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INTERVIEW/022: Irland geht alle an - Roy Garland zum künstlichen Krieg (SB)


Interview mit Roy Garland am 8. Januar 2013 in Belfast



Noch bevor 1970 die Provisional IRA die Szene in Nordirland militärisch betrat, um die katholische Bevölkerung vor Übergriffen protestantischer Schlägertrupps zu schützen, waren loyalistische Paramilitärs bereits rege. Ab Mitte der sechziger Jahre hatten sie angefangen, einfache Katholiken zu ermorden und Bombenanschläge auf staatliche Ziele durchzuführen, die für die Polizei als das Werk der IRA erscheinen sollten. Angefeuert vom protestantischen Haßprediger Ian Paisley und Hardlinern innerhalb der regierenden Unionist Party wollten sie den eigenen Premierminister Terence O'Neill stürzen und dessen Reformvorhaben zu Fall bringen, was ihnen auch gelang. So gesehen, waren die Übergriffe auf Aktivisten der 1967 entstandenen Bürgerrechtsbewegung nur Teil einer größeren Offensive, mit der das Streben von Nordirlands Katholiken nach rechtlicher und sozialer Gleichstellung niedergeschlagen werden soll.

Roy Garland gehörte damals zum harten Kern jener Männer, die den Ulster Protestantism zu verteidigen gedachten - koste es, was es wolle. Der einstige religiöse Fanatiker ist jedoch im Verlauf der Jahre zu ganz anderen Ansichten gelangt. Recht früh wandte er sich vom bewaffneten Kampf ab und setzte sich statt dessen für die Versöhnung zwischen Nord- und Südirland sowie zwischen Katholiken und Protestanten ein. Als liberaler Unionist schreibt Garland inzwischen eine regelmäßige Kolumne für die Irish News, die größte nationalistische Zeitung Nordirlands. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter "Gusty Spence", die Biographie des legendären UVF-Gründers, und "Seeking a Political Accomodation - The Ulster Volunteer Force: Negotiating History". [1] Mit Garland, einem ausgewiesenen Kenner der unionistisch-loyalistischen Geschichte, setzte sich der Schattenblick am 8. Januar im Wellington Park Hotel, unweit der Queen's University zu Belfast, zu einem Gespräch zusammen.

Königlich-britische Symbolik in Rot-Weiß-Blau - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wandmalerei der Ulster Young Militants (UYM), der Jugendorganisation der Ulster Defence Association (UDA) an der Lower Newtownards Road in East Belfast
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Garland, inwieweit haben unionistisch-loyalistische Überreaktionen auf die Feierlichkeiten um den 50. Jahrestag des Osteraufstandes 1916 sowie das Aufkommen einer katholischen Bürgerrechtsbewegung zum Ausbruch der Troubles 1969 beigetragen?

Roy Garland: 1966 war ich aktives Mitglied sowohl der Young Unionists, der Jugendorganisation der damals in Nordirland allein regierenden unionistischen Partei, als auch Logenbruder des Oranier-Ordens. Die Zeit damals war anders. Die Religion spielte eine viel größere Rolle. Ich selbst stamme aus einer streng evangelischen Familie. Obwohl ich der unionistischen Partei angehörte, stand ich ideologisch Ian Paisley nahe. Ich und meine Freunde gingen regelmäßig in seine frei-presbyterianische Kirche, um ihn predigen zu hören. Mit seinen rechtsextremen Ansichten hat er das Weltbild von mir und vielen nordirischen Protestanten maßgeblich beeinflußt. Wir glaubten uns im religiösen Krieg mit dem Katholizismus. Damals hieß es bei uns, das Überleben des Protestantismus in ganz Irland sei bedroht. Darüber hinaus wurde uns gesagt, die Irisch-Republikanische Armee (IRA) sei kommunistisch geworden. Wir glaubten, den Vorabend eines größeren Konfliktes um die Zukunft nicht nur Nordirlands, sondern eventuell des Christentums auf den Britischen Inseln zu erleben.

Auch wenn sich das heute völlig schräg anhört, stimmt es dennoch, daß es innerhalb der IRA in den sechziger Jahren zu einem deutlichen Linksruck gekommen war. Der wichtigste Intellektuelle innerhalb der IRA-Führung, Roy Johnston, war Marxist. Er propagierte eine Mobilisierung der katholischen und protestantischen Arbeiterklassen für einen sozialen Kampf der nationalen Befreiung. Man darf auch nicht vergessen, daß damals der Kalte Krieg vorherrschte. Folglich sahen wir rechte nordirische Unionisten im Linksruck der IRA und im Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung Elemente eines kommunistischen Komplotts, das vom Kreml gesteuert wurde. Ich bin in bescheidenen Verhältnissen in Belfast aufgewachsen. Meine Eltern waren streng religiöse Pfingstler. Das erste Mal, daß ich etwas Konkretes über den Kommunismus erfuhr, war in einer kleinen protestantischen Kirche an der Shankill Road. Dort wurde ein Propagandafilm aus den USA gezeigt, in dem Christen im Fernosten von den Kommunisten massakriert wurden. Ich gehe davon aus, daß solche Grausamkeiten in den fünfziger und sechziger Jahren in Asien passiert sind. Aber es hat uns niemand jemals wirklich erklärt, worin der Kommunismus bzw. der Marxismus wirklich besteht. Statt dessen wurde uns eingebleut, daß der Kommunismus der Feind sei - der Feind unseres Gottes, unseres Glaubens und unserer Freiheit.

1966 hörten wir von radikalen Plänen der IRA, Nordirland zum Zweck der Eroberung ins Chaos zu stürzen. Im Mai jenen Jahres wurde Sean Garland in der Grafschaft Laois (in der Republik Irland - Anm. d. SB-Red.) mit geheimen Protokollen von Diskussionen innerhalb der IRA-Führung festgenommen. Offenbar wollte die IRA die Arbeiterschaft auf beiden Seiten der Grenze aufwiegeln und sie zu Arbeitskämpfen anstacheln. Die nicht unambitionierten Pläne der IRA, die auch Attentate gegen Vertreter des britischen Staats in Nordirland nicht ausschlossen, wurden jedoch von unionistischer Seite über alle Maßen übertrieben dargestellt und als Beleg für einen bevorstehenden, großen Showdown interpretiert. Um die Bedrohung mitzubekämpfen, begann ich, mich auch politisch zu betätigen. Zur gleichen Zeit wurde uns versichert, daß die Behörden in London die Gefahr erkannt und deshalb zusätzliche Truppen samt Kriegsgerät nach Nordirland verlegt hätten. Im Falle von Unruhen oder eines Aufstandes sollte als erste Maßnahme die Grenze zur Republik Irland geschlossen werden.

Im nachhinein werden wir, die Unionisten, mit unseren damaligen Sorgen als Hysteriker dargestellt. Man vergißt jedoch, daß auch das Establishment im Süden über das wachsende Interesse der IRA am Sozialkämpfertum alles andere als glücklich war. Der politisch enorm einflußreiche Erzbischof von Dublin, John Charles McQuaid, warnte damals bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor einer steigenden kommunistischen Gefahr. Vielleicht griff er auf dieselben Informationsquellen wie wir zurück. (lacht)

Roy Garland im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Roy Garland
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Nun, McQuaid war als führender Vertreter des erzreaktionären Flügels des irischen Katholizismus bekannt. Glauben Sie nicht, daß er und auch Sie sowie Ihre Gesinnungsgenossen damals die Dinge viel zu paranoid gesehen haben?

RG: Natürlich. Inzwischen habe ich das erkennen müssen. Über die Jahre habe ich sowohl Roy Johnson als auch Sean Garland persönlich kennengelernt. Das sind gebildete, anständige Leute. Doch für uns war damals der Kommunismus das Schreckgespenst schlechthin. Aber nicht nur für uns. Im Laufe der vergangenen Jahre sind einst geheime britische und irische Kabinettspapiere zur Veröffentlichung freigegeben worden, aus denen hervorgeht, daß Dublin und London eine Linksradikalisierung der Arbeiter und der Jugend mit Sorge betrachteten und entsprechende Vorsorgemaßnahmen trafen.

1966, noch ein Jahr vor der Gründung der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA), führte die Gewerkschaftsführerin Betty Sinclair, die vielleicht die prominenteste Kommunistin Nordirlands war, den großen Umzug zur fünfzigjährigen Feier des Osteraufstandes über die katholische Falls Road in Westbelfast an. Dieser Umstand war für mich und meinesgleichen ein weiteres Indiz dafür, daß die katholische Kirche, die IRA und der internationale Kommunismus gegen die nordirischen Protestanten im Bunde waren. An jenem Tag nahm ich an einer von Ian Paisley organisierten und angeführten Gegendemonstration in Belfast teil. Später habe ich erfahren, daß Sinclair ein großartiger Mensch war, der sich jahrelang unermüdlich für eine Verbesserung der Lage der nordirischen Fabrikarbeiter einsetzte, zu denen auch meine Mutter gehörte. Bezeichnenderweise durfte Sinclair bei der Schlußkundgebung der Parade im Casement Park (dem Stadion in Belfast für gälisches Fußball und Hurley, die fast ausschließlich von Katholiken gespielt werden - Anm. d. Red.) keine Rede halten. Da wollten die Verantwortlichen bei der Gaelic Athletics Association (GAA) ihr keine Bühne dafür bieten, ihr kommunistisches Gedankengut unter das Volk zu bringen. Das zeigt, daß es nicht nur auf protestantisch-unionistischer Seite den anti-kommunistischen Reflex gab.

Wir hatten von Anfang an die Paranoia, daß Nordirland von der Republik geschluckt werden könnte. Tatsächlich gab es innerhalb der IRA Stimmen seitens Leuten wie Roy Johnson, die meinten, der Kampf um Gleichberechtigung für Katholiken in Nordirland bzw. die Gewährung derselben würde den protestantisch-unionistischen Staat dermaßen destabilisieren, daß die Wiedervereinigung nur noch eine Frage der Zeit sei. Damit hatten sie nicht ganz Unrecht, denn der unionistisch beherrschte nordirische Staat sollte sich als reformunfähig erweisen.

Zu jener Zeit gehörte ich auch einem Geheimbund namens Tara an, der als Verbindungsstelle zwischen den Unionisten und Oranierbrüdern auf der einen Seite und den protestantischen Paramilitärs von der Ulster Volunteer Force (UVF) und ähnlichen Gruppen auf der anderen fungierte. Als dann 1967 die Bürgerrechtsbewegung gegründet wurde, waren wir bereits überzeugt, daß die Beteiligten nicht in erster Linie auf eine Beendigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung von Katholiken aus waren, sondern vor allem den nordirischen Staat stürzen wollten. Damals wetterte Paisley in seiner Zeitung, The Protestant Telegraph, gegen die Versöhnungspolitik des damaligen nordirischen Premierministers und Chefs der Ulster Unionist Party, Captain Terence O'Neill, mit Artikeln, die drastische Überschriften wie "Reform - das Tor zur Revolution" trugen.

Meine Freunde lehnten Reformen deshalb strikt ab. Ich konnte das jedoch nicht so richtig verstehen. Das Prinzip, ein Mann eine Wählerstimme, gehöre selbstverständlich zu einer Demokratie, dachte ich. Dennoch teilte ich die Einschätzung, daß Nordirlands Protestanten bedroht waren und daß wir uns auf die Gefahr vorbereiten mußten. Ich habe in dem Zusammenhang viel mit Loyalisten zu tun gehabt, doch an militärischen Aktionen habe ich mich selbst nie beteiligt. Die erste Zeit war ich politisch sehr naiv, was auf meine streng religiöse Erziehung zurückzuführen ist. Ich habe die ganzen Untergangsszenarien einfach geglaubt. Erst durch jahrelange, mühsame Arbeit habe ich mich politisch bilden und mir einen Reim aus den damaligen Geschehnissen machen können. Ich habe im Laufe meiner Karriere auch mit vielen Leuten gesprochen, die bei der Bürgerrechtsbewegung dabei waren. Rückblickend betrachtet stelle ich fest, daß es ein genuines nordirisches Phänomen war. Die meisten Bürgerrechtler wollten ihre Benachteiligung als Katholiken beenden und damit Nordirland reformieren. Gleichwohl gab es auch Leute, die revolutionäre Ziele verfolgten und darauf hofften, daß sich über ein Erstarken der katholisch-nationalistischen Stimme in Nordirland die Entwicklung in Richtung Wiedervereinigung einleiten ließe.

Ich kann mich erinnern, wie Billy Mitchell, ein späteres führendes Mitglied der UVF, mir von seiner Reaktion berichtete, als er die katholischen Studenten beim Marsch der People's Democracy von Belfast nach Derry sah, der im Januar 1969 von rund 200 mit Steinen, Stöcken und Metallstangen bewaffneten Loyalisten an der Brücke bei Burntollet angegriffen und aufgelöst wurde. Mitchell, der in ärmsten Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen war, kam nicht aus dem Staunen heraus, daß es in Nordirland junge Katholiken gab, die an der Hochschule studierten. Er kannte niemanden, der studierte oder einen Hochschulabschluß besaß. Er, wie ich und die meisten unserer Freunde, waren aus existentieller Not schon mit 14 von der Schule gegangen, um in die Lehre zu gehen oder irgendeinen Niedriglohnjob anzutreten.

Die riesigen Kräne 'Samson' und 'Goliath' zeugen von besseren Zeiten - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das brachliegende Gelände der Firma Harland & Wolff, auf deren Werften einst Tausende Menschen beim Schiffsbau gutbezahlte Arbeit fanden
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Wenn wir die Auffassung teilen, daß eine Überreaktion protestantischer Hardliner zum Ausbruch der Troubles beigetragen hat, stellt sich die Frage, ob diese unheilvolle Entwicklung nicht hätte vermieden werden können.

RG: Bestimmt. 1969 versuchte O'Neill vergeblich seine Glaubensgenossen mit dem Bibelspruch aus dem Markus-Evangelium "Und wenn ein Haus mit sich selbst uneins ist, so kann es nicht bestehen" aufzurütteln. Die liberalen Unionisten, angeführt von O'Neill, hatten die Notwendigkeit von Reformen erkannt, konnten sie jedoch gegen den Widerstand der protestantischen Hardliner innerhalb und außerhalb der eigenen Regierungspartei nicht durchsetzen. Wären die notwendigen Veränderungen wie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Beendigung eines den Katholiken nicht gerechten Zuschnitts der Wahlbezirke (Gerrymandering - Anm. d. SB-Red.), die Gleichbehandlung bei der Vergabe von Posten im Staatswesen sowie von Sozialwohnungen und ein Gesetz gegen religiöse Diskriminierung vorgenommen worden, hätte dies die Nationalisten weitestgehend zufriedengestellt und die IRA wäre so nicht entstanden. Doch es kam nicht dazu. Beide, Katholiken und Protestanten, schaukelten sich gegenseitig hoch.

Heute haben wir immer noch dasselbe Problem. Die unionistischen Politiker, von denen ich die meisten persönlich kenne, weigern sich, die Konsequenzen aus dem Friedensprozeß zu ziehen, auf die Nationalisten zuzugehen und zu versuchen, einen gemeinsamen Staat zu verwirklichen. Das hat seinen Grund. Als David Trimble 1998 bei den nordirischen Protestanten um die Annahme des Karfreitagsabkommens im Rahmen einer auf beiden Seiten der Grenze durchgeführten Volksbefragung warb, tat er dies mit dem Argument, der Friedensvertrag würde die IRA zum Verzicht auf den bewaffneten Kampf zwingen und den Vormarsch von Sinn Féin im nationalistischen Lager stoppen. Zwar hat sich erstes Szenario erfüllt, doch heute hat Sinn Féin die gemäßigte Social Democratic Labour Party (SDLP), einst die stärkste katholische Partei Nordirlands, in der Wählergunst weit hinter sich gelassen. Nach dem Karfreitagsabkommen mußten sogar die Unionisten eine Regierungsbeteiligung von Sinn Féin hinnehmen, was für sie früher ganz und gar unvorstellbar gewesen wäre.

Die Erwartungen der Unionisten, Nordirland künftig mit der ihnen gefälligeren SDLP regieren und Sinn Féin links liegen lassen zu können, haben sich nicht erfüllt. Sie waren davon ausgegangen, daß die IRA ihre Waffen nicht aufgeben und sich Sinn Féin niemals zur Zusammenarbeit mit der nordirischen Polizei bereiterklären würde. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die IRA hat sich vollständig vom bewaffneten Kampf verabschiedet. Sinn Féin unterstützt den Police Service of Northern Ireland (PSNI) voll und ganz. Die Unionisten müssen mit Sinn Féin die Provinz zusammen verwalten, tun das jedoch höchst widerwillig. Die Vorbehalte der unionistischen Politiker gegenüber den Vertretern Sinn Féins finden ihre Entsprechung in der restlichen Gesellschaft. 15 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens herrscht auf beiden Seiten nach wie vor Mißtrauen.

Leider muß ich gestehen, daß ich mit dafür verantwortlich bin, daß sich die nordirische Gesellschaft in einer Sackgasse befindet. In den sechziger Jahren habe ich mich an einer erfolgreichen Verschwörung innerhalb des unionistisch-loyalistischen Blocks beteiligt, um die Regierung von Terence O'Neill zu stürzen und deren Reformpläne zu vereiteln. Zu meiner Entlastung kann ich lediglich sagen, daß ich all die Geschichten von der kommunistischen Bedrohung und dem bevorstehenden Untergang des nordirischen Protestantismus glaubte. Es besteht der begründete Verdacht, daß die Informationen, die in unseren Kreisen über die vermeintlichen Umsturzpläne der Bürgerrechtler und der IRA im Umlauf waren, zum Teil aus britischen Geheimdienstkreisen stammten. Schließlich fürchtete das britische Establishment den Kommunismus wie der Teufel das Weihwasser.

SB: Es ist interessant, daß Sie an dieser Stelle die Rolle des britischen Sicherheitsapparats erwähnen, denn das bringt mich zu meiner nächsten Frage. Nach dem eigenen Verständnis führten die Mitglieder von der UVF und der Ulster Defence Association (UDA) gegen die IRA einen Kampf zur Aufrechterhaltung der protestantischen Lebensweise und zur Verteidigung der völkerrechtlichen Position Nordirlands im Vereinigten Königreich mit Großbritannien. In den letzten Jahren stellt sich immer mehr heraus, daß die loyalistischen Paramilitärs vom britischen Militär und Inlandsgeheimdienst MI5 als eine Art Todesschwadron zur Bekämpfung der IRA sowie zur Einschüchterung der katholischen Bevölkerung Nordirlands geführt wurden. Nicht wenige Überfälle der UDA und des UVF auf katholische Ziele erfolgten aufgrund von Hinweisen, die ihnen von Verbindungsleuten beim britischen Geheimdienst zugespielt worden waren. Nach der Veröffentlichung des jüngsten Untersuchungsberichts im vergangenen Dezember über die Ermordung des katholischen Bürgerrechtsanwalts Patrick Finucane im Jahre 1989 in Belfast hat der amtierende britische Premierminister David Cameron die frühere Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und loyalistischen "Terroristen" eingestanden, sie verurteilt und sich dafür entschuldigt. Wie denkt man in loyalistischen Kreisen im Nachhinein über die sogenannte "collusion"? Hält man nach wie vor zu den Verbündeten im britischen Sicherheitsapparat oder fühlt man sich von ihnen vielleicht manipuliert?

