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INTERVIEW/023: Irland geht alle an - Eins vor, zwei zurück ... Eamonn McCann im Gespräch (SB)


Interview mit Eamonn McCann am 7. Januar 2013 in Derry



Der 1943 in Derry geborene Journalist Eamonn McCann ist in Irland eine lebende Legende. Als linker Student an der Belfaster Queen's Universität führte er Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die Bürgerrechtsbewegung mit an, die sich in Nordirland eine Abschaffung der rechtlichen und sozialen Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die protestantische Mehrheit auf ihre Fahne geschrieben hatte. McCann war zugegen, als am 30. Januar 1972 in Derry britische Fallschirmjäger das Feuer auf die Teilnehmer eines Protestmarsches gegen die Internierung mutmaßlicher Aktivisten und Sympathisanten der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) eröffneten und 14 unbewaffneten Zivilisten das Leben nahmen. Später hat er als Journalist für das irische Massenblatt Sunday World gearbeitet. Über das Thema "Bloody Sunday" hat er mehrere Bücher verfaßt und den Kampf der Opferfamilien um Gerechtigkeit jahrezehntelang unterstützt. Heute schreibt McCann eine regelmäßige Kolumne für den Belfaster Telegraph, das Derry Journal und die irische Musikzeitschrift Hot Press. Er gehört dem Vorstand des National Union of Journalists (NUJ) an, nimmt als Mitglied der Socialist Workers Party (SWP) aktiv am politischen Leben teil und ist ein gefragter Kommentator bei Funk und Fernsehen. Am 7. Januar sprach der Schattenblick mit McCann in Derry über das Bloody-Sunday-Tribunal sowie den Stand des nordirischen "Friedensprozesses".

Häuserwand mit der historischen, zugleich frischbemalten Aufschrift 'YOU ARE NOW ENTERING FREE DERRY' - Foto: Zubro, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Die Free Derry Corner, am Eingang zur katholischen Bogside, damals Brennpunkt des Bloody-Sunday-Massakers
Foto: Zubro, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Schattenblick: Könnten Sie uns als Veteran der nordirischen Bürgerrechtsbewegung vielleicht schildern, wie Ihre Erwartungen damals als junger Student aussahen und inwiefern das, was sich daraus entwickelt hat, sie erfüllt bzw. ihnen widersprochen hat?

Eamonn McCann: Ich habe gehofft, daß die Einführung der rechtlichen Gleichstellung von Katholiken und Protestanten auch ein Ende der konfessionellen Kluft in Nordirland mit sich bringen würde. Leider ist das nicht eingetreten. Im Gegenteil, die Spaltung der nordirischen Gesellschaft hat sich durch den Ausbruch der Troubles und das jahrelange Blutvergießen vertieft. So gesehen, sind meine damaligen Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen. Dennoch ist die nordirische Bürgerrechtsbewegung meines Erachtens nicht gescheitert. Die damaligen Ereignisse in Nordirland haben Menschen auf der ganzen Welt - mich eingeschlossen - dazu inspiriert, sich gegen staatliche Willkür aufzulehnen, und tun es heute immer noch. Menschheitsgeschichtlich gesehen ist kein Aufbegehren gegen Machtmißbrauch jemals vergeblich. Ich bewundere jeden, der loszieht, um ein unterdrückerisches Regime zu stürzen. In den Jahren 1967 bis 1971 hat die nordirische Bürgerrechtsbewegung beispielhaft demonstriert, wie so etwas zu bewerkstelligen ist. Gleichwohl muß ich einräumen, daß sich die politische Perspektive, die ich und meine Freunde damals verfolgten, nicht hat realisieren lassen.

SB: In seinem vor kurzem erschienenen Buch "The Provisional IRA - From Insurrection to Parliament" wirft der ehemalige IRA-Kämpfer und -Hungerstreikende Tommy McKearney die Frage auf, ob die britische Armee durch die Erschießung von 13 Zivilisten am Bloody Sunday in Derry sowie die Internierung und Folter Hunderter katholischer junger Männer nicht den Zweck verfolgte, die IRA zu Vergeltungsmaßnahmen zu provozieren und somit den damaligen Kampf um soziale Gerechtigkeit und rechtliche Gleichstellung auf das militärische Feld zu verlegen, wo sich London langfristig bessere Chancen ausrechnen konnte. Was halten Sie von der Vermutung McKearneys? Trifft sie zu?

EMcC: Die Versuchung liegt nahe, dem britischen Militärestablishment zu unterstellen, es habe eine finstere Strategie zur Bewältigung der damaligen Nordirland-Krise gehabt, und alles, was danach passiert ist, als die Umsetzung eines solchen "Masterplans" zu begreifen. Von jeher haben Politik und Militär Großbritanniens die "irische Frage" als einen Konflikt zwischen grün - den katholischen Nationalisten - und orange - den königstreuen Protestanten - verstanden und definiert. Es fällt dem britischen Staat leichter, einen bewaffneten nationalistischen Aufstand niederzuschlagen, als eine von den Volksmassen getragene Sozialrevolte in den Griff zu bekommen. Die britische Armee hat über die Jahrhunderte hinweg sehr viele Erfahrungen bei der Bekämpfung von Aufständen fremder Völker in Übersee sammeln können. In der postkolonialen Ära nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sie ihre Fähigkeiten in der Niederschlagung nationaler Erhebungen in Ländern wie Indien, Pakistan, Palästina, Malaysia, Jemen, Kenia und Zypern weiter perfektioniert. Sie hat auch eine Vorgehensweise für solche Fälle entwickelt: erstens, man stellt sich dem Aufstand militärisch in den Weg und zweitens, man findet so schnell wie möglich heraus, wer die Gemäßigten unter den Aufständischen sind und umwirbt sie mit kosmetischen Reformen und Regierungsposten, um im nächsten Zug die sogenannten Hardliner zu isolieren und fertigzumachen. Natürlich sind Aspekte dieses Modells in Nordirland zur Anwendung gekommen, dennoch wäre es leichtsinnig zu behaupten, die Briten hätten von Anfang an einen fertigen Plan gehabt, den sie bis zu Ende verfolgten und umsetzten.

Aus den Dokumenten aus den Wochen und Monaten vor dem Bloody Sunday, die im Rahmen des gleichnamigen Tribunals an die Öffentlichkeit gelangt sind, gehen einige wichtige Erkenntnisse hervor. [1] Entgegen den damaligen Vorstellungen machten sich London und das britische Militär keine Gedanken über die Sicherheit der Grenze zur Republik Irland. Das war für sie kein Thema. Darüber hinaus verstanden sie ihre Rolle nicht als Retter der unionistischen Regierung in Stormont. Weder sympathisierten sie mit ihren protestantischen Brüdern in Nordirland noch identifizierten sie sich mit ihnen. In Gegenteil übten in den vertraulichen Mitteilungen zuerst die britischen Militärs und später auch die Mitglieder der konservativen Regierung Ted Heaths in London scharfe Kritik an der unionistischen Führung in Belfast. Die britischen Offiziere betrachteten es überhaupt nicht als ihre Aufgabe, die Unionisten aus ihrer selbstverschuldeten Lage zu befreien oder ihre Einparteienherrschaft in Nordirland zu retten. Was sie mehr als alles andere umtrieb, war das Szenario einer sozialen Revolte. Der Umstand, daß sich das katholische Bogside-Viertel in Derry zu einer von der nordirischen Polizei und den britischen Sicherheitskräften "befreiten Zone" entwickelt hatte, war ihnen mehr als alles andere ein Dorn im Auge. Daß eine arbeitende Bevölkerung die Kontrolle über ihr Wohngebiet übernehmen und sich einfach aus dem Zuständigkeitsbereich des Vereinigten Königreichs herauslösen und sich selbständig machen konnte, war für die Angehörigen des britischen Offizierskorps eine unerträgliche Beleidigung all dessen, was für sie Recht und Ordnung ausmachte.

