast erstmals die Hand schüttelte, ging als wichtiger Schritt der Versöhnung in die Geschichtsbücher ein.

Seit DUP-Chef Paisley 2011 aus Altersgründen aus der Politik ausgeschieden ist, haben sich die Beziehungen zwischen Sinn Féin und der DUP - letztere zunächst unter der Führung von Peter Robinson und seit 2015 von Arlene Foster - kontinuierlich verschlechtert. Immer wieder wurden die Interessen von Sinn Féin, bestes Beispiel deren Forderung nach der Verabschiedung eines bereits 2006 beschlossenen Gesetzes zur Beendigung der rechtlichen Benachteiligung der gälischen Sprache, vom Koalitionspartner DUP schlichtweg ignoriert und ihre Bemühungen um den im Karfreitagsabkommen vorgesehenen Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Nordirland und der Republik von Foster und Konsorten torpediert. Darum hat McGuinness im vergangenen Januar die Reißleine gezogen.

In einer dramatischen Pressekonferenz hatte der von seiner Krankheit schwer gezeichnete McGuinness seinen Rücktritt als Stellvertretender Premierminister verkündet und die Entscheidung Sinn Féins, die Koalition aufzukündigen und Neuwahlen erforderlich zu machen, auf die Uneinsichtigkeit und Kompromißlosigkeit der DUP zurückgeführt. Der Zeitpunkt für die rote Karte, die Sinn Féin der DUP damit zeigte, war bestens gewählt. Schon länger waren die Sinn-Féin-Wähler mit der Toleranz ihrer Partei gegenüber der DUP unzufrieden. Darüber hinaus hatte sich die DUP mit ihrer Befürwortung eines Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union in eine politische Minderheitsposition in Nordirland manövriert. Unter anderem aus Angst vor der möglichen Wiedererrichtung einer festen Grenze zur Republik und dem Verlust großzügiger Subventionen für die Landwirtschaft hatte eine Mehrheit der nordirischen Wähler bei der Brexit-Abstimmung am 23. Juni 2016 für den Verbleib in der EU votiert.

Bei den durch den Rücktritt von McGuinness erforderlich gewordenen Wahlen zum nordirischen Parlament am 2. Juni haben die unionistischen Parteien erstmals ihre Mehrheitsposition eingebüßt. Wegen der hohen Wahlbeteiligung - viele desinteressierte Nationalisten sind diesmal wieder an die Urne gegangen - hat Sinn Féin ihr historisch bestes Ergebnis erzielt und nur rund 1000 Stimmen und einen Sitz weniger als die DUP bekommen. Vor dem Hintergrund des Brexit und der Verschiebung zugunsten der Nationalisten im Belfaster Parlament Stormont ist die Wiedervereinigung Irlands aktuell das große Thema. Sinn Féin verlangt von der EU einen Sonderstatus nach dem Austritt Großbritanniens, während der irische Premierminister Enda Kenny bei den Brexit-Verhandlungen im Namen der Bevölkerung auf der ganzen Insel sprechen will. Fianna Fáil, traditionell die größte politische Partei Irlands, will demnächst einen 12-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung Irlands vorlegen, um von Sinn Féin, die auch im Süden auf dem Vormarsch ist, in der nationalen Frage nicht überflügelt zu werden. So gesehen hat Martin McGuinness am Ende seines Lebens durch die geschickte Instrumentalisierung des eigenen nahen Todes vielleicht seinen größten politischen Erfolg erzielt.

21. März 2017


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