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INTERVIEW/013: Sabine Wils (MdEP) zu europapolitischen Positionen der Partei Die Linke (SB)


Interview mit Sabine Wils am 28. Oktober 2011 in Berlin-Mitte


Sabine Wils ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und Abgeordnete des Europaparlaments. Am Vorabend der Konferenz zum Thema "EU am Ende? - Alternativen zum kapitalistischen System" beantwortete sie dem Schattenblick in der Ladengalerie der jungen Welt einige Fragen.

Sabine Wils - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sabine Wils
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Wils, aus welchem Grund haben sie die morgige Konferenz unter dem Leitthema "EU am Ende? - Alternativen zum kapitalistischen System" anberaumt?

Sabine Wils: Wir haben in unserer Partei lange den Programmentwurf diskutiert, der jetzt auf dem Erfurter Parteitag beschlossen wurde und noch durch Mitgliederentscheid bestätigt werden muss. Um das im Programm angestrebte Ziel den Kapitalismus zu überwinden, den Sozialismus zu erreichen und hierzu die Europäische Union auf eine neue Vertragsgrundlage zu stellen, war es mir wichtig, die Diskussion von Alternativen voranzutreiben. Diese Konferenz soll hierzu ein Angebot sein. Hans Modrow hat dabei das Zustandekommen dieser Konferenz sehr unterstützt. Leider mussten wir auf seinen wertvollen Beitrag verzichten, da kein gemeinsamer Termin mit allen Referenten machbar war.

SB: Übt er noch eine Funktion in der Partei aus?

SW: Ja, Hans ist Vorsitzender des Ältestenrates unserer Partei.

SB: Haben Sie bei den Referenten eine bestimmte Auswahl getroffen, die ihre persönliche politische Handschrift trägt?

SW: Ich wollte keine Konferenz machen, bei der wir uns alle einig sind und meine politische Überzeugung nur bestätigt wird. Ohne einen offenen Meinungsaustausch, bei dem die unterschiedlichen Argumente und Sichten geäußert werden, kann politische Meinungsbildung nicht funktionieren. Mir war es deshalb wichtig, Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Richtungen einzuladen. Dabei habe ich auch den Entwurf von Heinz Dieterich aufgenommen, der viel zu einem geplanten IT-gesteuerten Sozialismus geschrieben hat und aktuell aus Mexiko nach Deutschland gekommen war. Ich gehe an seine Ansichten mit einem gewissen Abstand heran, aber das Buch ist durchaus vielschichtiger und man kann sicher etwas daraus mitnehmen.

SB: Auffallend ist schon, dass viele Referenten aus dem naturwissenschaftlichen und IT-Bereich kommen.

SW: Das ist nur teilweise richtig. Der Ansatz von Prof. Heinz Dieterich und Prof. Peter Fleissner hat einen starken Bezug zur Informationstechnologie, was die Machbarkeit gesellschaftlicher Planung angeht. Mit Prof. Heinz Bierbaum als Stellvertretender Vorsitzender der LINKEN kommt aber auch die gesellschaftliche Praxis unserer Partei zur Sprache. Nicht vergessen möchte ich hier noch Prof. Georg Fülberth, der in der DKP ist und früher SPD-Mitglied war. Prof. Georg Fülberth ist in der Diskussion ein sehr streitbarer und kompetenter Mensch. Auf die Diskussion, die aus dieser Zusammensetzung entsteht, freue ich mich schon. Mit Prof. Riccardo Bellofiore haben wir einen renommierten italienischen Wirtschaftswissenschaftler, der Mitglied der Rifondazione ist, für die Diskussion gewonnen. Es war mir ein besonderes Anliegen, dass wir uns nicht nur auf die deutsche Ebene beziehen sondern auch den europäischen Bezug betrachten. Ich denke, dass wir damit eine gute Mischung haben.

SB: Wird das Ergebnis der Diskussion anschließend verfügbar gemacht?

SW: Wir wollen die Vorträge auf meiner Webseite zusammenstellen und dann einmal schauen, wie wir damit weiterarbeiten können. Solche Konferenzen haben ja immer den Charakter, dass man miteinander spricht und kontrovers diskutiert. Ich wünsche mir natürlich, dass man hinterher für die weitere Arbeit auch etwas davon mitnehmen kann.

SB: Die Partei DIE LINKE hat jetzt in zwei Abstimmungen im Bundestag beschlossen, sich dem Rettungsschirm und seiner Hebelung zu verweigern. Es fällt unterdessen auf, dass in großen Teilen der Medien kaum erwähnt wird, dass es tatsächlich eine Opposition im Bundestag gibt. Inzwischen wird dort eine Form von Einigkeit zelebriert, die schon den Charakter von Notstandsbeschlüssen annimmt. Wie gehen sie damit um, in der Rolle eines marginalisierten Außenseiters zu sein? Sie sitzen zwar nicht im Bundestag, aber wie bewerten Sie diese Situation für Ihre Partei?

SW: Ich bin Mitglied des Europäischen Parlaments und kann dies nur aus diesem Blickwinkel beantworten. Wir sind keine Außenseiter, wenn es um die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung bei der Ablehnung des geplanten Rettungsverfahrens für den EURO geht. Leider spiegelt sich diese Übereinstimmung der Wähler mit unseren Einzelpositionen nicht in unseren Wahlergebnissen wieder. Besonders schwierig ist dies in der Europapolitik. Vielleicht wird nicht deutlich, welche Rolle die EU-Parlamentarier ausfüllen könnten, zumal ein totales Demokratiedefizit in der EU-Politik existiert. Die Regierungschefs entscheiden über die Steuern und wie sie ausgegeben werden. Das sind ja unglaubliche Geldmengen, Milliardenbeträge insgesamt für Europa, Billionen, mit denen der Rettungsschirm ausgebreitet werden soll, und die Parlamente haben nichts zu sagen. Auch im Europaparlament gibt es Entschließungen zu diesen Themen, aber es ist nicht so, dass das Parlament mitentscheiden kann, ob dieser Rettungsschirm aufgespannt wird oder nicht.

SB: Oskar Lafontaine spricht sogar von einer "Diktatur der Märkte". Inwiefern sind sich die zustimmenden Parlamentarier bewusst, dass sie unter erheblichem Sachzwangdruck stehen. Im Fall der Slowakei ging es immerhin soweit, dass eine Regierung stürzt, nur weil sie eine davon abweichende Entscheidung getroffen hat. Wird dieses Dilemma überhaupt noch unter den Parlamentariern reflektiert?

SW: Ich denke, es wird schon reflektiert, aber viele sehen keine Alternative dazu. Das ist das Problem. Der Blick hinter den Sachzwang unterbleibt. Mit der Euro-Einführung und der Liberalisierung des Binnenmarkts haben sich in der EU die Gesetze des Kapitalismus ungebändigt durchgesetzt. In der Eurozone fehlt die Möglichkeit, mit einer Auf- und Abwertung der jeweiligen nationalen Währung den Im- und Export steuern zu können. So haben sich die starken Konzerne in der EU gegenüber den schwächeren durchsetzen können. Die freie Konkurrenz kennt hier keine sozialen oder moralischen Kategorien. Dumpinglöhne und Sozialabbau haben der deutschen Industrie den Vorteil gegeben, der Deutschland zum größten Exporteur in der EU gemacht hat, zu Lasten anderer EU-Staaten. Die deutschen Exportüberschüsse sind die Schulden der anderen. So ein System kann auf Dauer nicht funktionieren! Von diesem System profitieren die großen Konzerne und Banken. Um ihre Importe bezahlen zu können, haben sich Griechenland, Italien, Spanien und andere hoch verschuldet. Dies ist eine Folge der Fehlkonstruktion der EU als reine Wirtschaftsunion zur Durchsetzung eines neoliberalen Marktes ohne sozialen Ausgleich zwischen den Staaten. Ohne entsprechende politische Veränderungen haben diese Länder keine positive Zukunft zu erwarten. Die Währungsunion mit der brutalen Durchsetzung des Konkurrenzprinzips, bei dem nur der billigste Produzent überlebt, und die Rettung der Finanzkonzerne hat die Staatshaushalte in die Katastrophe geführt. Der Verzicht auf die Abschöpfung des immens wachsenden privaten Reichtums durch eine gemeinsame Steuergesetzgebung hat ebenfalls seinen Beitrag dazu geleistet. Mit diesen Rettungsschirmen werden im Wesentlichen erst einmal die Banken abgesichert, auch wenn sie jetzt von ihren Schulden nicht mehr alles erstattet bekommen. Dies sind keine Sachzwänge sondern Konstruktionsfehler, die korrigiert werden müssen. Wir fordern daher einen Neustart der EU im Parteiprogramm, neue Vertragsgrundlagen für die Europäische Union. Die neoliberalen Freiheiten des Kapitals, z.B. die Kapital-, Dienstleistungs-, Waren- und Arbeitskräftefreizügigkeit, sind ja im Vertrag von Lissabon festgeschrieben worden. So können dem Kapital keine Zügel in der Europäischen Union angelegt werden.

