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PARTEIEN/368: Brexit - EU-Vertrag und Machterhalt ... (SB)


Brexit - EU-Vertrag und Machterhalt ...


143 Tage vor dem geplanten Austritt des Vereinigte Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union am 29. März 2019 herrscht immer noch völlige Unklarheit darüber, wie und unter welchen Bedingungen die komplizierte Prozedur erfolgen soll oder wird. Die eine Möglichkeit lautet völliges Scheitern der Verhandlungen zwischen London und Brüssel, wodurch es zum sogenannten "No Deal"-Brexit mit katastrophalen Folgen für den europäischen Handel, vor allem aber für das Vereinigte Königreich - Chaos an den Häfen am Ärmelkanal, allgemeine Panik wegen drohender Lebensmittelknappheit - und Noch-EU-Mitglied Republik Irland käme. Die andere Möglichkeit besteht in einer Kompromißlösung, welche die umfangreichen Beziehungen des UK zu den EU-27 rettet und sie auf eine neue, wie auch immer geartete Stufe hebt. Doch davon ist man heute offenbar weit entfernt.

Das größte Problem bei den Verhandlungen ist weiterhin die ungelöste Frage der künftigen Handhabung der inneririschen Grenze. Als 2016 eine knappe Mehrheit der Briten bei einer Volksbefragung für den EU-Austritt votierte, legte sich die konservative Premierministerin Theresa May auf Drängen der Europhoben in der eigenen Partei darauf fest, daß der Brexit der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion bedeute. Daraufhin schlugen Brüssel und die Regierung in Dublin Alarm, weil ein solches Vorhaben zur Reinstallation von Grenzanlagen auf der grünen Insel führen müßte, was erstens mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 unvereinbar wäre und zweitens die Gefahr eines erneuten Ausbruchs des nordirischen Bürgerkriegs mit sich brächte.

Also gab London eine Garantie ab, daß es keine "feste Grenze" zwischen der Republik Irland und Nordirland geben würde. Als Dublin die Zusicherung schriftlich haben wollte, erklärte sich die May-Regierung im Dezember 2017 mit einem "Backstop" für Nordirland einverstanden. Der "Backstop" bedeutet, daß auch nach dem Brexit in Nordirland weiterhin die EU-Regeln herrschen werden und die einstige Unruheprovinz in Binnenmarkt und Zollunion bleibt. Diese Vereinbarung sorgt seit Monaten für einen nicht endenden Streit unter den britischen Tories sowie zwischen ihnen und der probritisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) Nordirlands, deren zehn Unterhausabgeordnete Mays Minderheitsregierung an der Themse seit vergangenem Sommer am Leben erhalten.

Um die Gemüter bei den Democratic Unionists zu besänftigen, hat May ihnen hoch und heilig versprochen, daß es künftig keine Grenzkontrollen an den See- und Flughäfen beiderseits der Irischen See geben würde. Doch seit sie dieses Versprechen gegeben hat, steckt die Tory-Vorsitzende in der Klemme. Weil es künftig keine Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland einerseits sowie dem britischen Festland andererseits geben darf, kann Großbritannien die EU nicht gänzlich verlassen und damit nicht mehr "die Kontrolle über sein eigenes Schicksal wiedererlangen", wie es 2016 in der Wahlpropaganda der Brexiteers vollmundig hieß. Wegen dieses Umstands sind im Juli, als May ihren Kompromißvorschlag einer engen ordnungspolitischen Partnerschaft zwischen London und Brüssel vorlegte, Außenminister Boris Johnson und der damalige Brexit-Minister David Davis zurückgetreten.

Seitdem versucht Davis' Nachfolger Dominic Raab, mit dem französischen EU-Chefunterhändler Michel Barnier eine Einigung zu erzielen, die May ihrem Kabinett verkaufen und als EU Withdrawal Bill durchs Parlament im Palast von Westminster bringen kann. Vor wenigen Tagen hat Raab für eine heftige Kontroverse gesorgt, als er bei einem Treffen mit dem irischen Außenminister Simon Coveney insistierte, der "Backstop" für Nordirland würde lediglich auf drei Monate befristet sein. Als May am 5. November mit Leo Varadkar telefonierte, um die Wogen zu glätten, lehnte der irische Premierminister eine Befristung des "Backstop" bzw. eine einseitige Aufkündigung dieses Instruments durch London kategorisch ab. Seitdem reden die Vertreter der DUP den "No Deal"-Brexit herbei und behaupten, an der kommenden Katastrophe werde Dublin die alleinige Schuld tragen.