RG: Zunächst einmal möchte ich eines klarstellen. Aus ihrer Perspektive kämpften die Loyalisten nicht in erster Linie für Nordirland oder das Vereinigte Königreich oder die britische Monarchie. Nein, sie sahen sich vor allem im Verteidigungskampf um ihre unmittelbaren Gemeinden, sei es in Belfaster Stadtteilen wie an der Lower Newtownards Road, der Shankill Road und Tiger Bay, in Derry oder in den Kleinstädten auf dem Land. Das hat mir damals einer meiner besten Freunde, der bei der Gründung der UVF dabei war und bis kurz vor seinem Tod zur Führungsspitze gehörte, erklärt. Ich werde seinen Namen nicht nennen. Darüber hinaus sagte er mir im Vertrauen, die Katholiken in Nordirland sollten ihre nationalistischen Sympathien offen zur Schau tragen können, wir Protestanten hätten von einer Wiedervereinigung Irlands nichts zu befürchten. Nun, er war ein linker Vordenker innerhalb der UVF. Die meisten seiner Kameraden haben sicherlich nicht dasselbe gedacht. Ich berichte von seinen Ansichten, nur um zu demonstrieren, daß es stets versöhnungsbereite Strömungen bei den Loyalisten gegeben hat und heute noch gibt. Schließlich sind ihre Freunde und Angehörigen in den protestantischen Arbeitervierteln genauso wie die katholische Unterschicht schon immer die Hauptleidtragenden des ganzen Konflikts gewesen.

Was die Zusammenarbeit mit der britischen Militärgeheimdiensteinheit Force Research Unit (FRU), dem MI5 und der Special Branch (Sicherheitspolizei - Anm. d. SB-Red.) der Royal Ulster Constabulary (RUC) betrifft, so läßt sich Ihre Frage nur schwer beantworten. Mein bereits erwähnter Freund, der lange Jahre für den Nachrichtendienst der UVF arbeitete, war sich über die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen im klaren. Er meinte, daß sie auf Gegenseitigkeit beruhe und daß die Loyalisten nicht einfach die willfährigen Handlanger Londons, sondern Akteure in eigener Sache waren. In loyalistischen Kreisen war die "collusion" allgemein bekannt, doch wurde nur hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen. Ich habe damals mit kaum jemanden dieses Thema angeschnitten, denn erstens wollte ich nicht, daß man mich für einen Verschwörungstheoretiker hielt, und zweitens wußte man ja nicht, inwieweit der jeweilige Gesprächspartner nicht in solche Machenschaften involviert war. Jedenfalls wurde nicht nur in eine Richtung manipuliert. Es gab Doppelagenten bei den loyalistischen Paramilitärs, die zwar für die Briten arbeiteten, gleichwohl ihre Führungsoffiziere bei der FRU oder dem MI5 im eigenen Sinne zu steuern versuchten, indem sie sie mit falschen oder leicht zu eigenen Gunsten veränderten Informationen fütterten.

SB: Sie meinen wie Brian Nelson, ein ehemaliger Soldat der britischen Armee, der in deren Auftrag Nachrichtenchef der UDA wurde und in dieser Funktion unter anderem an der Ermordung von Patrick Finucane beteiligt war?

Roy Garland hört sich die nächste Frage an - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

RG: Brian Nelson bin ich niemals begegnet. Aber es gab mehrere britische Doppelagenten an der Shankill Road, die dort kleine Geschäfte betrieben. Die Identität derjenigen, die für die Briten arbeiteten, war in loyalistischen Kreisen kein großes Geheimnis, sondern meistens allgemein bekannt. Mein UVF-Freund sagte mir einmal, er kenne sie alle. Nun ja, in seiner Funktion bei der UVF hätte ich nichts anderes erwartet. Anfang der siebziger Jahren gehörte er einer linken Gruppierung innerhalb der UVF an, die Kontakte zur IRA suchte, um gemeinsam nach einem Weg zur Beendigung des Konfliktes zu suchen. 1974 haben jedoch Hardliner innerhalb der UVF, welche die Unterstützung der Briten genossen, geputscht. Der Vorstoß der gemäßigten Linken innerhalb der UVF wurde aufgegeben und statt dessen kräftig an der Gewaltspirale gedreht. Das stürzte Nordirland in den darauffolgenden Jahren richtig ins Chaos einschließlich eines blutigen Machtkampfes zwischen UVF und UDA sowie einer Offensive gegen katholische Ziele, die wiederum von der IRA in gleicher Münze heimgezahlt wurde.

SB: Das Karfreitagsabkommen von 1998 hat den militärischen Konflikt beendet. Der Kompromiß sah vor, daß Nordirland innerhalb des Vereinigten Königreiches bleibt, was die Ängste der Protestanten beilegen sollte, während den Katholiken das Recht eingeräumt wurde, auf dem friedlichen Weg innerhalb der bestehenden politischen Institutionen auf eine Wiedervereinigung Irlands hinzuarbeiten. Was halten Sie vom Friedensvertrag? Hat er sein Versprechen erfüllt? Bedenkt man die jüngsten loyalistischen Flaggenproteste, scheint Nordirland noch Lichtjahre davon entfernt, eine "normale" Gesellschaft zu sein.

RG: Ich war bei den Verhandlungen, die an jenem Karfreitag in die Besiegelung des Friedensvertrages mündeten, anwesend. Ich war kein offizieller Teilnehmer an den Diskussionen, sondern wohnte ihnen als Gast von Gary McMichael von der UDA, Billy Mitchell von der UVF und Anne Carr von der Women's Coalition bei. Doch als Mitglieder meiner eigenen Partei, die Ulster Unionists, mich entdeckten, verlangten sie meinen Rauswurf aus dem Gebäude, denn ich war als linker Gemäßigter bekannt und sie wollten mich nicht dabei haben. Ich habe mich also rar gemacht und bin draußen auf dem Anwesen spazieren gegangen. Dabei bin ich zufällig UUP-Chef David Trimble über den Weg gelaufen. So sprach ich zum ersten Mal mit ihm. Als er mich sah, sagte er: "Ach, Sie sind der Typ, der für die Irish News schreibt". Ich bejahte lediglich, gab irgendwelche höflichen Floskeln von mir und zog mich dann so schnell wie möglich zurück. Ich hatte Angst, daß irgendein Reporter unsere Begegnung fotografieren und ein Bild davon in der Zeitung veröffentlichen könnte, denn das hätte Trimble in politische Schwierigkeiten gebracht. Der versuchte damals alles, um die unionistischen Hardliner auf seinem Kompromißkurs mitzunehmen. Wäre der Eindruck entstanden, er lasse sich von mir beraten oder treffe sich heimlich mit mir, hätten ihm die Hardliner eventuell die Gefolgschaft aufgekündigt und er hätte im Namen der UUP dem Karfreitagsabkommen nicht zustimmen können.

