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INTERVIEW/044: Soziale Kehrsteine des Anstoßes ...    John Lyons im Gespräch (SB)


Interview mit John Lyons, Dublin City Hall, 8. Januar 2016


Am 26. Februar finden in der Republik Irland Parlamentswahlen statt. Erwartet wird ein massiver Linksruck, denn viele Bürger ärgern sich maßlos darüber, wie seit 2011 die Koalitionsregierung aus Fine Gael und Labour Party die gigantischen Kosten für die Rettung der 2008 ins Schlingern geratenen wichtigsten Banken und Bauunternehmen Irlands dem einfachen Steuerzahler allein in Form von Abgaben und Kürzungen öffentlicher Ausgaben aufgebürdet hat. Auf der Anti-Establishment-Welle surft auch John Lyons von der kleinen Linksgruppierung People Before Profit. Lyons, seit 2014 Mitglied im Dubliner Stadtrat, kandidiert um einen der fünf Sitze im Wahlbezirk Dublin Bay North unter dem Slogan "Ein besseres Irland für alle ist möglich". Mit John Lyons traf sich der Schattenblick am 8. Januar in der Dublin City Hall zu einem ausführlichen Gespräch.

John Lyons auf einer Anti-Wassergebühren-Demo mit Megaphon im Anschlag - Foto: © 2016 by John Lyons

John Lyons politisch in Aktion
Foto: © 2016 by John Lyons

Schattenblick (SB): Es steht eine historische Parlamentswahl bevor, bei der erwartet wird, daß linke Parteien und unabhängige Kandidaten mehr Sitze als jemals zuvor erobern und die etablierten Parteien Fine Gael, Fianna Fáil und Labour ihren niedrigsten Sitzanteil überhaupt seit der Staatsgründung 1922 erzielen werden. Auch Ihnen werden Chancen eingeräumt, einen Parlamentssitz im Wahlbezirk Dublin Bay North zu gewinnen. Da die zu erwartende Zunahme der Anzahl linker Abgeordneter im Dáil vermutlich nicht für eine absolute Mehrheit reichen wird, können Sie sich irgendein anderes Szenario vorstellen, bei dem sich die Vertreter von People Before Profit und der Anti-Austerity Alliance nach der Wahl nicht auf den Oppositionsbänken wiederfinden werden?

John Lyons (JL): Gute Frage. Nun, die Wahl 2016 wird die zweite historische Parlamentswahl sein, denn bereits 2011 hat die damals zusammen mit den Grünen regierende Fianna Fáil, traditionell die stärkste politische Gruppierung Irlands, 51 von 71 Sitzen verloren und damit ihr bisher schlechtestes Ergebnis eingefahren. Die Grünen haben alle sechs Mandate verloren. Beide Parteien sind von den Wählern wegen ihrer Verantwortung für die Finanz- und Wirtschaftskrise schwer abgestraft worden. Nach fünf Jahren drastischer Kürzungen und Steuererhöhungen erwartet die seit 2011 regierende Koalition aus Fine Gael und Labour ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so vernichtendes Ergebnis. Eine Erholung Fianna Fáils ist nicht in Sicht. Tatsächlich erleben wir den Zusammenbruch der Hegemonie des konservativen Parteienkartells, das die Politik in Irland seit fast einem Jahrhundert bestimmt hat. Der Grund dafür ist der wachsende Widerstand in weiten Teilen der Bevölkerung gegen die als ungerecht empfundene Austeritätspolitik, die Fine Gael, Labour und auch Fianna Fáil befürworten - also Bankenrettung auf Kosten der Steuerzahler, schleichende Privatisierung des öffentlichen Gesundheitssystems, Abbau aller Formen der sozialen Absicherung, Steuervergünstigungen für die Reichen et cetera.

In der Frage, ob die irische Linke nach der Wahl allein eine Regierung bilden kann bzw. ob eine Koalition anderer Kräfte wie zum Beispiel aus Fianna Fáil und Sinn Féin sie tolerieren und damit ihr zur Macht verhelfen sollte, bin ich der Meinung, daß wir unseren potentiellen Wählern nicht zu viel versprechen dürfen. In den letzten Monaten hat es in linken Kreisen eine Diskussion über die Möglichkeit zur Bildung einer progressiven Regierung nach der Wahl gegeben.

Es sind hauptsächlich die Angehörigen der Bewegung Right2Water bzw. Right2Change, die am stärksten eine Zusammenarbeit progressiver Kräfte vor der Wahl sowie eine gegenseitige Unterstützung der linken Gruppierung beim Urnengang mit dem Ziel befürworten, die rechten Kräfte in diesem Land in die Knie zu zwingen. Wenn man die voraussichtliche Zusammensetzung der Dáil aus den Umfragen der letzten Monate extrapoliert und das Ergebnis untersucht, steht eines fest: Es wird keine Möglichkeit zur Bildung einer Regierung aus den Fraktionen der Anti-Austerity Alliance-People Before Profit (AAA-PBP), Sinn Féin, und den unabhängigen linken Abgeordneten geben, es sei denn, sie bekommt die Unterstützung von Fianna Fáil und/oder der Labour Party, sei es in Form einer Duldung oder einer Koalitionsbeteiligung.

Die AAA-PBP hat eine solche Zusammenarbeit jedoch von vornherein ausgeschlossen, denn unserer Meinung nach wird es in diesem Land zu keinem grundlegenden Wandel der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse kommen, solange irgendeine der Blockparteien Fine Gael, Fianna Fáil oder Labour in die Regierung involviert ist. Wir sind der Meinung, daß der Parteienklüngel, der in Irland seit 1922 herrscht, wenig bis nichts für die Mehrheit der Bevölkerung getan hat - daher die Armut und Auswanderung. Ich glaube, Irland steht in den nächsten fünf, zehn, fünfzehn Jahren eine Ära großer Veränderungen bevor, die wir nicht verspielen dürfen, indem wir den gescheiterten politischen Kräften, die in der Vergangenheit so schlecht regiert haben, zu einer weiteren Amtszeit verhelfen.

SB: Die chronische Schwäche der irischen Linken wird häufig auf interne Streitigkeiten zurückgeführt. Nicht wenige Politbeobachter sehen in der Weigerung der sozialistischen Partei Irlands (Socialist Party of Irland - SPI), sich der Sammelbewegung Right2Change anzuschließen, das jüngste Beispiel dieses traurigen Phänomens. Was müßte gemacht werden, um die andauernde Selbstdemontage der irischen Linken aufzuheben?

JL: Von den internen Zwistigkeiten einmal abgesehen, läßt sich nicht bestreiten, daß die Linke in Irland seit 1922 vom Staat und den drei etablierten Parteien an den Rand gedrängt worden ist. Man bedenke den Fall des Kommunisten Jimmy Gralton, der 1933 auf Betreiben klerikaler Kreise von der damaligen Fianna-Fáil-Regierung unter der Führung von Éamon De Valera in die USA deportiert wurde. Um ein Hochkommen der Linken zu verhindern, hat sich die katholische Kirche im sozialen Bereich - Schulen, Krankenhäuser, Altenheime et cetera - stark engagiert, während sich Fianna Fáil über Jahrzehnte mit diesem oder jenem Zugeständnis zum Beispiel beim sozialen Wohnungsbau erfolgreich als Partei des kleinen Mannes verkauft hat. Damit ist es Fianna Fáil gelungen, sich über Jahrzehnte als stärkste Partei Irlands zu behaupten, was die Zahl der einfachen Mitglieder, Kommunalräte und Dáil-Abgeordneten betrifft. Deswegen hat es die irische Linke stets schwer gehabt, sich Gehör bei der arbeitenden Bevölkerung zu verschaffen.

Was die internen Streitigkeiten betrifft, so werden diese entgegen der Wirklichkeit häufig als Erklärung angeführt, um in der Öffentlichkeit das Klischeebild der zerstrittenen - und damit in der Suggestion regierungsunfähigen - Linken zu zementieren. Obwohl ich neu in der Politik bin, habe ich selbst das Auseinanderbrechen der United Left Alliance (ULA) 2012, 2013 miterlebt. Entgegen der medialen Darstellung beruhen die Dispute und Spaltungen in der irischen Linken nicht auf einer uns unterstellten Streitsucht. Im Vergleich zu den etablierten Parteien haben wir aber Prinzipien, an denen wir hängen und für die wir uns mit aller Kraft einsetzen. Hinzu kommt, daß die verschiedenen linken Formationen wie die Socialist Party, die Anti-Austerity Alliance und People Before Profit unterschiedliche Entstehungsgeschichten vorweisen. Von daher gehen unsere Streitereien meistens auf unterschiedliche Ansätze in prinzipiellen Fragen zurück und haben mit persönlichen Animositäten wenig bis gar nichts zu tun. Die von Ihnen erwähnte Weigerung der sozialistischen Partei, sich der Sammelbewegung Right2Change anzuschließen, ist nicht etwa das Ergebnis eines wahltechnischen Kalküls, sondern stammt aus deren Position in der Nordirland-Politik.


Nachtaufnahme der neoklassischen, beleuchteten Dublin City Hall - Foto: © 2016 by Schattenblick

Vorderseite der Dublin City Hall an der Dame Street
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Das irische Wahlsystem der übertragbaren Einzelstimmgebung, auch Präferenzwahlsystem genannt, bietet den Wählern die Möglichkeit, auf dem Wahlzettel eine Rangfolge der Kandidaten ihres Wahlbezirks zu erstellen. Wäre es daher nicht sinnvoll, die linken Gruppierungen würden ihre Anhänger prinzipiell dazu anhalten, nach der Vergabe der Erststimme an die eigene Partei die anderen progressiven Gruppierungen mit der Zweit-, Dritt- und Viertstimme zu berücksichtigen?

JL: Die Right2Change-Koalition, die aus der Protestbewegung gegen die Einführung von Wassergebühren hervorgegangen ist, entstand im Herbst 2015. Unter Mitwirkung einiger der größten Gewerkschaften Irlands wie Unite und Mandate haben sich People Before Profit, Sinn Féin, the National Citizens Movement, Direct Democracy Ireland, Workers and Unemployed Action sowie die unabhängigen Parlamentsabgeordneten Joan Collins, Clare Daly, Thomas Pringle und Mick Wallace auf eine Charta der Prinzipien für eine progressive Politik in Irland verständigt. Dazu gehören die Wiederaktivierung des sozialen Wohnungsbaus, mehr Geld für das marode Bildungs- und Gesundheitssystem, eine Streichung der Wassergebühren und der Verbleib des Wassersystems in öffentlicher Hand. Sinn Féin ist jedoch mit ihrem Vorstoß, aus Right2Change eine Wahlkampfallianz zu schmieden, über das Ziel hinausgeschossen. Viele Linke, denen das halbherzige Engagement Sinn Féins bei der Kampagne gegen die Wassergebühren nicht entgangen war, warfen der Partei um Gerry Adams und Mary Lou McDonald vor, die Right2Change-Bewegung vor den eigenen Karren spannen zu wollen. Darüber hinaus steht bei Sinn Féin der Verdacht im Raum, sie werde ihre linken Verbündeten nach der Wahl im Stich lassen, sobald sich ihr die Möglichkeit zu einer Regierungszusammenarbeit mit Fianna Fáil bietet. Der Streit zwischen Sinn Féin und der sozialistischen Partei ist bedauerlich, denn das Programm von Right2Change ist absolut unterstützenswert. Für mich ist die Frage, wer mit wem vor oder nach der Wahl koaliert, zweitrangig. Die inhaltliche Frage, was für eine Gesellschaft wir in Irland verwirklichen und wie wir die bisherige verbessern können, müßte im Mittelpunkt aller Erörterungen stehen. Bei People Before Profit geht es uns um politische Gestaltung, während die Medien den Wahlkampf stets als sportlichen Wettkampf mit potentiellen Gewinnern und Verlierern präsentieren. Die Presse legt den Fokus ihrer Berichterstattung vor allem auf Persönlichkeiten. Meines Erachtens sollten vielmehr die Themen im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen.

Im Rahmen von Anti-Austerity Alliance-People Before Profit sind wir mit der sozialistischen Partei verbündet, die Teil der Anti-Austerity Alliance ist. Im Gegensatz zu ihr arbeiten wir mit Sinn Féin im Rahmen der Right2Change-Bewegung zusammen. Wir sind bereit, mit jeder progressiven Kraft zu kooperieren, um die Lage der einfachen Menschen in Irland zu verbessern. Bei manchen Gruppen beschränkt sich die Zusammenarbeit nur auf spezielle Themen, bei anderen kann die Kooperation umfassender sein. Als vor einigen Jahren der Verkauf des staatlichen Forstwirtschaftsbetriebes Coillte an eine private ausländische Investorengruppe drohte, führte unser Abgeordneter Richard Boyd Barrett eine Gegeninitiative an, in der auch die bürgerliche Woodland League sowie diverse Pfadfinder- und Wandergruppen vertreten waren. Angesichts einer landesweiten Kampagne sah sich der zuständige Minister Pat Rabbitte von der Labour Party dazu gezwungen, die umstrittenen Pläne, die ein Zutrittsverbot für Ausflügler in viele der schönsten Bergregionen Irlands hätte bedeuten können, vom Tisch zu nehmen.

SB: Die Entscheidung der sozialistischen Partei, sich der Right2Change-Kampagne nicht anzuschließen, wurde unter anderem mit ihrer Ablehnung des von Sinn Féin mit ausgehandelten und umgesetzten Karfreitagsabkommens begründet, weil das angeblich seit 1998 die konfessionellen Trennlinien zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten in Nordirland festigt. Wie Sie wissen, ist die Kritik, der nordirische Friedensprozeß habe den Bürgerkrieg lediglich eingefroren, statt seine Ursachen zu beheben, weit verbreitet und nicht von der Hand zu weisen. Als jemand, der Geschichte an der Queen's University in Belfast studiert hat, was ist Ihre Meinung zur aktuellen Lage in Nordirland und zum Stand der anglo-irischen Beziehungen vor dem Hintergrund der bevorstehenden Volksbefragung über einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union sowie des anhaltenden Strebens Schottlands nach Unabhängigkeit?

JL: Die Mängel am Friedensprozeß, welche die sozialistische Partei hervorgehoben hat und die Sinn Féin angelastet werden, sind unstrittig. Ich habe drei Jahre in Belfast gewohnt und erlebt, wie sehr noch das gegenseitige Mißtrauen zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland zementiert statt abgebaut wird. Obwohl der Bürgerkrieg nicht mehr tobt, werden noch mehr sogenannte "Friedensmauern" zwischen katholischen und protestantischen Vierteln in Belfast hochgezogen, was eine wirklich traurige Entwicklung ist. Sicherlich hat das mit dem Karfreitagsabkommen, das die politischen Parteien nach Konfessionen einteilt, zu tun. Der langjährige Journalist und Aktivist Eamon McCann, der People Before Profit in Derry vertritt und ein ausgesprochener Atheist ist, muß jedesmal, wenn er für uns bei einer Wahl kandidieren will, auf dem Formular eine Angabe zu seiner konfessionellen Zugehörigkeit machen. Statt Katholik oder Protestant kreuzt er Anderes an.

Hinzu kommt, daß die Politiker in Nordirland, ob nun auf katholisch-nationalistischer Seite bei der Social Democratic Labour Party und Sinn Féin oder auf protestantischer bei der Democratic Unionist Party und der Ulster Unionist Party, durch ihr ständiges Bemühen, die Wählerschaft im eigenen Lager hinter sich zu bringen, den konfessionellen Graben nur noch weiter vertiefen. Mit Dauerangriffen auf die religiöse Gegenseite versucht die politische Führung der Unionisten sowie der Nationalisten gleichermaßen von ihrer eigenen Verantwortung für die Umsetzung der von der konservativen Regierung David Camerons in London diktierten Austeritätspolitik, die in Nordirland wie im übrigen Vereinigten Königreich die Schwächsten am härtesten trifft, abzulenken.