SB: Damit setzen Sie einen starken Akzent, der nicht nur vor Lissabon, sondern im Grunde auch vor Maastricht reicht. Auf der anderen Seite enthält der Lissabonvertrag inzwischen Elemente wie die Brückenklausel, die Flexibilitätsklausel oder die vereinfachte Vertragsveränderung, so dass man den Eindruck bekommt, von der EU-Seite her werde möglicherweise eine selbsttätige Entwicklung betrieben, die die Souveränität der Einzelstaaten von oben überrollen könnte. Wird das im EU-Parlament diskutiert?

SW: Im Parlament wird das weniger diskutiert. Da gibt es eine große Mehrheit, die sich für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (EFSF) ausspricht und der Ansicht ist, dass die Schuldenstaaten selber für ihre Situation verantwortlich sind. Mit Sparen und Haushaltskontrolle soll dagegen gesteuert werden. Bei einem vorgegebenen Glaubensbekenntnis zu den Grundpositionen des Neoliberalismus fällt es vielen EU-Parlamentariern - und nicht nur ihnen - schwer, sich mit Tatsachen und Ursachenzusammenhängen auseinanderzusetzen. Aber am Ende geht es um die Frage, wessen Interessen sollen in der Krise geschützt werden. Da zeigt sich auch heute, dass hier die Klassenfrage gestellt wird. Die riesige Mehrheit des EU-Parlaments entscheidet für die Kapitalbesitzer und gegen die Bevölkerungen der Länder. Das steht im totalen Widerspruch zu meinen Grundüberzeugungen. Euro- und Wirtschaftskrise verlangen einen Neustart für eine andere, bessere EU!

SB: Gibt es irgendeine Schnittmenge mit konservativen Kritikern des Rettungsschirms, die es ablehnen, schwache Staaten zu unterstützen, weil sie die Einführung einer sogenannten Transferunion befürchten, aber gleichzeitig den staatlichen Souveränitätsverlust beklagen?

SW: Nein, wir wollen die Exportorientierung durch eine starke Binnennachfrage ablösen. Wir setzen als LINKE auf die EU als eine Wirtschafts- und Sozialunion. In einem einheitlichen Wirtschaftsraum ist das eine Grundvoraussetzung. Wenn man eine gemeinsame Währung hat, dann gibt es wie bei uns z.B. in Ostdeutschland Regionen, die nicht so stark sind und daher über Ausgleichszahlungen gefördert werden, damit ein annähernd gleiches Sozial-, Bildungs- und Infrastrukturniveau gehalten werden kann. Wenn man eine gemeinsame Währung in der EU hat, dann müsste man schwächere Staaten stützen, genau wie die schwächeren Regionen in einem Land. Da man das aber nicht machen will, ist alles, was jetzt noch an "Rettungsmaßnahmen" kommt, der falsche Weg. Man muss einen sozialen Ausgleich für die schwächeren Staaten der Europäischen Union schaffen und perspektivisch das wirtschaftliche Ungleichgewicht beseitigen. Das bedeutet aber, dass mit diesen Regionen ein ausgeglichener Warenaustausch angestrebt werden muss und das Ende des bundesdeutschen Exportmodells! Dies als Transferunion zu diffamieren ist ein beliebtes Mittel, um zu verschleiern, dass die Konzerne der starken EU-Staaten die anderen Staaten erst in diese Situation hineingetrieben haben. So wie bei Abhängigen und ihren Dealern ist es hier falsch, die Schuld alleine auf den Abhängigen abzuwälzen. Für eine starke Binnennachfrage sind Investitionsprogramme nötig. Statt milliardenschwer die Militarisierung der EU oder das ITER-Projekt zur Erforschung der Kernfusion zu finanzieren, sollte dieses Geld viel sinnvoller in die öffentliche Infrastruktur der EU-Staaten gesteckt und somit Arbeitsplätze geschaffen werden. Was wir auf jeden Fall in Deutschland brauchen, ist eine Erhöhung der Löhne und Sozialleistungen, damit die Kaufkraft hier wieder steigt und wir eine Binnennachfrage bekommen, damit wir nicht mehr so auf den Export angewiesen sind.

