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PARTEIEN/379: Brexit - abgezählt ... (SB)


Brexit - abgezählt ...


Gerade noch rechtzeitig ist der ungeordnete Rücktritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (EU), der verheerende Folgen für das wirtschaftliche Leben beiderseits des Ärmelkanals gehabt hätte, verhindert worden. In der Nacht vom 10. auf den 11. April haben die Regierungschefs der EU-27 nach einer neunstündigen Diskussionsrunde der Bitte der britischen Premierministerin Theresa May um eine Fristverlängerung entsprochen. Damit hat man das Alptraumszenario des No-Deal-Brexits, der bei fehlender Einigung um 24 Uhr, am 12. April, eingetreten wäre, vermieden. Brexit geht also in die Verlängerung, wenngleich der Ausgang der Krise nach wie vor unklar bleibt.

Die großen Verlierer der jüngsten Entwicklung sind die harten Brexiteers bei Mays regierenden Konservativen. Sie setzten bis zum Schluß auf den No-Deal-Brexit, erstens um die restliche EU zu Zugeständnissen zu erpressen, zweitens wegen der Zuversicht, als wohlhabende Mitglieder des Landadels und der Finanzwelt von den negativen Folgen des ungeordneten Austritts verschont bleiben und eventuell von den wirtschaftlichen Verwerfungen selbst profitieren zu können. Entgegen ihres fraktionsinternen Schlingerkurses der letzten zweieinhalb Jahre hat sich May als konservative Parteivorsitzende am Ende doch noch von den harten Brexiteers losgesagt. Nur deshalb waren die anderen europäischen Regierungschefs beim Krisengipfel in Brüssel bereit, ihr überhaupt entgegenzukommen.

Nachdem Ende März, Anfang April Mays Brexit-Deal mit Brüssel zum dritten Mal im britischen Unterhaus durchgefallen war und sich die Abgeordneten auf keinen Alternativvorschlag haben mehrheitlich einigen können, sah sich die Premierministerin gezwungen, Gespräche mit der sozialdemokratischen Opposition um Labour-Chef Jeremy Corbyn mit dem Ziel aufzunehmen, einen gangbaren Ausweg aus der Krise auszuloten. Dies hat zu heftigen Reaktion bei den konservativen Hinterbänklern, bei denen die harten Brexiteers von der European Research Group (ERG) den Ton angeben, geführt. Sie warfen May nun vor, den Willen des britischen Volkes zu verraten. Sollte das Vereinigte Königreich noch länger in der EU bleiben und an den Wahlen zum EU-Parlament am 23. Mai teilnehmen müssen, würden britische Politiker und Diplomaten in Straßburg und Brüssel gezielt Unruhe und Uneinigkeit stiften. Dies versprachen bei verschiedenen Medienauftritten der letzten Tage die ERG-Vertreter Jacob Rees-Mogg und Mark Francois.

Wegen jener Drohung beharrte beim Brexit-Gipfel lange Zeit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf einen zeitlichen Aufschub lediglich bis zum 30. Juni - damit die Briten an der EU-Wahl nicht würden teilnehmen müssen. Während EU-Ratsvorsitzender Donald Tusk eine Fristverlängerung um einen Jahr vorgeschlagen hatte, einigten sich die Regierungschefs schließlich auf das Austrittsdatum 31. Oktober. Doch diese Frist wird nur gewährt, wenn das Vereinigte Königreich an den EU-Wahlen teilnimmt. Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil aus rechtlicher Sicht die Konstituierung des neuen Parlaments anfechtbar wäre, wenn ein Land der EU weiterhin angehörte, seine Bürger jedoch keine Vertreter nach Straßburg schickten. Sollte bis Halloween in Sachen Brexit alles unter Dach und Fach sein, werden die britischen Abgeordneten zu dem Zeitpunkt einfach auf ihr Mandat verzichten. Nichtsdestotrotz hat Macron in der Vereinbarung zwischen London und Brüssel das Datum 30. Juni hineinschreiben lassen. Sollte May nicht, wie von ihr erhofft, ihr Withdrawal Bill doch noch durch das Parlament gebracht und die Briten bei sich keine Europawahl durchgeführt haben, fliegen sie Ende Juni automatisch aus der EU.

Über den Ausgang des Brexit-Gipfels hat May das Unterhaus am 11. April unterrichtet. Anschließend hat Parlamentspräsidentin Andrea Leadsom die Oster-Ferien um eine Woche vorgezogen und die Abgeordneten für zehn Tage nach Hause geschickt. Dessen ungeachtet gehen die Verhandlungen zwischen der May-Regierung und Corbyns Schattenkabinett weiter. Weil May auf ihren Deal beharrt und Labour eine Zollunion mit der EU einschließlich der künftigen Einhaltung europaweiter Standards in den Bereichen Umweltschutz und Arbeiterrechte verlangt, gehen die meisten Beobachter davon aus, daß sich beide Seiten nicht auf eine tragbare Kompromißlösung werden einigen können. Und deshalb liegt im Vereinigten Königreich Wahlfieber in der Luft.

Berichten zufolge hat May die Unterstützung von mehr als der Hälfte der eigenen Abgeordneten verloren. Doch die Tories können die Parteichefin für mehr als ein halbes Jahr nicht absetzen, weil diese zuletzt im vergangenen Dezember ein fraktionsinternes Mißtrauensvotum überstanden hat. Auch wenn man nicht genau weiß, wie man May los wird, ist das Gerangel um die Nachfolgeschaft längst voll entbrannt. Als aussichtsreichster Bewerber um das Amt des Tory-Chefs wird der ehemalige Außenminister Boris Johnson gehandelt. Diese Möglichkeit hat bereits in Brüssel die Alarmglocken schrillen lassen, denn bei Johnson gibt es keine Gewähr, daß sich dieser als Nachfolger Mays an irgendwelche Vereinbarungen hält, die sie mit der EU gemacht hat. Deswegen gibt es bereits bei der EU Überlegungen für den Fall, daß sich London und Brüssel über die Modalitäten des Brexits einigen können, daß diese in Form eines internationalen Abkommens besiegelt werden, um sie schwer bis gar nicht veränderbar zu machen.

Nach dem Abrücken Mays vom harten Brexit herrscht bei den Konservativen die große Angst, deswegen an der Wahlurne von den eigenen Anhängern bestraft zu werden. Am 2. Mai finden in England - und übrigens in Nordirland - Kommunalwahlen statt. Die Demoskopen sagen den Tories bereits jetzt ein Wahldebakel voraus. Noch schlimmer könnte es für die Konservativen kommen, finden, wie erwartet, im Vereinigten Königreich am 23. Mai EU-Wahlen statt. Bei der Gelegenheit könnten viele traditionelle Tory-Wähler ihr Kreuz bei der United Kingdom Independence Party (UKIP), die längst von der Neonazi-Szene um den prominenten Islamophoben Tommy Robinson übernommen worden ist, oder bei der neuen Brexit-Partei um den Volkstribun Nigel Farage machen. Bei der Vorstellung der Brexit Party am 12. April hat Ex-UKIP-Chef Farage für eine Sensation gesorgt, als er Annunziata Rees-Mogg, die Schwester von Jacob Rees-Mogg, als Kandidatin für die EU-Wahl vorstellte. Die Rees-Mogg-Schwester ist eine abtrünnige Tory, die sich zweimal ohne Erfolg als konservative Kandidatin um einen Sitz im Unterhaus beworben hat.

Jedenfalls dürfte ein schlechtes Abschneiden der Tories bei den kommenden EU- und Kommunalwahlen die Position von Theresa May als Parteichefin schwierig bis unmöglich machen. Sie könnte also noch lange vor Ende Oktober zum Rücktritt gezwungen werden. Was ihren Verbleib in der Number 10 Downing Street betrifft, so sieht es ebenfalls düster aus. Seit der Aufnahme von Gesprächen mit Corbyns Sozialdemokraten droht die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland, deren zehn Unterhausabgeordneten Mays Minderheitsregierung über Wasser halten, mit der Aufkündigung der bisherigen Unterstützung. Doch für die Ansichten der fundamentalistisch-reaktionären Democratic Unionists interessiert sich praktisch niemand mehr. Ihre Zeit als Mehrheitsbeschaffer, als ausschlaggebende Akteure auf dem diplomatischen Parkett, ist vorbei. Dies zeigte sich deutlich, als am 11. April DUP-Chefin Arlene Foster und DUP-Europaabgeordnete Diane Dodds Gespräche in Brüssel mit Michel Barnier, dem Chefunterhändler der EU, in der Brexit-Angelegenheit führten und diesen vergeblich drängten, die Klausel im Austrittsabkommen, welche die Vermeidung einer festen Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland gewähren soll, zu revidieren. Zu der anschließenden Pressekonferenz der DUP im EU-Hauptquartier ist kein einziger Journalist erschienen.

13. April 2019


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