Auch wenn sie es stets bestreiten, streben die Democratic Unionists den "No Deal"-Brexit an, um der Wiedervereinigung Irlands, die sich angesichts des demographischen Wandels im Norden und der steigenden Anzahl der katholischen Nationalisten immer deutlicher abzeichnet, einen Riegel vorzuschieben. Aus diesem Grund haben 1000 prominente Vertreter der nationalistischen Gemeinde Nordirlands, darunter Schauspieler, Anwälte, Schuldirektoren und Sportler, einen am 5. November Varadkar zugestellten Brief unterzeichnet und diesen darum gebeten, ihre Rechte als Bürger der irischen Republik und der EU vor dem übergriffigen Brexit-Kurs der DUP und des rechten Flügels der konservativen Partei Großbritanniens zu schützen. Man darf nicht vergessen, daß 2016 lediglich in England und Wales eine Mehrheit für den EU-Austritt stimmte. In Schottland votierten zwei Drittel der Wähler dagegen. In Nordirland waren 56 Prozent für den Verbleib in der EU und eine Beibehaltung der bisherigen Verhältnisse.

In Großbritannien wächst der Zweifel am Sinn eines EU-Austritts, während die von den radikalen Tory-Rechten verfolgte Schnapsidee eines "No Deal"-Brexits auf breite Ablehnung stößt. Die britischen Wirtschaftskapitäne sind wegen Planungsunsicherheit, Firmenabwanderung und Investitionsrückgang in tiefer Sorge um die wirtschaftliche Zukunft ihres Landes. In Umfragen sprechen sich immer mehr Briten für eine zweite Volksabstimmung bzw. dafür aus, daß der Wähler und nicht das Parlament das letzte Wort über das Ergebnis der Verhandlungen zwischen London und Brüssel haben soll. Dessen ungeachtet befindet sich Theresa May unter Dauerfeuer der Brexiteers, die ihre ursprüngliche Vision eines "Global Britain", das der EU den Rücken kehren würde, um großartige Freihandelsverträge mit Ländern wie den USA, Kanada, China, Indien, Australien und Neuseeland abzuschließen, schwinden sehen.

Um Mays politisches Überleben zu sichern und eine gütliche Einigung doch noch hinzubekommen, hat Barnier Raab vor kurzem den Vorschlag einer gemeinsamen Zollunion aus EU und Vereinigtem Königreich gemacht. Wegen der Kompliziertheit, ein solches Verhältnis in allen beteiligten Staaten vertraglich zu regeln und politisch abzusegnen, hat Barnier zudem eine Erweiterung der bisher vorgesehenen Übergangsfrist über den 31. Dezember 2020 hinaus angeregt. Als weiteres Entgegenkommen hat Varadkar am 6. November vorgeschlagen, sich auf ein Prüfverfahren in Bezug auf den "Back Stop" zu verständigen, um später gemeinsam entscheiden zu können, inwieweit die Einrichtung noch erforderlich sei oder nicht.

Ebenfalls am 6. November hat sich der linksliberale Kommentator Fintan O'Toole in der Irish Times dafür ausgesprochen, den Briten am besten einen Ausweg aus ihrem selbstverschuldeten Brexit-Dilemma zu ermöglichen, indem man ihnen ein "zweites Dünkirchen", also eine schmerzfreie Niederlage bereitet, die sie anschließend als moralischen Triumph ähnlich der Evakuierung ihrer Armee von der französischen Küste 1940 feiern können. Ob sich May von Brüssel und Dublin helfen läßt? Derzeit sieht es nicht danach aus. Aus der aktuellen Krisensitzung des britischen Kabinetts heißt es, May ziehe immer noch den "No Deal" einem "schlechten Deal" vor. Doch vermutlich bereitet die kämpferische Haltung lediglich die baldige Durchsetzung der scheinbar unvermeidlichen Kompromißlösung vor.

6. November 2018


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