Die Konservativen und Liberalen im EP sowie Sozialdemokraten und Grüne auf deutscher Ebene setzen dagegen auf die Stärkung des eigenen Nationalstaates auf Kosten der anderen Staaten unter Nutzung der neoliberalen Lissabonvertrags. Mit der von der so genannten "Troika", Internationaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank und Europäische Kommission, erzwungenen Sparpolitik in Kombination mit hohen Strafzinsen wird die Binnenwirtschaft der betroffenen Länder erdrosselt. Die neoliberalen Brandstifter von IWF bis hin zur Europäischen Kommission, die mit ihrem perversen Streben nach Deregulierung der Finanzmärkte diese Krise erst ermöglicht haben, werden als Feuerwehr gerufen, denn nun brennt der Euro. Ihre Rezepte sind ein verschärftes "weiter so": Privatisierung, Lohnkürzungen, Entlassungen, Sozialabbau und Beschneidung von Arbeiterrechten sollen die Lösung bringen. Dazu sagen die Mehrheiten in den Parlamenten ja.

SB: Die Souveränitätsverluste der Staaten werden in Brüssel entweder stillschweigend abgenickt oder mitunter sogar offensiv befürwortet. Haben Sie als Europaabgeordnete den Eindruck, dass die Abgeordneten einfach dadurch, dass sie im Europaparlament sitzen, eine andere Sichtweise bekommen, oder entspricht das dem, was sie schon in ihren nationalen Parlamenten gefordert haben?

SW: Das weiß ich nicht. Ich kann diese Haltung manchmal nicht nachvollziehen. Die Nationalstaaten müssen ihre Souveränität insbesondere in der Aufstellung und Führung ihres Haushalts behalten, denn Politik ohne Ausgaben gibt es nicht. Mit der Schuldenbremse und dem Verzicht auf eine reichtumsgerechte Besteuerung wird die Demokratie praktisch abgeschafft. Parlamente in Ländern und Kommunen, die faktisch keine Entscheidungen treffen können, die etwas kosten, sind Papiertiger. Am Beispiel Griechenlands können wir einen Blick in die Zukunft vieler Staaten, Länder und Kommunen werfen. Die Souveränität des Staates Griechenland wird mit Füßen getreten, indem EU-Beamte bestimmen, wie viele Milliarden seines Staatsvermögens verkauft und seiner Beamten im öffentlichen Dienst entlassen werden. Wie EU-Parlamentarier wie Sven Giegold die fehlende EU-Kontrolle des griechischen Haushalts für die Schuldenkrise verantwortlich machen können, ist mir unverständlich.

SB: Im Deutschlandfunk hat er vertreten, dass man Griechenland mehr disziplinieren müsste.

SW: Eine solche Forderung kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, erst recht nicht von jemandem, der früher bei Attac war und seinerzeit ganz andere Forderungen gestellt hatte. Aber diese Stimme passt in den Chor der Mehrheit des EU-Parlaments. Die Souveränität der Mitgliedstaaten und der Erhalt der Demokratie sind wichtig, wobei die Parlamente Politik gestalten können müssen. Das Mitentscheidungsverfahren im Europaparlament ist an sich schon eine Einschränkung unserer Gestaltungsmöglichkeiten als Abgeordnete.

SB: Welches Gewicht hat der europapolitische Teil im Rahmen des gesamten neuen Parteiprogramms der LINKEN?

SW: Er hat großes Gewicht. Die Eurokrise hat einen weiteren Beleg dafür erbracht, dass die EU-Verträge nicht für ein demokratisches, soziales, ökologisches und friedliches Europa taugen, sondern ganz im Gegenteil zur Verschärfung der Krise beitragen. Darum steht im Programm, dass wir einen Neustart für die EU auf einer neuen Vertragsgrundlage wollen, die es erlaubt, dass die Europäische Union ökologisch, sozial, friedlich und demokratisch ist. Mit dem jetzigen Vertrag ist das nicht zu machen, der ist dafür nicht geeignet!

SB: Die Wirtschaftsregierung ist das große Thema der letzten Zeit. Im Grunde hat die LINKE immer eine Wirtschaftsregierung gefordert, aber wenn man das genauer betrachtet, dann sind die Konzepte, die jetzt verhandelt werden, ob eine solche Wirtschaftsregierung nun beim Rat oder bei der Kommission angesiedelt wäre, mit linker Politik wohl kaum zu vereinbaren?

SW: Nein, diese Konzepte lassen sich überhaupt nicht mit linker Politik vereinbaren. Deswegen sollten wir mit diesem Begriff vorsichtiger umgehen. Gefordert war keine Wirtschaftsregierung, sondern eine Sozial- und Wirtschaftsunion im Interesse der Menschen. Im Gegensatz dazu wird heute die Unterwerfung der Staaten und Demokratien unter die Gesetze des Neoliberalismus unter dem Schlagwort Wirtschaftsregierung zusammengefasst.

SB: Zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung besteht doch ein kleiner Unterschied?

SW: Ich komme aus dem öffentlichen Dienst und kenne deswegen auch den Unterschied zwischen Vergesellschaftung und Verstaatlichung eines Unternehmens aus eigener Erfahrung. Bei einer Verstaatlichung bleibt immer noch offen, wie man das Unternehmen steuert und wer welchen Einfluss auf das Unternehmen hat. So wird z.B. die Deutsche Bahn AG wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen geführt. Wird ein Unternehmen vergesellschaftet, haben die Bürgerinnen und Bürger zu entscheiden, wie ihr Eigentum eingesetzt wird. Das S-Bahn Desaster in Berlin ist zum Beispiel eine Folge der Vorbereitung der Privatisierung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der desaströse S-Bahnbetrieb in Berlin einem gesellschaftlichen Interesse dient. Das öffentliche Eigentum ist aber die Voraussetzung, dass Bürgerinnen und Bürger mit gestalten können. So kämpfen wir in Hamburg für die Rekommunalisierung der Energienetze und haben schon in der zweiten Stufe das Volksbegehren gewonnen. Wir werden hart darum ringen, auch die dritte Stufe, das Quorum für den Volksentscheid zu erreichen.

SB: Die Eigentumsfrage betrifft also zuerst einmal das öffentliche Eigentum?

SW: Ja, genau.

SB: Privateigentum würden Sie nicht in dieser Form in Frage stellen?

SW: Nein, Privateigentum wird es immer geben. Relevant ist hierbei aber das Eigentum an den Produktionsmitteln, die den Reichtum einer Gesellschaft schaffen und gesellschaftlich relevant sind.

SB: Zählen für Sie auch privatwirtschaftliche Produktionsmittel dazu?

SW: Dazu können auch privatwirtschaftliche Produktionsmittel zählen. Es gibt den Begriff der Schlüsselindustrien, aber es hängt natürlich von der Sichtweise und vom politischen Thema ab, was gesellschaftlich relevant und eine Schlüsselindustrie ist, je nachdem, ob man es von den Arbeitsplätzen, vom ökologischen Standpunkt, der Nützlichkeit der Produktion oder der Ressourcenschonung her betrachtet. Dieses Herangehen an die Eigentumsfrage ist nicht neu, sie ist mit Artikel 14 im Grundgesetz niedergelegt worden.

SB: Haben Sie auf dem Parteitag auch über Strategien und Konzepte gesprochen, wie sich diese Position gesellschaftlich vermitteln ließe, zumal das Interesse in der Bevölkerung für politische Inhalte wie einen Neustart der EU nicht unbedingt vorhanden ist?

SW: Wir sollten mit den unmittelbar einsichtigen Dingen anfangen. Wenn uns erklärt wird, dass die Banken systemrelevant - "too big to fall" - und deshalb immer wieder mit Steuergeldern zu retten sind, warum zerschlagen wir sie nicht und entflechten sie in kleinere Banken und Sparkassen wie in Schweden? Wenn diese kleineren Institutionen zusammenbrechen, ist das nicht systemrelevant und stürzt auch nicht die Wirtschaft mit in den Abgrund. Das sind Dinge, die man bei der heutigen Diskussion schon vermitteln kann. Es geht darum, was in die öffentliche Hand zurückgeführt werden soll. Bei der Unterschriftensammlung zur Rekommunalisierung der Hamburger Energienetze habe ich immer erklärt, warum das ein wichtiger Schritt für die Energiewende hin zu den erneuerbaren Energien ist. Dann habe ich gemerkt, dass viele das gar nicht wissen wollten, aber sagten "öffentlich, das ist doch gut, das unterschreibe ich". Es ist also durchaus ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass öffentliches Eigentum leichter als Privateigentum politisch gesteuert werden kann. Viele Menschen haben gemerkt, dass die Konzerne mit uns machen, was sie wollen, solange der Profit gesteigert werden kann. Was mit der Gesellschaft, den Menschen und der Umwelt passiert, das interessiert die Konzerne nicht.

SB: Frau Wils, ich bedanke mich für das Gespräch.

Sabine Wils und SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

7. November 2011