In den Briefen, die Generalmajor Robert Ford, damals Oberbefehlshaber der britischen Landstreitkräfte in Nordirland, verfaßte, wird Stormont kaum erwähnt und die Republik Irland bzw. die Grenze zu ihr schon gar nicht. Man findet keinen einzigen Hinweis darauf, daß für ihn die Frage der territorialen Verteidigung Nordirlands dringend war. Stattdessen zieht er über die einheimischen Politiker her und bezeichnet zum Beispiel Albert Anderson, damals Abgeordneter für Derry in der nordirischen Versammlung und Staatssekretär im Innenministerium in der unionistischen Regierung, abfällig als "Nervensäge" und weist seine Untergebenen an, sich von ihm fernzuhalten. Dabei war Anderson der ranghöchste unionistische Politiker Derrys. Man könnte fast sagen, daß Ford mehr Respekt vor den Derry Young Hooligans, wie sie damals im britischen Militärjargon bezeichnet wurden, als vor londontreuen Volksvertretern wie Anderson hatte. Immerhin konnten die DYH ganz gut Steine werfen, stellte der General einmal in einer schriftlichen Mitteilung fest. Nordirland ist zwar von der Fläche und der Bevölkerungszahl her nicht besonders groß, seine Gesellschaft strotzt jedoch nur so von komplizierten Widersprüchen und Besonderheiten. Von daher erforderte seine Befriedung ganz andere Antworten und Taktiken als etwa in Palästina oder Malaysia. Von daher würde ich sagen, daß Tommy McKearneys Vermutung eine Prise, aber nicht die ganze Wahrheit enthält.

Eamonn McCann im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eamonn McCann
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sie haben bei der Kampagne um die Einrichtung einer neuen öffentlichen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom Bloody Sunday eine führende Rolle gespielt. 1998 kam die Regierung Tony Blairs der Forderung nach. Bis 2010 und zur Veröffentlichung des Untersuchungsberichts haben Sie die Arbeit des Tribunals publizistisch begleitet. In seinem Bericht stellte der Vorsitzende Richter Lord Saville fest, daß die britischen Fallschirmjäger damals nicht in Notwehr handelten, sondern das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffneten und einige von ihnen erschossen, während sie aus Angst um ihr Leben flohen. Zeitgleich mit der Veröffentlichung des Saville Reports hat sich der amtierende Premierminister David Cameron im Namen des britischen Staats dafür entschuldigt. Ist Ihres Erachtens damit dem Verlangen der Verletzten und der Angehörigen der Getöteten nach Gerechtigkeit Genüge getan worden? Darüber hinaus ist das Bloody-Sunday-Tribunal mit Kosten um die 400 Millionen Pfund (ca. 600 Millionen Euro - Anm. d. SB-Red.) zur teuersten und aufwendigsten Untersuchungskommission in der britischen Geschichte geworden. Damit scheint für die Briten, die sich gegen die Einrichtung weiterer Untersuchungskommissionen zu den anderen größeren Tragödien des Bürgerkrieges sperren, die geschichtliche Aufarbeitung der "Troubles" abgeschlossen zu sein. Wie bewerten Sie im Nachhinein den Ausgang des Bloody-Sunday-Tribunals?

EMcC: Eine zweite Untersuchungskommission wie die zum Bloody Sunday wird es weder in Nordirland noch in Großbritannien jemals geben. Das hat einen einfachen Grund. 2005 hat die Blair-Regierung ein Gesetz vom Parlament verabschieden lassen, das die Rahmenbedingungen für öffentliche Untersuchungskommissionen völlig veränderte und ihnen starke Einschränkungen auferlegte. Die Saville-Untersuchung fand auf der Grundlage des Tribunals of Evidence Act aus dem Jahr 1921 statt. Interessanterweise ist es das letzte Gesetz, das vom britischen Parlament vor der Unabhängigkeit Irlands verabschiedet worden ist; damit ist es ins irische Gesetz übergegangen und bildete im Süden die Grundlage für viele Untersuchungen in den vergangenen Jahrzehnten über korrupte Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik. Nach dem neuen, von der Blair-Regierung verfaßten Gesetz kann der Minister, in dessen Zuständigkeitsbereich eine Untersuchung stattfinden soll, festlegen, welche Beweismittel zugelassen werden und in welchem Umfang überhaupt ermittelt wird. Er kann es ablehnen, bestimmte Teile des amtlichen Schriftverkehrs zur Untersuchung freizugeben. Er kann auch bestimmen, wer von seinen Ministerialbeamten aussagen bzw. vernommen werden darf und wer nicht. Lord Saville selbst hat 2005 anläßlich der Verabschiedung jenes Gesetzes erklärt, daß er sich unter derlei Einschränkungen geweigert hätte, den Vorsitz des Bloody-Sunday-Tribunals zu übernehmen. Seine beiden Richterkollegen im Tribunal, William Hoyt aus Kanada und John Toohey aus Australien, haben denselben Standpunkt vertreten. Es wird niemals wieder eine Untersuchungskommission wie das Bloody-Sunday-Tribunal geben, doch das hat gar nichts mit den von den Medien und der Politik ständig angeführten Umständen, wie Kosten und Zeitaufwand, zu tun.

Von dem Zeitraum zwischen 2004 und 2010, den die drei Richter benötigten, um das ganze Beweismaterial zu sichten und ihren Abschlußbericht zu schreiben, einmal abgesehen, war es die ungeheure Zahl der öffentlich vernommenen Zeugen, welche die Kosten für das Saville-Tribunal in die Höhe trieb und so zeitaufwendig machte. Insgesamt belief sich die Zahl der Zeugenaussagen, die entweder damals schriftlich vorlagen oder von den Überlebenden vor dem Tribunal abgeben wurden, auf etwa 2500. Die Ereignisse vom Bloody Sunday unterscheiden sich von allen anderen Greueltaten der Troubles in drei wesentlichen Punkten: sie spielten sich, erstens, am hellichten Tag, zweitens, über einen Zeitraum von rund 18 Minuten und, drittens, unmittelbar vor den Augen Hunderter Zeugen ab, die sich in vielen Fällen nur wenige Meter vom Tatgeschehen entfernt befanden. Es gibt keine vergleichbaren Umstände, weder bei der Ermordung des Anwalts Patrick Finucane, dem Greysteel- und Loughinisland-Massaker, noch bei den Bombenanschlägen von Eniskillen und auf die McGurk's Bar sowie den anderen Greueltaten auf beiden Seiten. Letztere Vorfälle ereigneten sich meistens in der Nacht. Es brachen bewaffnete, maskierte Männer in eine Kneipe ein, schossen wild um sich und verschwanden wieder, oder es wurde unbemerkt, weil unter dem Schutz der Dunkelheit, irgendwo eine Bombe versteckt, die später per Zünder oder Zeituhr zur Detonation gebracht wurde. In derlei Fällen gab es normalerweise gar keine Tatzeugen. Bei den Überfällen gab es hinterher vielleicht eine Handvoll Zeugen. Im Vergleich zum Bloody Sunday mit seinen aberhundert Zeugen ist das fast nichts. Also sind die Chancen, daß irgendeine andere Untersuchungskommission finanziell oder aufwandstechnisch ähnlich zu Buche schlagen könnte, gleich null. Wenn nun die britische Regierung auf die Kosten und die Verfahrensdauer des Bloody-Sunday-Tribunals verweist, um die Forderung nach der Einrichtung weiterer Untersuchungskommissionen zum Beispiel für die gerade von mir erwähnten Fälle zurückzuweisen, dann ist das nicht aufrichtig. Sie erzeugen nur eine Nebelwand, die verhindern soll, daß nicht weitere unappetitliche Details der staatlichen Aufstandsbekämpfung in Nordirland öffentlich bekannt werden.

Ich erinnere mich, wie ich Fragen von liberalen Freunden in England beantworten mußte, die gar nicht verstehen konnten, warum das Bloody-Sunday-Tribunal so lange dauerte und soviel Geld kostete. Die damalige Labour-Regierung, allen voran Premierminister Blair und seine beiden Kabinettskollegen Jack Straw und David Blunkett, hat diese Empfindung vieler Menschen, die nicht mit der Materie vertraut waren, als Vorwand genutzt, um ein neues Gesetz, das den Umfang und die Befugnisse aller nachfolgenden Untersuchungskommissionen stark einschränkt, durchs Parlament zu bringen. Blair, Blunkett, Straw und ihresgleichen sind allesamt klassische Bürokraten, die es nicht gern haben, wenn die Öffentlichkeit zuviel Einblick in das Regierungsgeschehen hinter den Kulissen des alltäglichen politischen Theaters erhält. Blair ist doch derjenige, der auf die Frage nach seinem größten Fehler während seiner zehnjährigen Amtszeit als Premierminister ausgerechnet die Verabschiedung eines Informationsfreiheitsgesetzes nannte. Derselbe Kerl hat doch das eigene Volk belogen, um sich am Irakkrieg zu beteiligen, verflucht noch mal ...,

SB: ... der schätzungsweise eine Million Iraker das Leben kostete.

EMcC: ..., und besitzt hinterher die Unverfrorenheit, das britische Informationsfreiheitsgesetz als seinen "größten Fehler" zu bezeichnen. Unglaublich.

Eine gemalte Version des berühmtesten Pressefotos von Bloody Sunday, wie Pater Edward Daly mit weißem Taschentuch und geducktem Kopf die Soldaten dazu auffordert, auf ihn und die Personen, die einen verletzten Jugendlichen ins Krankenhaus bringen wollen, nicht zu schießen - Foto: Sean Mack, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Wandmalerei erinnert an die gefährliche Bergung des tödlich verletzten Jackie Duddy
Foto: Sean Mack, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Rückblickend muß ich den Richtern des Bloody-Sunday-Tribunals ein dickes Lob aussprechen. Saville und seine beiden Kollegen haben gewissenhaft und gut gearbeitet. Die Art, wie die drei Richter sich in die komplizierte und umfangreiche Materie eingearbeitet haben und sie bei den Zeugenauftritten stets präsent hatten, war wirklich beeindruckend. Auch nach einem Vierteljahr waren sie immer noch in der Lage, Zeugen, zum Beispiel Ex-Militärs oder deren Anwälte, mitten in ihren Ausführungen auf Widersprüche zu früheren Aussagen oder Angaben von anderen Zeugen aufmerksam zu machen und sie damit in Schwierigkeiten zu bringen. Ich habe sie nicht nur beim Tribunal beobachtet, sondern konnte hin und wieder auch ein vertrauliches Gespräch mit ihnen führen. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß sie echte Empörung empfanden angesichts dessen, was damals passiert ist - das Niederschießen von mehr als einem Dutzend unschuldiger Zivilisten durch schwerbewaffnete Elitesoldaten. Dessen ungeachtet hatten die politischen Verantwortlichen mit Bedacht diese drei Richter mit der Durchführung einer solch heiklen Untersuchungskommission beauftragt. Saville war ein britischer Law Lord. Hoyt und Toohey gehörten zur Spitze der Richterschaft in zwei der mit dem Vereinigten Königreich diplomatisch und kulturell am engsten verbundenen Staaten. Das waren also keine Radikalinskis. Man konnte sich bei ihnen darauf verlassen, daß sie, wo immer möglich, Schaden von den staatlichen britischen Institutionen abwenden würden.

Im Nachhinein kann ich dem Bloody-Sunday-Tribunal viel Gutes abgewinnen. Es tagte länger als jede andere Untersuchungskommission vor ihm. Nur das Amtsenthebungsverfahren gegen den früheren Generalgouverneur von Indien, Warren Hastings, das von 1787 bis 1795, einschließlich eines 148tägigen Kreuzverhörs durch das Parlament, dauerte, läßt sich damit vergleichen. Die Opferfamilien haben ihr wichtigstes Ziel erreicht. Das Tribunal sprach die Ermordeten von jeder Schuld frei. Die Kehrseite der Akribie der drei Richter war jedoch, daß sie sorgfältig darauf achteten, daß die alleinige Verantwortung für das offensichtliche Fehlverhalten bei den einfachen Soldaten vor Ort am Tag des Geschehens blieb. Hochrangige Militärangehörige wurden weder belastet noch getadelt. Das Fazit von Saville lautete, das Massaker vom Bloody Sunday sei das Werk eines Dutzends schießwütiger Fallschirmjäger und eines einzigen Offiziers, Oberstleutnant Derek Wilford, gewesen, der sich trotz eines gegenteiligen Befehls mit seinen Männern in das katholische Bogside-Viertel begab. Alle anderen beteiligten Militärs wurden entlastet.

Saville stellte zudem fest, daß es keine Hinweise für eine Verwicklung irgendwelcher Politiker in das Geschehen gab. Wen wundert das? Über die damalige Kommunikation zwischen Politik und Militär lagen selbstverständlich keine belastenden Dokumente vor. Es existierte keine schriftliche Mitteilung vom damaligen konservativen Premierminister Heath an die Militärs, bei der Auflösung des Anti-Internierungsprotests in Derry von der Waffe Gebrauch zu machen. Aber wie der Ex-Premierminister James Callaghan, der 1969 als Innenminister in der sozialdemokratischen Vorgängerregierung von Harold Wilson auf Drängen der unionistischen Administration in Belfast britische Truppen zur Unterstützung der Polizei nach Nordirland entsandt hatte, einmal treffend anmerkte, wäre ein solcher Befehl, hätte es ihn gegeben, sowieso niemals schriftlich festgehalten, sondern nur mündlich weitergegeben worden. Daher kann ich dem kategorischen Freispruch Savilles an dieser Stelle nicht ganz folgen.

Davon einmal abgesehen, hat Saville eine ganze Menge Beweise einfach ignoriert bzw. nicht berücksichtigt. Bei der Urteilsverkündung stellte er beispielsweise fest, daß General Ford, damals Oberkommandierender Offizier der Landstreitkräfte in Nordirland, in keiner Weise in die Tötung unschuldiger Zivilisten am Bloody Sunday verwickelt gewesen sei. Das ist doch absoluter Humbug! Man muß nur die Dokumente von damals lesen. Ford fällte nicht nur die Entscheidung, die Fallschirmjäger nach Derry zu entsenden, sondern warf in einer Mitteilung wenige Wochen vor dem Bloody Sunday auch die Frage nach dem "Minimum an Gewalt" auf, das erforderlich wäre, um die Kontrolle über die Bogside wiederzuerlangen, und regte an, nach einer Warnung an die Rädelsführer der sogenannten Hooligans scharf zu schießen. Später wollte er sich nicht daran erinnern können, ein solches Schreiben verfaßt zu haben.

Für eine Verwicklung von General Sir Michael Jackson, damals Hauptmann beim Militärgeheimdienst und Adjutant beim 1. Fallschirmjägerbataillon, in das Massaker sind die Beweise noch eindeutiger als bei Ford. Am Tag des Geschehens diente er als Stellvertretender Kommandeur der britischen Truppen in Derry. Es steht außer Zweifel, daß er bei der Vertuschung der Morde die Fäden zog. Er hat nicht nur das Protokoll über die abgegebenen Schüsse, sondern auch noch die Stellungnahmen des Nachrichtendienstoffiziers des Bataillons und der vier Kompaniechefs eigenhändig niedergeschrieben. Was soll das? Konnten sie ihre Erklärungen nicht selbst verfassen? Das ergibt gar keinen Sinn. Wenige Stunden nach einem solchen Vorfall, solange die Erinnerungen noch frisch sind, würde man die beteiligten fünf Offiziere doch bitten, ihre eigenen Erklärungen aufzuschreiben. Das geht viel schneller, als sie einen nach dem anderen ins Büro zu holen und ihre Aussagen niederzuschreiben. Hier hat Jackson ganz klar geholfen, einen mehrfachen Mord zu vertuschen. Diesen offensichtlichen Umstand hat das Saville-Tribunal schlichtweg unter dem Tisch fallen lassen. Und warum? Weil Jackson in der Zwischenzeit zu einem der am höchsten dekorierten, britischen Militärs aufgestiegen war. Im selben Monat 2003, als Jackson seine Aussage vor dem Bloody-Sunday-Tribunal machte, das damals in der Methodist Central Hall in London tagte, wurde er zum Generalstabschef der britischen Armee ernannt.

Der Grund, warum Saville die Beweise in bezug auf Jackson ignorierte bzw. ignorieren mußte, ist einfach. Hätte er es nicht getan, hätte sich Cameron am Tag der Veröffentlichung des Tribunalberichts vor dem britischen Parlament bei den Opferfamilien nicht einfach entschuldigen und behaupten können, für das Massaker seien einige befehlsmißachtende Soldaten niederen Ranges, die nicht für das großartige britische Militär stehen, allein verantwortlich gewesen. Wäre General Jackson belastet worden, wäre Camerons Entschuldigung und Bekenntnis zur militärischen Ehre Großbritanniens so nicht möglich gewesen. Der Saville-Bericht hat die Bedürfnisse der Opferfamilien weitestgehend befriedigt. Deren Erleichterung, daß ihre getöteten Angehörigen von jedem Makel befreit wurden, ist verständlich und nachvollziehbar. Nichtsdestotrotz riecht das Bloody-Sunday-Tribunal für mich bis heute nach einem klassischen Vertuschungsmanöver des britischen Staates.

SB: Das Bloody-Sunday-Tribunal stellt immerhin den Versuch dar, zumindest einen Teil der Troubles, die rund 3500 Menschen in Nordirland das Leben kosteten und Zehntausende physisch oder psychisch verletzt zurückließen, aufzuarbeiten. Für alles andere ist das Historical Enquiries Team (HET) zuständig, das alte Fälle bearbeitet und sie zur Anklage zu bringen versucht. Doch die Vorgehensweise des HET ist umstritten. Einige Kritiker, vor allem Ex-Paramilitärs, die dem bewaffneten Kampf abgeschworen haben, meinen, sie reiße alte Wunden auf und mache eine Aussöhnung zwischen den Konfliktparteien schwieriger statt leichter. Vor diesem Hintergrund macht sich Sinn Féin für die Gründung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission stark, bei der die politischen Gewalttaten der letzten 40, 50 Jahre aufgearbeitet werden könnten. Eine solche Kommission könnte den Tätern Straffreiheit garantieren, sofern sie ihr Wissen preisgeben und gewissenhaft helfen, die ungelösten Fälle aufzuklären. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Wandmalerei als Denkmal an die 14 vom Staat ermordeten Mitbürger - Foto: Vintagekits, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Erinnerung an die 14 Todesopfer des Bloody Sunday
Foto: Vintagekits, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

EMcC: Ich glaube, daß wir weder die Wahrheit herausfinden noch Versöhnung erzielen werden. Das Modell für den Vorschlag Sinn Féins ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission, die man in Südafrika nach dem Ende des Apartheid-Regimes eingerichtet hat. Die Arbeit jener Kommission ist bei weitem nicht so erfolgreich gewesen, wie es die Berichte der europäischen und amerikanischen Medien suggerieren. Die Auftritte und die Aussagen einiger Personen, darunter Ex-Militärs und - Geheimdienstleute sowie ANC-Militante, sind sehr umstritten gewesen. In einigen Fällen sind die alten Streitereien wieder richtig aufgeflammt. In der Tat hat die südafrikanische Kommission sehr viel Bitterkeit hinterlassen.

Bei uns würde eine solche Einrichtung nicht funktionieren und zwar aus einem ganz einfachen Grund. In Nordirland gibt es keine Einigung in der Frage, weshalb die Troubles überhaupt ausgebrochen sind. In Südafrika hatten sie es einfacher. Es galt als unumstritten, daß die Apartheid die Quelle allen Übels war. Vergeblich versuchte die weiße Minderheit, ihre Herrschaft über die schwarze Mehrheit zu verteidigen. Nachdem die schwarze Mehrheit volle politische Rechte erhalten hatte, war dieses Problem aus der Welt geschafft. Man kann natürlich darüber diskutieren, ob der bewaffnete Kampf des African National Congress (ANC) in allen Facetten gerechtfertigt gewesen ist. Daß jedoch der Rassismus der Menschen mit weißer Hautfarbe gegenüber den Menschen mit schwarzer die Hauptursache des Konfliktes war, steht dagegen längst fest.

In Nordirland dagegen herrscht zwischen Katholiken und Protestanten völlige Uneinigkeit über die Gründe für den Ausbruch der Troubles. War es ein Kampf um nationale Befreiung oder vielleicht nur ein Aufbegehren gegen Diskriminierung und rechtliche sowie soziale Benachteiligung? Oder war es doch der legitime Abwehrkampf eines demokratischen Staats gegen terroristische Angriffe? Irgendwie haben alle dieser Versionen ihre eigene Logik. Doch solange es keine Einigung über die Ursachen des Konfliktes gibt, kann er auch niemals endgültig beigelegt werden. So gesehen ist der nordirische Friedensprozeß auf Sand gebaut worden. Das bedeutet aber nicht, daß er kollabieren wird. Zwei Aspekte machen es leichter, den Konflikt in Nordirland zu lösen als vergleichbare Situationen etwa in Sri Lanka oder auf dem Balkan. Erstens, Nordirland steht nicht im Mittelpunkt eines Tauziehens zwischen irgendwelchen Großmächten um Einfluß. Es hat keine strategische Bedeutung wie das ehemalige Jugoslawien oder größere Mengen Naturressourcen wie im Nahen Osten, welche die Begehrlichkeiten ausländischer Mächte wecken könnten. Keine Großmacht wie die USA oder Rußland hat sich jemals im geringsten dafür interessiert, ob Nordirland zu Großbritannien oder der Republik Irland gehört.

SB: Nun, das Deutsche Reich Kaiser Wilhelms hat in den Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Verfassungskrise um die Frage einer Teilautonomie für Irland durch Waffenlieferungen an Nationalisten und Unionisten angeheizt, um das Vereinigte Königreich zu schwächen.

EMcC: Stimmt. Der Konflikt in Irland hatte damals wie auch nach dem Ersten Weltkrieg eine internationale Dimension. In den anderen Kolonien des British Empire wie Ägypten und Indien wurde der Verlauf des irischen Kampfes um Unabhängigkeit von den nationalistischen Politikern mit großem Interesse verfolgt, um Rückschlüsse für das effektivste Verhalten gegenüber London ziehen zu können. Dies geht deutlich aus den Schriften von Mahatma Gandhi und Saad Zaghlul hervor. Doch in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg hat die irische bzw. nordirische Frage jegliche geopolitische Bedeutung verloren. Für die Sowjetunion war Irland vollkommen irrelevant, während sich die USA erst unter Jimmy Carter für den Konflikt im Norden der Insel zu interessieren begannen. Das hatte weniger außenpolitische, als vielmehr innenpolitische Gründe. Durch den Einsatz für eine Beilegung des Nordirland-Konfliktes versuchten erst Carter und später Bill Clinton, die irisch-stämmigen Wähler in den USA, die traditionell den Demokraten nahestehen, für sich zu mobilisieren.

Der zweite Aspekt des Friedensprozesses, den ich hervorheben würde, ist, daß er vor allem von unten angeschoben wurde. Die katholische Arbeiterklasse, auf deren Unterstützung die IRA von Anfang an angewiesen gewesen ist, hat irgendwann in den achtziger Jahren entschieden, daß sie den Kampf für eine Wiedervereinigung Irlands nicht mitträgt, wenn damit ein Krieg gegen die protestantische Bevölkerung Nordirlands einhergeht. Dies gilt insbesondere für Belfast, wo beide Konfessionen Seite an Seite leben. Parallel dazu wurde offensichtlich, daß die protestantischen Arbeiter ihrerseits nicht bereit waren, einen Krieg zu führen, nur um die Macht in der Provinz weiterhin mit den Katholiken nicht teilen zu müssen. Also gab es auf beiden Seiten eine Basis oder eine Übereinstimmung der Interessen, auf der der sogenannte Friedensprozeß errichtet werden konnte. Die Friedenslösung lief auf eine Machtbeteiligung der Katholiken beim gleichzeitigen Verbleib Nordirlands in der Union mit Großbritannien hinaus, während die Wiedervereinigung Irlands nicht ausgeschlossen, sondern von einer demokratischen Mehrheitsentscheidung abhängig gemacht wurde. Von daher ist der nordirische Friedensprozeß vielmehr das Ergebnis des Strebens der einfachen Menschen nach einem Ende des Blutvergießens als irgendwelcher Verhandlungsrunden zwischen namhaften Vertretern der Regierungen in Dublin und London sowie der Nationalisten und Unionisten in Belfast.

An der geläufigen Version, wonach weitblickende Politiker wie Bertie Ahern, Tony Blair, Gerry Adams und David Trimble ihre streitsüchtigen Anhänger vom Schlachtfeld holten, um sie auf den Pfad des Friedens zu führen, glaube ich persönlich nicht. Es waren die einfachen Menschen in Nordirland, die von unten Druck ausübten und den Politikern vorgaben, in welche Richtung die Dinge laufen mußten, wollten sie ihre Positionen an der Führung des jeweiligen nationalistischen oder unionistischen Blocks behalten. Dies frühzeitig erkannt zu haben, darin besteht der große Verdienst von Adams. Anfang der achtziger Jahre, in der Zeit um die Hungerstreiks in Long Kesh, ging der Führung von Sinn Féin und der IRA allmählich auf, daß die eigene Anhängerschaft kriegsmüde war. Bei den unionistischen Politikern dauerte es etwas länger, bis der Groschen fiel. Die Führung der Loyalisten dagegen, die engeren Kontakt zu den Menschen in den protestantischen Arbeitervierteln unterhielten, hat die entsprechenden Zeichen frühzeitig erkannt. Natürlich dauerte es dennoch eine Weile, bis sich die Gemäßigten bei der IRA sowie bei der loyalistischen Ulster Defence Association (UDA) und der Ulster Volunteer Force (UVF) gegen die Militaristen in den eigenen Reihen durchsetzen konnten. Vor diesem Hintergrund weiß ich nicht, wie eine Wahrheits- und Versöhnungskommission die Geschichte der Troubles aufarbeiten sollte. Ich glaube nicht, daß eine solche Einrichtung ins Leben gerufen wird. Und sollte es doch eine gegeben, glaube ich nicht, daß sie besonders hilfreich sein wird.

Das historische, zum Teil aus rotem Backstein gebaute Rathaus von Derry - Foto: NorthernCounties, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Die Guildhall von Derry, Haupttagungsort des Saville-Tribunals
Foto: NorthernCounties, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

SB: Sie führten 2006, zum Zeitpunkt des Libanonkrieges, eine aufsehenerregende Protestaktion gegen das US-Rüstungsunternehmen Raytheon durch. Sie und ihre Mitstreiter haben dessen Dependence hier in Derry gestürmt, demoliert und die Computer durch die Fenster auf die Straße geworfen. Sie sind später von einem Geschworenengericht von jedem Vorwurf freigesprochen worden, weil sie überzeugend darstellen konnten, daß das Motiv für die Aktion die Verhinderung von Kriegsverbrechen und die Rettung menschlichen Lebens gewesen ist. Haben die Aktion und der ungewöhnliche Ausgang des Prozesses Konsequenzen nach sich gezogen? Ist Raytheon in Derry immer noch angesiedelt?

EMcC: Nein. Wir haben sie verjagt. Das ist ein großartiger Erfolg für die Kriegsgegner hier in Derry gewesen.

SB: Was für einen Betrieb oder eine Anlage genau hatte Raytheon hier?

EMcC: Sie machten Software-Entwicklung. Wir sind deshalb freigesprochen worden, weil Raytheon sowohl in seinen Firmenbroschüren als auch laut Aussagen der Manager, die vor Gericht erschienen, damit warb, daß alle Einzelteile und Subunternehmen zu dem einen Konzern gehörten und daß alle Mitarbeiter in die Produktion des gesamten Produktsortiments eingebunden seien. Also floß die Software-Entwicklung in Derry in die Herstellung von Raketen irgendwo anders ein. Vor Gericht konnten wir nachweisen, daß die Software-Entwickler bei uns regelmäßig in das von Raytheon betriebene Land Warfare Centre (LWC) des britischen Verteidigungsministeriums in Warminster in der südwestenglischen Grafschaft Wiltshire reisten. Wir haben Bilder vorgelegt, auf denen zu sehen war, wie dort Leute aus Derry, keine Raytheon-Manager von außerhalb, Wissenschaftler aus dem Ministry of Defence (MoD) sowie britische Militäroffiziere konsultierten. Sie waren also tief in diese Machenschaften verstrickt. Auf der Basis sind wir freigesprochen worden.

Um den Prozeß zu gewinnen, mußten wir vier Dinge beweisen: Erstens, daß Raytheon in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt war - das taten wir unter anderem anhand von Medienberichten. Wir haben zum Beispiel den Report des BBC-Korrespondenten Fergal Keane über den israelischen Luftangriff auf das libanesische Dorf Kana vorgeführt. Dort war mindestens eine Raytheon-Rakete nachweislich zum Einsatz gekommen. Im Fernsehbericht war auf den Metallresten der Name der Herstellerfirma und des Waffentyps klar zu erkennen. Zweitens, daß es sich bei der Vorgehensweise der israelischen Streitkräfte um Kriegsverbrechen handelte. Drittens, daß das Unternehmen hätte wissen müssen, daß seine an Tel Aviv verkauften Waffen im Sinne des Kriegsrechts auf illegale Weise eingesetzt werden würden. Und viertens, daß die Software-Entwickler in Derry in diese ganze Angelegenheit verstrickt waren. Das ist uns gelungen. Und das, obwohl der zuständige Richter Tom Burgess uns das anfangs nicht zutraute. Als unsere Anwälte bei der Prozeßeröffnung die geplante Verteidigungsstrategie kurz umrissen, hat er ihnen mit einem skeptischen Schmunzeln viel Glück gewünscht. Bei Raytheon war man über den unerwarteten Ausgang des Prozesses stinksauer.

Als zur Jahreswende 2008/2009 die israelische Großoffensive "Gegossenes Blei" im Gaza-Streifen begann, haben wir eine ähnliche Aktion durchgeführt. Nur das diesmal diejenigen, welche das Raytheon-Büro erstürmten, allesamt Frauen waren. Sie landeten wegen Hausfriedensbruchs, Sachbeschädigung et cetera vor Gericht und sind aufgrund derselben Argumente wie im ersten Prozeß ebenfalls freigesprochen worden. Daraufhin hat Raytheon in Derry die Segel gestrichen und das Büro geschlossen. Der Mutterkonzern hat zum Schluß einen wütenden Brief an die nordirische Behörde für ausländische Investitionen geschrieben und sich darin beklagt, daß man zu wenig zum Schutz seines Büros und seiner Mitarbeiter vor Störaktionen getan hätte. Damit war der Beweis erbracht, daß es die wiederholte Besetzung und keine konzerninterne Umstrukturierung war, die Raytheon zum Abzug aus Derry veranlaßt hatte. Das machte mich und meine Mitstreiter richtig glücklich.

SB: Bekanntlich hat Sinn Féin in den neunziger Jahren die Irisch-Amerikaner stark umworben sowie die Hilfe der Clinton-Regierung bei der Beilegung des Nordirland-Konfliktes gesucht und auch bekommen. Als Gerry Adams 1994, damals noch von den Unionisten als "Terrorpate" verschrieen, auf Anweisung Clintons sein erstes Visum zur Einreise in die USA erhielt, haben sie Sinn Féin gewarnt, daß man für die Unterstützung Washingtons im "Friedensprozeß" irgendwann einen teuren Preis würde bezahlen müssen. Tatsächlich scheint der Preis in der fortdauernden Erodierung der Neutralität der Republik Irlands zu bestehen. So wird der zivile Flughafen Shannon an der irischen Westküste seit 2001 von US-Militärtransportflugzeugen als Drehscheibe für Flüge in die Region rund um den Persischen Golf benutzt. Irland gehört traurigerweise auch zu den Ländern, deren Flughäfen und Luftraum während der Regierungszeit von US-Präsident George W. Bush von der CIA im Rahmen der Verschleppung und Folter irgendwelcher "Terrorverdächtiger" benutzt wurden. In den irischen Medien wird seit einigen Jahren der Einsatz irischer Freiwilliger in der britischen Armee im Ersten Weltkrieg positiv hervorgehoben, die Neutralität Irlands im Zweiten Weltkrieg dagegen negativ beurteilt. Man gewinnt den Eindruck, daß der Preis des Friedensprozesses bzw. der eventuellen Wiedervereinigung Irlands auf die volle Integration der Insel in die Verteidigungsstrukturen der NATO bzw. der EU hinausläuft. Würden Sie dem zustimmen?

EMcC: Ich denke schon. Man muß das Ganze im Rahmen der sogenannten Neuen Weltordnung sehen. Nur wenige Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion und des kommunistischen Warschauer Paktes konnten sich Clinton und Blair damit schmücken, auf dem Weg des nordirischen "Friedensprozesses" eine für ausländische Investitionen einst zu unruhige Ecke auf der westeuropäischen Landkarte wieder voll in den kapitalistischen Verwertungsprozeß integriert zu haben. Für Clinton war es ein grandioser außenpolitischer Erfolg, von dem er und seine Frau Hillary wegen des großen Einflusses der irisch-amerikanischen Wählerschaft noch bis heute innenpolitisch zehren. Die Bilder der Auftritte der von amerikanische Fähnchen schwenkenden Menschenmassen umjubelten Clinton-Familie auf Bühnen vor dem Rathaus in Belfast sowie vor der Guildhall in Derry gingen um die Welt. Als einheimischer Zuschauer fand ich es jedoch peinlich, wie sich die Prominenz hier praktisch vor den Clintons niederwarf, als seien sie königlichen Blutes. Beiderseits der Grenze konnte man nicht genug tun, um die Dankbarkeit gegenüber den USA zu demonstrieren und die Tore für Investitionen amerikanischer Unternehmen zu öffnen.

Das amerikanische Interesse am Nordirland-Konflikt fing bereits unter Jimmy Carter an. Rund ein Jahr vor dem Ende seiner ersten und einzigen Amtszeit gewannen die Konservativen in Großbritannien die Parlamentswahlen. Margaret Thatcher wurde Premierministerin. Bei der ersten Begegnung Thatchers mit Carter, die im Weißen Haus stattfand, fragte der US-Präsident eher randläufig, wie die Lage in Nordirland sei. Berichten zufolge war die Iron Lady schockiert und mehr als nur ein bißchen konsterniert, daß der US-Präsident überhaupt mit ihr darüber sprechen wollte. Aus ihrer Sicht mischte er sich damit auf unzulässige Weise in die Innenpolitik des Vereinigten Königreiches ein. Ab diesem Zeitpunkt war Nordirland auch für die Supermacht USA, die sich durch die Querelen dort in ihrer ordnungspolitischen Funktion im atlantischen Raum herausgefordert fühlte, ein Thema.

Das amerikanische Engagement, das viele in Irland als willkommenes Gegengewicht zu Großbritannien empfanden, hatte selbstverständlich seinen Preis. Niemand bekam das stärker zu spüren als die Aktivisten und Sympathisanten der IRA, die in den siebziger und achtziger Jahren als Ziel eine vereinigte sozialistische Republik Irland proklamiert hatten. Als später dann Adams, Martin McGuinness und die restliche Führung von Sinn Féin und der IRA entschieden, sich vom bewaffneten Kampf abzuwenden und den Pfad der parlamentarischen Politik zu betreten, war es Washington ein wichtiges Anliegen, daß sie im Zuge dessen auch die früheren sozialistischen Inhalte aus dem Parteiprogramm werfen sollten - was auch geschah. Ich glaube nicht, daß die Amerikaner ihnen das jemals explizit gesagt haben. So etwas versteht sich eher von selbst, nimmt man die Hilfe Washingtons in Anspruch.

SB: Damals gab es Berichte von mindestens einem Treffen von Adams und McGuinness mit Sandy Berger, dem Nationalen Sicherheitsberater Clintons, im abhörsicheren Bunker des Weißen Hauses. Man kann sich vorstellen, daß er sie auf den "Antidrogenkrieg" der USA einschwor. Seitdem ist jedenfalls von Sinn Féin nicht mehr zu hören, daß man in Irland liberale Rauschmittelgesetze wie in den Niederlanden, Portugal oder der Schweiz beschließen sollte.

EMcC: Das klingt plausibel. Was man aber nicht bestreiten kann, ist der Rechtsruck und der Abschied von allen Positionen, die von den herrschenden Kräften irgendwie als radikal empfunden werden konnten. So hat sich zum Beispiel Adams bei einem USA-Besuch geweigert, eine Petition zur Befreiung von Leonard Peltier, dem seit 1977 inhaftierten Indianerführer, zu unterzeichnen. Das habe ich von persönlichen Kontakten bei der US-Linken erfahren, die darüber enttäuscht und verärgert waren. Als ich darüber hier in der Zeitung schrieb, da wollten die Sinn-Féin-Anhänger es nicht wahrhaben. Ich wurde als Lügner, Miesmacher und Nestbeschmutzer beschimpft. Ich kenne auch den Fall von einem anderen Sinn-Féin-Politiker, der bei einer Reise in die USA den inhaftierten Ex-Black-Panther Mumia Abu Jamal im Gefängnis in Pennsylvania besuchen wollte. Der Gefängnisbesuch war schon Wochen im voraus geplant gewesen, wurde jedoch dann auf Drängen der Polizeigewerkschaft von Philadelphia abgeblasen. Schließlich war der Polizeibeamte, den Abu Jamal erschossen haben soll - was dieser bis heute bestreitet - Irisch-Amerikaner, wie viele seiner Kollegen. Offenbar wollte man die Sinn-Féin-Unterstützer in den USA, die viel Geld in die Parteikassen spülen, nicht verärgern. Bis heute bestreitet Sinn Féin, daß das passiert ist. Doch ich weiß es besser. Schließlich kam der betreffende Sinn-Féin-Kommunalpolitiker aus Derry und war vor der Abreise bei mir, weil er sich über den Mumia-Fall informieren wollte und wußte, daß ich ihm dabei behilflich sein könnte. Ich gab ihm Broschüren und Flugblätter der Free-Mumia-Bewegung mit auf dem Weg. Später wollte er sich nicht mehr daran erinnern können.

Ich glaube nicht, daß es die Amerikaner juckt, wenn zum Beispiel irgendein Sinn-Féin-Politiker in Dublin oder Belfast die Folterflüge der CIA kritisiert. Entscheidend ist, daß Sinn Féin keine führende Rolle bei den Protesten gegen die militärische Nutzung vom Flughafen Shannon durch die USA spielt, wozu die Partei durchaus in der Lage wäre und viele Menschen dagegen mobilisieren könnte. Stattdessen hat es Sinn Féin bisher tunlichst vermieden, ihre Anhängerschaft in irgendeiner Angelegenheit zu mobilisieren, die für die Amerikaner wichtig ist. Interessant ist auch, daß Sinn Féin in der Nahost-Politik weiterhin an einer Zweistaatenlösung für Israel und Palästina, jener Option, welche die Amerikaner favorisieren, festhält. Auf die aktuelle Diskussion in linksprogressiven Kreisen in Europa und Nordamerika, ob nicht ein gemeinsamer Staat für Israelis und Palästinenser eine bessere und gerechtere Alternative wäre, will sich die Partei nicht einlassen. Ich denke, ihre Verweigerungshaltung in dieser Frage hängt ganz klar mit der Erkenntnis zusammen, daß die Ein-Staat-Lösung für die entscheidenden Kräfte in der amerikanischen und europäischen Außenpolitik inakzeptabel ist. Also fügt sich Sinn Féin dem und eckt nicht an. Ich könnte noch weitere Beispiele derselben Haltung Sinn Féins gegenüber amerikanischen Interessen anführen.

SB: Nun, die Partei nimmt in den USA jedes Jahr eine große Menge Spendengelder ein.

EMcC: Nicht nur das. Der an Prostatakrebs erkrankte Adams hat sich Ende vergangenen Jahres in den USA einer teuren medizinischen Behandlung unterzogen. Die Rechnung in Höhe von 30.000 Dollar hat sein "Freund", der irisch-amerikanische Geschäftsmann Bill Flynn, ehemaliger Chef des großen Versicherungskonzerns Mutual of America, bezahlt.

SB: Wie erklären Sie die jüngsten Flaggenproteste protestantischer Jugendlicher. Sind sie Ausdruck sozialer Mißstände oder gehen sie hauptsächlich auf die scheinbare Dauernotwendigkeit von Sinn Féin und den Unionisten zurück, sich gegenseitig zu dämonisieren, um die eigene Wählerschaft bei der Stange zu halten?

Eamonn McCann in nachdenklicher Pose - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

EMcC: Auf beiden Seiten gibt es Ressentiments, die ständig gepflegt werden. So hört man seitens der Flaggenprotestler immer wieder den Vorwurf, die Nationalisten bekämen mehr Zuwendungen als die Protestanten vom britischen Staat, der damit im Grunde den Waffenstillstand der IRA erkauft habe. Das ist natürlich Quatsch. Die katholischen Arbeiterviertel Nordirlands gehören nach wie vor zu den ärmsten Gegenden mit der höchsten Arbeitslosigkeit im ganzen Vereinigten Königreich. Die ausbleibende Aussöhnung zwischen Katholiken und Nordirland hängt mit dem Karfreitagsabkommen zusammen. Jener Vertrag teilt die Bevölkerung prinzipiell in eine nationalistisch-katholische und eine protestantisch-unionistische Gemeinde ein. Jeder Politiker bzw. jede Politikerin muß sich zu der einen oder anderen Seite bekennen. Von diesen beiden Blocks gemeinsam wird dann die Provinz verwaltet. Damit hat das Abkommen die konfessionelle Kluft zementiert und ihre Überwindung noch schwieriger gemacht. Hinzu kommt, daß die paramilitärischen Organisationen, die weiterhin auf beiden Seiten existieren, ebenfalls ihre Existenzberechtigung aus der eventuellen Notwendigkeit der Verteidigung der Wohnviertel ihrer Glaubensgenossen ziehen. Auch sie haben ein starkes Interesse an der Aufrechterhaltung der alten Feindbilder. Bei den Loyalisten wird also ständig eine Art Wagenburg-Mentalität gepflegt, wonach den Protestanten in Nordirland ständig die Ausrottung droht.

Bei der protestantischen Arbeiterschicht kommt ein weiterer Faktor hinzu. Seit Generationen haben sie das Gefühl, daß die eigenen Glaubensgenossen von der protestantischen Mittel- und Oberschicht auf sie herabschauen. Bis in die siebziger Jahre waren die Führer der alleinregierenden Ulster Unionist Party Großgrundbesitzer. In der konservativen Partei Großbritanniens gab es auch Großgrundbesitzer, doch dort waren sie noch lange nicht so stark vertreten wie bei der UUP. Captain O'Neill war einer der größten Landbesitzer Nordirlands. Das gleiche gilt für seinen Nachfolger Major James Chichester-Clark, dem große Ländereien in der Grafschaft Derry gehören. Dazu kamen Industriekapitäne wie Harland und Wolff, für deren Schiffsbauunternehmen Tausende Menschen in Belfast arbeiteten. Hier in Derry City war die Brown's Eisengießerei einer der größten Arbeitgeber. Der alte Brown, der zwischendurch Bürgermeister war, gehörte sowohl dem Oranier-Orden als auch den Apprentice Boys an. Die Katholiken wurden diskriminiert, um die protestantischen Massen an die unionistische Ordnung zu binden. Innerhalb der protestantischen Arbeiterschicht gab es eine weitere Stratifikation zwischen den vergleichsweise gutbezahlten Facharbeitern in der Schwerindustrie, insbesondere im Belfaster Schiffbau, und den einfachen Tagelöhnern.