Drei Jahre zuvor hatte meine Entscheidung, als Unionist für die katholisch-nationalistische Zeitung Irish News eine regelmäßige Kolumne zu schreiben, für Aufsehen gesorgt. Als ich im selben Jahr als einziger Unionist einen Vortrag auf dem Peace and Reconciliation Forum in Dublin hielt, der von der UUP und der DUP wegen der Teilnahme von Vertretern Sinn Féins boykottiert wurde, haben einige protestantische Hitzköpfe mich öffentlich zum Verräter gestempelt. Ian Paisley jun. kritisierte mich aufs Heftigste, weil ich an einer Podiumsdiskussion mit Sinn-Féin-Vizepräsident Martin McGuinness teilgenommen hatte. Ich erhielt sogar Todesdrohungen und sah mich beim eigenen Ortsverband der UUP mit einem Ausschlußverfahren konfrontiert. Dort beanstandete man ein Foto, das in der Presse erschienen war und auf dem ich im Gespräch mit Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams zu sehen war. Die Parteikollegen regten sich vor allem darüber auf, daß ich Adams anlächelte, als hätte ich statt dessen grimmig gucken und ihm Beschimpfungen an den Kopf werfen sollen.

Ich machte mich für den sogenannten Friedensprozeß zu einem Zeitpunkt stark, als die allermeisten Unionisten die Bemühungen Londons und Dublins, die nordirischen Parteien zusammenzubringen, mit Skepsis und Argwohn betrachteten. David Trimble wollte mit mir nichts zu tun haben, weil ich ihm und der UUP-Führung zu weit voraus war. Während die Unionisten ein Tohuwabohu über meinen Auftritt in Dublin veranstalteten, haben mir interessanterweise die loyalistischen Paramilitärs den Rücken freigehalten. Zum Beispiel kurz bevor ich mich im selben Jahr in eine Sinn-Féin-Veranstaltung an der Falls Road im katholischen Westbelfast begab, erhielt ich eine Botschaft von John "Bunter" Graham, dem damaligen UVF-Stabschef, und David Ervine, damals Vorsitzender der Progressive Unionist Party (PUP), des politischen Arms der UVF, daß sie meinen Vorstoß unterstützten.

Die allermeisten unionistischen Politiker dagegen wetterten gegen mich und meine Bemühungen um Frieden und Versöhnung. Einmal mußte meine Tochter, die damals bei den Young Unionists war, den dortigen Vorsitzenden Peter Weir wegen Beleidigung meiner Person zur Rede stellen. Später ist Weir aus Protest gegen Trimbles Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens aus der UUP aus- und der DUP unter der damaligen Führung von Ian Paisley sen. beigetreten. Heute sitzt er als Abgeordneter derselben DUP in Stormont, die heute gemeinsam, wenn auch nach außen stets widerwillig, mit Sinn Féin die Provinz regiert. Wie schizophren ist das? Jahrelang haben die Unionisten lautstark ein Arrangement mit Sinn Féin verteufelt, sich später - zuerst die UUP unter Trimble und danach erst die DUP unter Paisley sen. und seinem Nachfolger Peter Robinson - jedoch damit abgefunden, um Regierungsmacht zu bekommen.

Ein Teil der unionistischen Wählerschaft, vornehmlich die protestantische Arbeiterschicht, hat die paulinische Wandlung des unionistischen Politikestablishments nicht nachvollziehen können, hält an den alten Parolen fest und fühlt sich verraten. Deswegen kommt es nun aus dem rechten Lager bei den Loyalisten zu dieser heftigen Reaktion in der Flaggenfrage. Gleichwohl gibt es unter den Loyalisten auch einen linken Flügel, vertreten durch die PUP und Leute wie Billy Hutchinson, die einen konstruktiveren Ansatz verfolgen und die Gewaltexzesse der letzten Wochen für kontraproduktiv im Sinne der Sache der Union halten. Doch derzeit sind es die Flaggenprotestler, die alle in die Reaktion gebracht haben. Ihre Anführer wie James Frazer stehen mit den britischen Neonazis in Verbindung und sehen sich als die letzten Gegner des Karfreitagsabkommens, das für sie den großen Ausverkauf des nordirischen Protestantismus darstellt. Ich halte ihre Umtriebe für sehr gefährlich, denn sie könnten den scheinbar längst überwundenen Religionskrieg wieder entfachen.

SB: Wie schätzen Sie die Rolle der loyalistischen Paramilitärs bei den Flaggenprotesten ein? PSNI-Präsident Matt Baggot hat öffentlich behauptet, sie zögen im Hintergrund die Fäden. Es gibt unbestätigte Berichte, wonach Stephen "Mackers" Mathews, der Chef der UVF an der Ostbelfaster Lower Newtownards Road, wo es zu den schlimmsten Ausschreitungen gekommen ist, die Proteste gezielt eskalieren ließ, um Politik und Justiz zu erpressen. Als Gegenleistung für eine Beruhigung der Lage will er angeblich, daß ein bevorstehender, für die UVF-Führung hochgefährlicher Kronzeugenprozeß eingestellt wird bzw. aus irgendwelchen formellen Gründen scheitert. Was halten Sie von der Geschichte?

Loyalistiches Denkmal mit Union Jack, dahinter die Kräne bei Harland & Wolff - Foto: © 2013 by Schattenblick

Erinnerung an gefallene Loyalisten an der Lower Newtownards Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

RG: Gestern beteuerte Billy Hutchinson im Fernsehen, daß es keine Spaltung innerhalb der UVF-Führung gibt und daß man mit einer Stimme in der Flaggenfrage spricht. Dennoch sieht es für mich aus, als würde Mathews, der nicht umsonst den Spitznamen "Beast of the East" trägt, seine eigenen Interessen, zu denen angeblich auch der Drogenhandel gehört, verfolgen. Er soll hinter den tagelangen Straßenschlachten mit der Polizei an der Lower Newtownards Road im Sommer 2011 gesteckt haben. Das grundlegende Problem besteht jedoch darin, daß sich die unionistische Wählerschaft in den protestantischen Arbeitervierteln als großer Verlierer im Friedensprozeß fühlt. Für diese weit verbreitete Fehleinschätzung sind die unionistischen Politiker verantwortlich, die niemals wirklich versucht haben, das Karfreitagsabkommen als den Erfolg für den nordirischen Protestantismus zu verkaufen, der er ist. Schließlich wurde darin die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich, solange eine Mehrheit der Bevölkerung dies will, bestätigt, während die Republik Irland auf ihren verfassungsmäßigen Anspruch auf die Insel als ganzes verzichtet hat. Sinn Féin versucht mit der Veränderung der Flaggenregelung an der City Hall von Belfast und ähnlichen Aktionen den Eindruck zu erwecken, daß der Weg in die Wiedervereinigung unvermeidlich ist. Wenn daraufhin die loyalistische Jugend auf die Barrikaden geht, kann Sinn Féin dies als Bestätigung ihrer These an die eigene Wählerschaft verkaufen. Insofern trägt Sinn Féin eine Mitverantwortung für die jüngsten Gewaltausbrüche.

SB: Gleichwohl hat Sinn Féin dem unionistischen Lager bei diversen Gelegenheiten die Hand des Friedens gereicht. Sie hat verschiedene Freikirchenvertreter sowie gemäßigte Unionisten und Loyalisten auf ihren Parteitagen Vorträge halten lassen. An ähnliche Versöhnungsgesten seitens DUP oder UUP kann ich mich nicht erinnern.

RG: Das stimmt. Ich bin 1988 das erste Mal mit Vertretern von Sinn Féin zusammengekommen. In den Jahren danach habe ich als Teil einer protestantischen Friedensdelegation, in der ich der einzig politisch aktive Unionist war, regelmäßige Treffen mit Leuten wie Jim Gibney, Sinn Féin-Vorstandsmitglied und Berater von Gerry Adams, und Tom Hartnett gehabt. Damals herrschte Optimismus vor. Heute ist die Atmosphäre ziemlich vergiftet. Aber wie gesagt, dafür trägt auch Sinn Féin durch ständige Provokationen eine gewisse Verantwortung. Ich werfe ihnen das nicht vor, denn auch sie müssen die Hardliner im eigenen Lager besänftigen und den Eindruck vermitteln, daß Nordirland immer irischer und weniger britisch wird. Bereits jetzt werfen ihr gewaltbereite IRA-Dissidenten vor, sich mit der britischen Herrschaft in Nordirland und der Teilung der Insel abgefunden zu haben.

In der Vergangenheit habe ich auf Bitten der IRA-Dissidenten versucht, zwischen ihnen und der Sinn-Féin-Führung zu vermitteln. Doch es ging nicht gut. Sinn Féin wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Ich hatte den Eindruck, Sinn Féin verhalte sich gegenüber den Gegnern des Karfreitagsabkommens auf republikanischer Seite etwas arrogant, als wollte sie sich mit den Argumenten der Kritiker gar nicht erst auseinandersetzen. Ich halte das politisch für kein kluges Verhalten. Ich komme mit den republikanischen Dissidenten einigermaßen klar. Ich versuchte ein Treffen zwischen ihnen und einer Gruppe Unionisten zu arrangieren. Doch als alles praktisch organisiert war, bekamen die Unionisten kalte Füße. Kurz danach bin ich aus Frust über die mangelnde Bereitschaft der UUP, auf die alten Gegner zuzugehen, aus der Partei ausgetreten.

SB: Ist es nicht das größte Problem, daß die Unionisten das Karfreitagsabkommen lediglich aufgrund des Drucks seitens der Regierung Großbritanniens unterzeichnet, aber niemals wirklich die darin enthaltene Möglichkeit für ein friedlicheres, freundschaftliches Miteinander auf Augenhöhe zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland ergriffen haben und die ganze Zeit über den Friedensprozeß verschleppen?

RG: So ist es. Sie tun bis heute so, als sei ihnen das alles aufgezwungen worden. Das sendet aber an die eigene Wählerschaft ein verheerendes Signal. Doch wir müssen alle versuchen, aus dem entstandenen Arrangement, mit dem beide Seiten nicht vollends zufrieden sind, das Beste zu machen. Denn was ist die Alternative? Eine Rückkehr zum Bürgerkrieg? Das kann wirklich keiner wollen. David Trimble hat seine Zustimmung zum Karfreitagsabkommen an die eigene Partei und die protestantische Bevölkerung als etwas verkauft, das Sinn Féin den Garaus machen sollte. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Sinn Féin ist von den Stimmen her inzwischen die größte Partei auf katholischer Seite und schickt sich an, bei der nächsten Wahl zur Regionalversammlung bzw. zum britischen Unterhaus die größte Partei Nordirlands zu werden. Damit haben die Unionisten ein echtes Problem. Deshalb will Peter Robinson die DUP für Katholiken attraktiv machen. Doch bei dem Parteitag, auf dem er den Katholiken erklärte, die DUP hieße auch sie in ihren Reihen willkommen, war er von Anhängern umgeben, die allesamt britische Fahnen schwenkten. So bewirbt man keinen nordirischen Katholiken. Es gibt viele Katholiken der bürgerlichen Mitte, die sich vielleicht mit einem Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich abfinden könnten, aber mit dem Union Jack schreckt man sie ab. Und daß die DUP dies nicht wahrhaben will, beweist, daß sie keine Ahnung hat, wie man auf die Leute von der anderen Seite wirklich zugeht.

Die Flaggenproteste lassen die Zwickmühle erkennen, in der sich die Unionisten und vor allem die DUP befinden. Einerseits wollen sie katholische Wähler anwerben, um das Erstarken von Sinn Féin zu verhindern und die Union mit Großbritannien zu erhalten, andererseits stacheln sie die Jugend in den protestantischen Arbeitervierteln zum Rowdytum und Vandalismus an, um dem Abdriften der protestantischen Mittelschicht zur gemäßigten Alliance Party Einhalt zu gebieten. Die einzigen auf protestantischer Seite, die wirklich versucht haben, das Karfreitagsabkommen im ursprünglichen Sinne umzusetzen, war die kleine linke PUP, der politische Arm der UVF um Leute wie dem 2006 verstorbenen David Ervine und dem jetzigen Parteichef Billy Hutchinson. Doch wegen des Dauervorwurfs seitens DUP und UUP, die PUP komme Sinn Féin zu sehr entgegen bzw. beschwichtige sie, hat sie bei der leider wenig gebildeten, protestantischen Unterschicht stark an Rückhalt verloren.

SB: Also stimmen Sie der These zu, daß die DUP die Flaggenproteste gezielt losgetreten hat, damit bei der nächsten Wahl zum britischen Unterhaus DUP-Chef Robinson seinen langjährigen Sitz im Bezirk Ostbelfast von Naomi Long von der Alliance Party zurückerobern kann?

RG: Ich denke schon. Wobei nach allem, was ich weiß, gehört Robinson zu den wenigen führenden Unionisten, die den Friedensprozeß ernsthaft vorantreiben und in der Koalitionsregierung mit Sinn Féin konstruktiv zusammenarbeiten wollen; ich hätte zum Beispiel mehr Vertrauen zu ihm als zu Mike Nesbitt, dem Chef der Ulster Unionists. Doch um das machen zu können, muß er seine Führungsposition bei den Democratic Unionists verteidigen. Dazu gehört die Rückeroberung seines Sitzes im britischen Parlament genauso wie die gelegentliche Bedienung anti-katholischer, nationalistisch-kritischer Ressentiments, um die eigene Gefolgschaft bei Laune zu halten.

Die DUP muß stärkste Partei Nordirlands bleiben, damit den Unionisten der Anspruch auf das Amt des Ersten Ministers erhalten bleibt. Denn sollte Sinn Féin, wie einige Demoskopen prognostizieren, die DUP überholen und aus den nächsten Regionalwahlen als Siegerin hervorgehen, wird es Chaos geben. Die Protestanten sind immer noch nicht so weit, daß sie Ex-IRA-Mann Martin McGuinness als Regierungschef Nordirlands akzeptieren könnten. Ich hätte keine Probleme damit, aber für viele von ihnen würde damit das Untergangsszenario tatsächlich eintreten. Peter Robinson ist nie mein Lieblingspolitiker gewesen, dennoch halte ich ihn für die stärkste Führungspersönlichkeit innerhalb des unionistischen Lagers. Nur er hat das Vermögen und die Glaubwürdigkeit, die Protestanten im Friedensprozeß mitzunehmen. Leider sind die Flaggenproteste nach hinten losgegangen und haben der unionistischen Sache schwer geschadet. Tausende Flugblätter zu verteilen, um das protestantische Fußvolk gegen die drohende Entscheidung des Belfaster Stadtrats zur deutlichen Verringerung der Anzahl der Tage aufzuwiegeln, an denen der Union Jack über der City Hall weht, war eine Riesendummheit. Die Sache ist den Urhebern völlig außer Kontrolle geraten.

SB: Meinen Sie, Robinson habe dabei seine Finger im Spiel gehabt?

RG: Nein, eher vermute ich Stadtratsvertreter wie Bobby Stoker, Jim Rogers und David Browne dahinter.

SB: Sie sind von Robinsons DUP?

RG: Nein, sie gehören allesamt der UUP an. Seit die Ulster Unionists in der Wählergunst hinter die Democratic Unionists zurückgefallen sind, tun sie natürlich alles, um letztere als Verräter an der protestantischen Sache hinzustellen. Die DUP darf diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen, und muß natürlich das Gegenteil beweisen. Bisher verkauft sich die DUP als einzige unionistische Partei, welche Sinn Féins Drang zur Wiedervereinigung Irlands Einhalt gebieten kann. Das treibt die UUP zu Verzweiflungsaktionen wie jetzt die Initiierung der Flaggenproteste, um den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber die meisten UUP-Politiker sind Idioten. Schauen Sie mal, was gerade mit Basil McCrea, UUP-Abgeordneter im Regionalparlament, passiert. Er ist ein kluger Kopf und der vielleicht fähigste Mann, den seine Partei hat. Doch weil er von Anfang an die Flaggenproteste als kontraproduktiv kritisierte und die damit einhergehenden Ausschreitungen verurteilte, droht ihm nun ein Parteiausschlußverfahren.

SB: Kurz vor Weihnachten war ich auf der Lower Newtownards Road. Dort bin ich mit einer Gruppe älterer Damen ins Gespräch gekommen. Sie hatten Verständnis für die Flaggenprotestler und meinten, die Disharmonie zwischen Protestanten und Katholiken gehe von letzteren aus. Sie berichteten mir von einem Vorfall, der einige Nächte zuvor passiert sein sollte. Ihren Angaben zufolge wurde eine junge Frau, die in einem der Häuser an der Stelle an der Lower Newtownards Road wohnt, wo die Bryson Street in die katholische Enklave Short Strand führt, von einer Gruppe nationalistischer Jugendlicher überfallen und zusammengeschlagen. Die Fenster und Türen an den Häusern dort sind vergittert, was darauf hinweist, daß sie häufiger das Ziel von Steinewerfern sind. Ich stimmte den Damen zu, daß das, was dieser Frau widerfahren war, - sofern es sich tatsächlich so abgespielt hat - niemandem zuzumuten ist. Hinterher habe ich mich gefragt, wie es eigentlich um die Kommunikation zwischen den Gemeinden solcher Krisenherde bestellt ist? Wie sehen Sie das?

 Vergitterte Fenster und Türen, dazu die britische Staatsflagge, sollen vor Steinewerfern schützen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Von Protestanten bewohnte Häuser an der Lower Newtownards Road, Ecke Bryson Street
Foto: © 2013 by Schattenblick

RG: Ich denke, daß das Problem der Gewalt an den Grenzlinien zwischen katholischen und protestantischen Arbeitervierteln in Belfast immer noch riesengroß ist. Um es besser zu verstehen und darüber in meiner Kolumne für die Irish News schreiben zu können, habe ich vor einigen Jahren das katholische Viertel Ardoyne und die angrenzenden protestantischen Viertel Crumlin Road und Glenbryn besucht. Dort ist es in den letzten Jahren, vor allem anläßlich der Oranier-Märsche, zu sehr heftigen Gegendemonstrationen gekommen. Ich war bei Protestanten, deren Häuser direkt an Ardoyne angrenzen. Die Menschen dort haben mir Videoaufnahmen der alltäglichen Gewalt, die sie dort ertragen müssen - Steinwürfe auf ihre Häuser und ihre Gärten, wuchtiges Hämmern gegen die Türen in der Nacht und vieles mehr - gezeigt. Ich war regelrecht schockiert. Als ich den inzwischen verstorbenen IRA-Veteran und das Sinn-Féin-Stadtratsmitglied Martin Meehan, der mich in das benachbarte katholische Stadtviertel begleitete, davon unterrichtete, wollte er nicht wahrhaben, daß solche Sachen passieren. Schließlich versuchte er, die Verantwortung für derlei Vorkommnisse auf die republikanischen Dissidenten abzuwälzen. Was man auf jedem Fall sagen kann ist, daß sich an solchen Krisenherden die Jugendlichen auf beiden Seiten gegenseitig provozieren. Es ist nicht einfach so, daß sich auf der einen Seite nur die Opfer und auf der anderen nur die Täter befinden.

SB: Eigentlich sollte man doch denken, daß die Kommunalpolitiker oder ehemalige Paramilitärs auf beiden Seiten telefonischen oder sonstigen Kontakt unterhalten und darauf hinwirken, daß sich derlei Provokationen seitens der eigenen Hitzköpfe nicht Bahn brechen.

RG: Man sieht dennoch an der Art, wie sich die Teilnehmer an vielen Oraniermärschen benehmen, zum Beispiel an der Auswahl der Lieder, die sie spielen, daß es ihnen dabei weniger um das Feiern irgendwelcher historischer Schlachten geht als vielmehr darum, die Katholiken im Hier und Jetzt zu triezen und zu beleidigen. Im Rahmen der Unterstützung für den Friedensprozeß habe ich in den neunziger Jahren nordirische Gruppen, bestehend aus Nationalisten, Republikanern, Unionisten und Loyalisten, in den Süden begleitet, damit sie dort Gespräche miteinander führen konnten. Ich habe Besuche in der Republik Irland immer als sehr nützlich, sogar befreiend empfunden. Sobald die Leute aus Nordirland herauskamen, gingen sie unbeschwerter miteinander um. Darüber hinaus lernten die Anhänger der Union mit Großbritannien die Republik Irland kennen und merkten, daß es sich um kein Feindesland, sondern um einen Bruderstaat handelte, und daß die Menschen dort ihnen viel näher waren, als sie sich das vorgestellt hatten. Nichtsdestotrotz mußte ich häufiger häßliche Bemerkungen seitens meiner damaligen UUP-Kollegen über mich ergehen lassen nach dem Motto, wenn ich den Süden Irlands so toll finde, sollte ich besser da bleiben.

Als ich vor ein paar Jahren die Ulster Unionists verließ, diskutierten sie immer noch darüber, wie sie die Partei für Katholiken attraktiver machen könnten. Sie wollen schon katholische Mitglieder, aber es sollten nur "castle catholics" sein - gutsituierte Bürger der Mittelschicht, die der britischen Flagge und Monarchie treu ergeben sind. Mit Katholiken aus der Arbeiterklasse, die Beschwerden am nordirischen System vortragen und vielleicht eine Veränderung desselben verlangen könnten, wollen sie nichts zu tun haben. Im Grunde verweigern sie sich der Auseinandersetzung mit dem legitimen irischen Nationalismus der katholischen Mitbürger.

SB: Hintergrund der Flaggenproteste bildet die jahrelange Massenverelendung in den protestantischen Arbeitervierteln, die seit dem Karfreitagsabkommen nicht besser, sondern schlimmer geworden ist. Viele, wenn nicht die meisten Jugendlichen in solchen Siedlungen weisen einen recht niedrigen Bildungsstand auf und haben kaum eine andere Perspektive als ein Leben von der Sozialhilfe oder in irgendeinem Billigjob.

RG: Stimmt absolut.

SB: Wäre es daher nicht an der Zeit, daß die Arbeiterklasse auf beiden Seiten der Konfessionslinie ihre Kräfte bündelt, um gegen die sozial ungerechte Austeritätspolitik Londons zu mobilisieren?

RG: Das würde ich mir wünschen. Soweit ich weiß, will Ex-UVF-Mann Billy Hutchinson, der heute PUP-Vorsitzender ist, eine solche Initiative starten, in deren Mittelpunkt die Linderung der erbärmlichen Lage in den Arbeitervierteln Nordirlands steht. Er muß nur aufpassen, daß seine Position nicht von den politischen Gegnern bei den großen unionistischen Parteien DUP und UUP unterminiert wird. Im unionistischen Lager ist eine linke progressive Politik schwer zu vermitteln. Das ist sie immer gewesen.

Ende der fünfziger Jahre, Anfang der sechziger Jahre sah der große Reformer O'Neill in der Northern Ireland Labour Party (NILP), die inzwischen längst untergegangen ist, den größten Gegner, weil sie seiner UUP zahlreiche Stimmen bei linken Protestanten abnahm. Seine Reformen waren in allererster Linie als Antwort auf die sozialdemokratische Herausforderung durch die NILP gedacht. Mein Freund, von dem ich vorhin erzählte, der beim UVF-Nachrichtendienst gewesen ist, war auch zugleich NILP-Mitglied und damit auch nicht der einzige unter seinen Kampfgenossen. Tatsächlich ist es der Northern Ireland Labour Party zu verdanken, daß nach vielen Jahren der progressive Flügel innerhalb der UVF die Oberhand gewann und daß aus der Organisation die linke PUP hervorgegangen ist. Das ist nicht sehr bekannt.

John Stewart, in den sechziger Jahren ein Pfarrer an der Shankill Road, war an dieser Entwicklung beteiligt. Er hatte einige Jahre im Ausland als Missionar verbracht und war ein überzeugter Sozialist. Die damalige UVF-Brigade an der Shankill hat sich damals einmal im Monat heimlich bei ihm in der Pfarrei getroffen. Er war ein großartiger Mensch und ein unbesungener Held. Jim McDonald, damals ein führendes Mitglied der UVF, war ein guter Freund von Stewart. McDonald, der später half, die PUP zu gründen, war sich niemals zu schade, sich mit Nationalisten zu treffen. Das Problem war nur, daß jede Annäherung zwischen Vertretern der protestantischen Arbeiterklasse mit Menschen im katholischen Nachbarviertel von Paisley und der Führung der Ulster Unionists stets verteufelt wurde.

SB: Könnte man sagen, daß die Unionisten stets versucht haben, die progressiven Kräfte bei den Loyalisten zu unterminieren?

RG: Zweifelsohne.

SB: Danke sehr, Roy Garland, für das Interview.

Vorderansicht des 1849 von Charles Lanyon im neo-gothischen Stil entworfenen Hauptgebäudes der Queen's University - Foto: © 2013 by Schattenblick

Queen's University Belfast, Gründungsort der People's Democracy (PD) im Jahre 1968
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fußnote:

1. Siehe: http://www.ulsternation.org.uk/ulster_volunteer_force.htm

5. Februar 2013