Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/387: Brexit - die neuen Bedingungen ... (SB)


Brexit - die neuen Bedingungen ...


Nach einer Woche Boris Johnson als Premierminister des Vereinigten Königreichs ist immer noch vollkommen unklar, wie der konservative Parteivorsitzende sein erklärtes Ziel, Großbritannien und Nordirland zum 31. Oktober "ohne wenn und aber" aus der Europäischen Union zu führen, verwirklichen will. Als erste Amtshandlung nach dem obligatorischen Besuch bei Königin Elisabeth am 24. Juli hat der Nachfolger der glücklosen Theresa May praktisch deren gesamte Ministerriege entlassen und das neue Kabinett mit harten Brexiteers wie Michael Gove, Jacob Rees-Mogg, Dominic Raab, Priti Patel und Gavin Williamson bevölkert. Das Problem für die Tory-Ultras ist jedoch, daß sie - unabhängig von ihrer tatsächlichen, schwer kalkulierbaren Stärke in der konservativen Parlamentsfraktion - über keinerlei Mehrheit im britischen Unterhaus verfügen. Gegen die Aussicht auf ein No-Deal-Brexit laufen alle Oppositionsparteien Sturm. Gemäßigte Konservative wie Ex-Finanzminister Philip Hammond und Ex-Justizminister Dominic Grieve verhandeln bereits mit Vertretern der Sozialdemokraten, der Liberaldemokraten, der Grünen und der schottischen Nationalisten darüber, wie sie gemeinsam den ungeordneten Austritt doch noch blockieren können.

Johnson hat die letzten sieben Tagen damit verbracht, bei öffentlichen Auftritten Großbritanniens Herrlichkeit und die für sein Volk zu erwartende glänzende Zukunft nach dem EU-Austritt zu beschwören. Demonstrativ besuchte der Churchill-Biograph am Vormittag des 29. Juli den schottischen Tiefseehafen Faslane und inspizierte dort das Atom-U-Boot HMS Victorious - was als unausgesprochene, aber dennoch plumpe Drohbotschaft an die Adresse der alten Feinde Deutschland und Frankreich gedeutet werden darf. Am Nachmittag gab es eine Audienz bei der schottischen Premierministerin Nicola Sturgeon in deren Edinburgher Amtssitz. Während sich vor dem eigentlichen tête-à-tête die beiden Politiker auf den Stufen vor dem Haupteingang des Bute House die Hand gaben und in die Fernsehkameras lächelten, wurde Johnson von schottischen Unabhängigkeitsbefürwortern, die in großer Anzahl erschienen waren, ausgepfiffen und hörbar als "lügendes Arschloch" beschimpft.

Auch als jüngster Premierminister Ihrer Majestät wird Johnson seinem Ruf als Lügenbaron mehr als gerecht. Einerseits behauptet er, die Chancen eines ungeordneten EU-Austritts stünden "eins zu einer Million" - also schwindend gering -, andererseits hat er alle Kabinettskollegen offen damit beauftragt, vordringlich die notwendigen Vorbereitungen für dieses schlimmstmögliche Szenario zu treffen. Einerseits beteuerte er, "zehntausende Meilen" zurücklegen zu wollen, um den 27 Noch-EU-Partnern entgegenzukommen, andererseits hat er Gespräche zwischen London und Brüssel kategorisch ausgeschlossen, solange die Gegenseite das mit May ausgehandelte Withdrawal Agreement einschließlich des Backstops für die innerirische Grenze nicht vom Tisch nimmt. Kein Wunder daher, daß Sturgeon sich nach der "offenen" Diskussion mit Johnson "völlig im unklaren" über dessen Brexit-Pläne und der Art ihrer möglichen - oder auch unmöglichen - Umsetzung gab und erneut die Absicht ihrer Regierung bekundete, Schottland auch gegen den Willen Londons in der EU zu behalten und notfalls 2020, spätestens 2021, eine Volksbefragung über eine Aufkündigung der Union mit England aus dem Jahr 1707 durchzuführen.

Entgegen bisheriger Tradition hat Johnson erst sechs Tage gewartet, bevor er als frischgebackener Premierminister zum Hörer griff und mit seinem Amtskollegen in Dublin, dem irischen Premierminister Leo Varadkar, telefonierte. Normalerweise erfolgt diese diplomatische Geste über die Irische See hinweg innerhalb der ersten 24 Stunden. Doch Johnson will Dublin unter Druck setzen, damit die Regierung der irischen Republik ihr Beharren auf eine Garantie, daß es nach dem Brexit zu keinen Grenzkontrollen auf der grünen Insel und damit auch zu keiner Beeinträchtigung des fragilen Friedensprozesses im Norden kommt, aufgibt. Die Tories und die rechte Presse in London haben Varadkar inzwischen zum Brexit-Buhmann aufgebauscht, der sich angeblich Berlin und Paris als Marionette andient, um den armen Briten die Befreiung vom EU-Vasallentum unmöglich zu machen bzw. zu erschweren. Weil die Wirtschaft der Republik Irland nach Nordirland und vor Großbritannien und den restlichen EU-Staaten am härtesten von einem No-Deal-Brexit betroffen wäre, denkt Johnson offenbar, er könne Dublin einfach die Pistole auf die Brust setzen und Gefolgschaft erzwingen. Doch da hat sich der englische Snob verrechnet.

Bislang hat keiner der anderen 26 EU-Staaten von der Republik Irland Zugeständnisse in der Grenzfrage verlangt, damit die nervige Brexit-Krise beenden werden kann. Das Gegenteil ist der Fall. Innerhalb der EU stellt man eine partei- und staatsübergreifende Geschlossenheit fest, sich vom "Perfidious Albion" nicht auseinanderdividieren und gegeneinander ausspielen zu lassen. Vermutlich deshalb hofft Johnson, seine "Freunde" in Washington - Donald Trump und Steve Bannon, beide bekanntlich ausgesprochene EU-Kritiker und Brexit-Befürworter - könnten für ihn bei Matteo Salvini oder Viktor Orban ein gutes Wort einlegen, damit Italien oder Ungarn aus der bisherigen EU-Front gegenüber London ausschert. Doch ob der "große Bruder" USA den Briten tatsächlich aus der Patsche hilft, ist fraglich. Wegen der mutwilligen Gefährdung des Karfreitagabkommens von 1998, das den Bürgerkrieg in Nordirland beendete und an dessen Zustandekommen die US-Diplomatie großen Anteil hatte, durch die englischen Tories droht bereits jetzt eine überparteiliche Koalition aus irisch-amerikanischen Kongreßabgeordneten und Senatoren bei den Demokraten und Republikanern in Washington das von London angestrebte Freihandelsabkommen mit den USA so lange zu blockieren, bis die britische Regierung eine vernünftige Regelung der Brexit-Problematik mit Brüssel ausgehandelt hat.

31. Juli 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang