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PARTEIEN/382: Brexit - Vernunft auf der Talfahrt ... (SB)


Brexit - Vernunft auf der Talfahrt ...


An Peinlichkeit war Theresa Mays Ankündigung ihres Rücktritts nach nicht einmal drei Jahren als Vorsitzende der konservativen Partei Großbritanniens und Premierministerin des Vereinigten Königreichs nicht zu überbieten. Hinter einem Stehpult mitten auf der verkehrsberuhigten Downing Street mit der berühmten schwarzlackierten Tür der Number 10 im Rücken erklärte May am Vormittag des 24. Mai ihre Bemühungen, den von ihr Ende letzten Jahres mit Brüssel vereinbarten Vertrag über den Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der EU durch das Parlament in London zu bringen, für gescheitert und rang sich einen letzten verzweifelten Aufruf zur Kompromißbereitschaft ab, um gleich darauf eilig und unter Tränen in ihrem Noch-Amtssitz zu verschwinden. Auf weitere Tiefpunkte in der Brexit-Krise darf man sich gefaßt machen, wird doch als aussichtsreichster Kandidat um die Nachfolge Mays als Partei- und Regierungschef Boris Johnson gehandelt, dessen Ehrgeiz und Selbstwertgefühl seine Fähigkeiten bekanntlich weit übertreffen.

May hatte zuletzt geplant, in den kommenden Tagen ihren Withdrawal Agreement Bill (WAB) dem Unterhaus zu einer erneuten, vierten Abstimmung vorzulegen. Die Aussicht darauf starb jedoch, als am 22. Mai die allermeisten Tory-Abgeordneten die entsprechende Erklärung der Premierministerin im Parlament boykottierten und am selben Tag Andrea Leadsom, eine führende Brexiteerin, ihren Rücktritt als Fraktionsvorsitzende der Konservativen im Unterhaus erklärte. Der Grund für Leadsom, ihrer Parteichefin die Gefolgschaft aufzukündigen, war die erklärte Absicht Mays, nach der geplanten Verabschiedung des WAB durch das Parlament die britischen Bürger in einer zweiten Volksabstimmung über die Brexit-Frage entscheiden zu lassen. Mit diesem Vorstoß wollte May die oppositionellen Sozialdemokraten für den Austrittsgesetzentwurf gewinnen, doch brachte sie damit die mächtigen Brexiteers in den eigenen Reihen endgültig gegen sich auf.

Beflügelt wurde der Abgang Mays durch die Wahlen zum EU-Parlament, an denen das Vereinigte Königreich eigentlich nicht teilnehmen sollte, deren Abhaltung auf der Insel jedoch wegen der Verschiebung des Austrittstermins vom 29. März auf den 31. Oktober erforderlich geworden war. Das drohende Wahldebakel, das bei dem denkwürdigen Auftritt in der Downing Street wie eine dunkle Wolke über Mays Kopf geschwebt hatte, bewahrheitete sich bei der Auszählung, die am 26. Mai begann. Die regierenden Konservativen, die im Unterhaus mit 313 Sitzen die größte Fraktion stellen, sind mit einem Ergebnis von erbärmlichen neun Prozent auf den fünften Platz abgerutscht. Siegerin der EU-Wahl in Großbritannien wurde die erst sechs Wochen alte Brexit Party um den schamlosen Populisten Nigel Farage, die ihren Stimmenanteil von 31,6 Prozent fast komplett den Millionen von enttäuschten und verärgerten Tory-Wählern zu verdanken hatte.

Von der extremen Schwäche der Tories konnte die Labour Party nicht profitieren, was ihrem Schlingerkurs in der Brexit-Frage geschuldet ist. Während die Brexit-Befürworter von den Tories zum Wahlverein Farages abwanderten, gaben viele Wähler in den sozialdemokratischen Hochburgen, allen voran in der Hauptstadt London, ihre Stimme den Liberaldemokraten und den Grünen, die sich beide den Brexit-Stopp und den Verbleib in der EU auf ihre Fahnen geschrieben haben. Dadurch konnten die LibDems mit 20,3 Prozent den zweiten Platz erringen und die Sozialdemokraten, die nur miserable 14,2 Prozent bekamen, auf den dritten verbannen. Auf den vierten Platz kamen die Grünen mit einem für sie sehr respektablen Ergebnis von 12,1 Prozent. Nördlich von Hadrians Mauer hat die Scottish National Party (SNP) mit fast 60 Prozent der Stimmen haushoch gewonnen und drei der sechs schottischen Sitze im EU-Parlament zu Strasbourg errungen. Zwei weitere Sitze gingen an die Brexit Party und einer an die Liberaldemokraten.

Bei den Konservativen dürfte Farages grandioser Erfolg auf ihre Kosten die Tendenzen in Richtung eines ungeordneten EU-Austritts nur noch verstärken. Bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses legte Farage am 27. Mai nach und drohte mit einer Teilnahme der Brexit Party an den nächsten britischen Parlamentswahlen, sollte das Land bis dahin die EU nicht verlassen haben. In dieser Situation spielt sich nun Ex-Außenminister Johnson als Retter der Tories in der Not auf. Bereits vor einer Woche, als er quasi seine Bewerbung um den Vorsitz der konservativen Partei bei einem Auftritt in der Schweiz bekanntgab, hatte der ehemalige Bürgermeister von London das Versprechen abgegeben, das Vereinigte Königreich zum 31. Oktober aus der EU herauszuführen - notfalls auch ohne vertragliche Einigung mit Brüssel über die künftigen Beziehungen zur EU. Für den kommenden Kampf um den Tory-Vorsitz hat Johnson bereits mehr als 100.000 Pfund an Spendengeldern eingetrieben und sich die offene Unterstützung mehrerer ehemaliger Kabinettsmitglieder, darunter Ex-Verteidigungsminister Gavin Williamson, gesichert.

Johnson ist jedoch eine sehr polarisierende Figur. Der Absolvent des Eliteinternats Eton hat vor drei Jahren einzig in der Hoffnung für den Brexit Stimmung gemacht, dem damaligen Premierminister und Parteikollegen David Cameron eins auszuwischen und sich als dessen wahrscheinlichster Nachfolger in Position zu bringen. Doch damit hat Johnson, gewollt oder ungewollt, entscheidend zu dem überraschenden hauchdünnen Sieg der EU-Gegner bei der Brexit-Volksabstimmung am 23. Juni 2016 beigetragen. Nach dem plötzlichen Rücktritt Camerons am darauffolgenden Tag wäre er vermutlich Partei- und Regierungschef geworden, wäre ihm sein vermeintlicher Verbündeter, der damalige Justiz- und spätere Umweltminister Michael Gove, nicht in letzter Minute in den Rücken gefallen, indem er ihm jede Eignung für das höchste Regierungsamt absprach. Bei soviel offenen Querelen unter den Brexiteers sahen sich die Konservativen veranlaßt, die wenig charismatische, dafür um so zuverlässiger wirkende May mit der Führung zu beauftragen.

Jetzt aber sind die Tories auf der Suche nach einer Person, welche die Partei vor der Konkurrenz durch die Brexit Party rettet. Ob das Land dabei zu Schaden kommt, ist für die harten Brexiteers zweitrangig. Doch je konkreter der ungeordnete Austritt Gestalt annimmt, um so mehr drängt sich für die britischen Konservativen jene Zerreißprobe auf, die Theresa May als Parteichefin vermeiden wollte und - Ehre, wem Ehre gebührt - vermieden hat, auch wenn sie sonst nichts erreichte. Führende Vertreter der britischen Wirtschaftsverbände sind angesichts der Aussicht, Johnson könnte in die Downing Street einziehen, in heller Aufregung. Sie lehnen den ungeordneten EU-Austritt wegen der absehbar katastrophalen Folgen für Handel, Landwirtschaft und verarbeitende Industrie kategorisch ab. Auch trauen sie Johnson nicht über den Weg und haben dessen Spruch "Fuck Business", mit dem er letztes Jahr noch als Außenminister Mays bei einem Treffen in London mit dem belgischen EU-Botschafter Rudolf Huygelen die Sorgen des britischen Unternehmertums wegen der Brexit-Folgen leichtfertig abtat, weder vergessen noch vergeben. Ob es den Brexit-Ultras gelingt, Großbritannien zum 1. November vom europäischen "Vasallentum" zu "befreien", muß sich noch zeigen. Bei den Tories formiert sich um Finanzminister Philip Hammond inzwischen eine Gruppe verantwortungsbewußter Abgeordneter, die offenbar bereit sind, im Parlament zur Opposition überzulaufen, um den No-Deal-Brexit zu verhindern, selbst wenn dies zwangsläufig auf eine Spaltung der konservativen Partei hinausliefe.

28. Mai 2019


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