Bei den Katholiken gab es eine solch ausgeprägte Stratifikation nicht. Hier in der Bogside von Derry zum Beispiel, wo ich aufgewachsen bin, waren alle arm. Natürlich gab es unter den Katholiken auch Ärzte, Anwälte und Lehrer - Leute, die eine gesichertes Einkommen hatten. Aber insgesamt hatten die Katholiken nicht viel Geld und fühlten sich trotz oder gerade wegen der geringfügigen Unterschiede alle gleich. Großgrundbesitzer oder große Arbeitgeber, die bei den Protestanten und sonstwie den Ton angaben, gab es unter den Katholiken nicht. Die einzigen katholischen Arbeitgeber waren die Besitzer von kleinen Läden, Kneipen und Wettgeschäften.

Jedenfalls bringt ein solch drastisches Gefälle, was Einkommen und politischen Einfluß betrifft, für die Gesellschaft schwerwiegende Probleme mit sich. 2009 haben Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem sehr empfehlenswerten Buch "The Spirit Level" das skandinavische Modell mit demjenigen in den Ländern der angloamerikanischen Welt verglichen. Sie konnten anhand zahlreicher Indizes zeigen, daß alle Menschen in Gesellschaften, wo die Ressourcen fairer verteilt sind, glücklicher und gesünder leben als in solchen, in denen es ungerechter zugeht und es ein größeres Gefälle zwischen arm und reich gibt. Betrachten wir die nordirische Gesellschaft durch dieses Prisma, dann ist es kein Wunder, daß die protestantische Unterschicht, die sich von den eigenen Leuten quasi als Ausgestoßene behandelt fühlte, einen solchen Rassismus gegenüber den Katholiken entwickeln konnte. Laut Wilkinson und Pickett neigen Menschen in einer solchen Situation zum Rechtsextremismus, leiden an niedrigen Selbstwertgefühlen und weisen einen miserablen Bildungsstand auf. Man braucht nur einmal durch Gegenden wie die protestantische Lower Shankill Road in Belfast zu laufen, um den Beweis für diese These zu finden.

SB: Und das alles, weil sie sich von den eigenen Leuten schlecht behandelt fühlen?

EMcC: Nicht nur, weil sie es so fühlen, sondern weil sie es tatsächlich werden.

SB: Doch irgendwann zur Jahrhundertwende hat die eher proletarisch ausgerichtete DUP des Ian Paisley die altehrwürdige UUP als stärkste unionistische Kraft abgelöst und weit hinter sich gelassen. Hat dies nicht das Problem beseitigt?

EMcC: Das hätte man vorher vielleicht annehmen können. Doch die gleiche Vorwurfshaltung ist geblieben. Vor einiger Zeit habe ich im Fernsehen irgendwelche protestantischen Arbeiter über DUP-Chef Robinson schimpfen hören, er wohne im "big house". Das war früher die Standardkritik an Adligen wie O'Neill und Chichester-Clark. Solche Personen bewohnten in der Tat große Herrschaftshäuser mit ausgiebigen Ländereien und allem, was dazu gehört. Robinson wohnt im Gegensatz dazu in einem Einfamilienhaus mit vielleicht vier oder fünf Schlafzimmern und einem Garten in einer wohlhabenden Gegend am Belfaster Stadtrand. Das ist doch kein großer Kasten à la Downtown Abbey. Ich bitte Sie.

Gerade in den letzten Tagen ist mir ein Leserbrief im Belfast Telegraph aufgefallen. Dort wurde Jackie McDonald, der führende UDA-Brigadier, praktisch zum Verräter abgestempelt, weil er die Ausschreitungen der Flaggenprotestler öffentlich kritisiert hatte. In dem Brief wurde spöttisch angemerkt, er fahre regelmäßig in die Republik Irland, "um Golf mit dem Präsidenten zu spielen" - eine Anspielung auf seinen Einsatz für eine Versöhnung zwischen Nord- und Südirland. Mit dieser Gehässigkeit sollte der Beleg dafür erbracht werden, daß McDonald den Kontakt zum protestantischen Fußvolk verloren hätte - und das, obwohl der Mann für die loyalistische Sache mehrmals sein Leben riskiert und einige Jahre hinter Gitter verbracht hat. Heute lebt er immer noch in der Belfaster Sozialsiedlung Taughmonagh.

Bei den armen Protestanten herrscht das grundlegende Mißtrauen vor, sie würden über kurz oder lang von ihren politischen Führern verraten und verkauft. Irgendwie haben sie damit auch recht. Schauen Sie sich die Leute an, die an diesen Flaggenprotesten teilnehmen. Das sind überwiegend Jugendliche, die aus sozialen Brennpunkten kommen und keine Perspektive haben. Sie tragen alle abgewetzte Trainingsanzüge mit Kapuzen.

SB: Viele von ihnen tragen auch Schals des schottischen Fußballvereins Glasgow Rangers.

EMcC: Na klar. Damit wird die Gewaltbereitschaft und der Hang zum Hooliganismus klar zu erkennen gegeben. Doch diese Leute haben die Zeichen der Zeit verkannt. Es gibt keine Sonderbehandlung oder Spezialzulagen für sie und ihre Gemeinden mehr. Wenn irgendwelche Gelder in London oder Brüssel zur Behebung sozialer Mißstände in Nordirland locker gemacht werden, dann fließt das in die katholischen Viertel genauso wie in die protestantischen. Die früheren Privilegien, welche die protestantische Arbeiterklasse genoß und so erbittert aufrechtzuerhalten versuchte, gibt es einfach nicht mehr. Mit dem Karfreitagsabkommen sind auch strenge Anti-Diskriminierungsgesetze gekommen, welche eine Übervorteilung der einen Konfession auf Kosten der anderen praktisch unmöglich machen. Die Vergabe von Sozialwohnungen, früher ein Streitpunkt, läuft heute viel gerechter als früher - sofern man in einer kapitalistischen Gesellschaft überhaupt von Gerechtigkeit reden kann. Die einzige Lösung für solche sektiererischen Proteste, wie wir sie in der Flaggenfrage erleben, wäre eine konfessionsübergreifende Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die Austeritätspolitik Londons und Belfasts. Doch dafür gibt es leider bislang keine nennenswerten Anzeichen. Daher bin ich für die Zukunft nicht optimistisch.

SB: Eamonn McCann, vielen Dank für dieses Gespräch.

Nachtaufnahme von der Uferpromenade auf der westlichen Seite des Foyles - Foto: © 2013 by Schattenblick

Derry bei Nacht - im Hintergrund die neue Friedensbrücke über dem Foyle
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fußnote:

1. Zum besseren Verständnis des Streits innerhalb des politisch- militärischen Establishments Großbritanniens bezüglich des richtigen Kurses in der Nordirlandkrise im Vorfeld vom Bloody Sunday empfielt sich die 2010 bei der Zeitschrift Contemporary British History erschienene Studie "Bloody Sunday: Error or Design" aus der Feder von Dr. Niall Ó Dochartaigh, Dozent an der Universität Galway:

http://aran.library.nuigalway.ie./xmlui/bitstream/handle/10379/2885/Bloody_Sunday_Error_or_design.doc?sequence=1


16. Februar 2013