Doch damit wird auf beiden Seiten verhindert, daß es zu einem weniger durch gegenseitige Vorwürfe belasteten Umgang der Protestanten und Katholiken im Alltag kommt. Statt dessen herrschen Dauerspannung und Mißtrauen. Für die Gesellschaft als Ganzes ist das ungesund. Es gibt deshalb in Nordirland viel Unzufriedenheit mit dem Status quo und einen immer stärker werdender Appetit auf Veränderung. Das zeigte sich zum Beispiel durch den Erfolg von Gerry Carroll, der bei den Kommunalwahlen 2014 in der Sinn-Féin-Partei-Hochburg West Belfast einen Sitz für People Before Profit im Belfaster Stadtrat gewinnen konnte. Nach der Wahl weigerte sich Carroll, sich als Katholik oder Protestant zu bezeichnen, sondern erklärte, er sei Sozialist, mehr gäbe es nicht zu wissen. Mit Leuten wie ihn muß es doch möglich sein, die arbeitende Bevölkerung als Ganzes in Nordirland für den Klassenkampf zu gewinnen und den religiösen Graben zwischen Katholiken und Protestanten ein für allemal zuzuschütten.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die Vorbehalte der sozialistischen Partei gegenüber dem politischen System in Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen nicht ohne weiteres wegdiskutieren. Die Mängel und Probleme sind offenkundig; es bleibt lediglich die Frage, wie man sie am besten beheben kann. Ich bin Sozialist und gleichzeitig irischer Republikaner. Aus meiner Sicht könnte man Sinn Féin anlasten, die Partei zu sein, die der Überwindung der Teilung Irlands am meisten im Weg steht, denn die Politik, die sie in Nordirland als Regierungspartei mitträgt, ist eine gänzlich andere als diejenige, für die sie in der Opposition in der Republik öffentlich eintritt.


John Lyons im Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

John Lyons
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Das Verhalten Sinn Féins, ihre Bereitschaft, in der interkonfessionellen Allparteienregierung an den von London verordneten Kürzungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales mitzuwirken, ist der Grund, warum viele Linke in der Republik der Anti-Austeritätsrhetorik von Adams, McDonald und Finanzsprecher Pearse Doherty mißtrauen. Sie arbeiten seit über einem Jahr im Dubliner Stadtrat mit den Vertretern Sinn Féins zusammen. Was sind Ihre Erfahrungen? Ist Sinn Féin eine progressive Kraft?

JL: Das fragen sich alle. Die Antwort steht noch aus. Als sich Sinn Féin im Herbst vergangenen Jahres der Allianz Right2Change anschloß und sich dafür stark machte, daß sich ihre Wähler und die kleinen linken Gruppierungen auf dem Wahlzettel gegenseitig helfen sollten, haben wir bei People Before Profit besorgte Anrufe und E-Mails von unseren Aktivisten in Nordirland erhalten. Sie berichteten von Kritik an der Basis und sprachen sich dagegen aus, daß linke Wähler Sinn Féin eine Zweit- oder Drittstimme geben sollten und verwiesen dabei auf deren unrühmliche Rolle bei der Durchsetzung von Kürzungen der staatlichen Zuwendungen in Nordirland.

Sinn Féin ist eine nationalistische und eine progressive Partei gleichermaßen. Vor vielen Jahren war ich selbst Sinn-Féin-Mitglied, also kenne ich die Partei von innen heraus. Sinn Féin ist aber keine revolutionäre Partei. Sie will nicht die Gesellschaft transformieren und eine ganz andere schaffen, sondern die vorhandene lediglich verbessern. Ihr Ansatz ist daher reformistisch und ihre Ablehnung der bestehenden Ordnung nur begrenzt. Statt die kapitalistische Ordnung zu Fall bringen zu wollen, empfiehlt sich Sinn Féin als die Partei, die den gesellschaftlichen Frieden durch etwaige Zugeständnisse an die Minderprivilegierten am ehesten garantieren kann.

Wie man es im Dubliner Stadtrat beobachten kann, ist Sinn Féin eher für Hinterzimmerdeals mit den konservativen Altparteien als für eine Zusammenarbeit mit den kleinen linken Gruppierungen zu haben. Das zeigte sich am ersten Tag der neuen Sitzungsperiode 2014. Sinn Féin hatte die Zahl ihrer Mandate verdreifacht und war erstmals stärkste Fraktion geworden. Zusammen mit den Vertretern von People Before Profit, der Anti-Austerity Alliance, den Grünen und einigen unabhängigen Kommunalräten hätte Sinn Féin den von der Leitung des Stadtrats vorgelegten Jahresetat für das Jahr 2015 als unsozial ablehnen können. Dafür haben wir uns stark gemacht, denn nach sieben Jahren voller Kürzungen mutete jener Etat den Bürgern Dublins weitere harte Einschnitte zu, statt sie zu entlasten. Doch statt auf unseren Vorschlag einzugehen und ein Zeichen gegen die Kürzungspolitik der Zentralregierung zu setzen, hat Sinn Féin zusammen mit den Vertretern von Fianna Fáil, Fine Gael und Labour den Haushaltsentwurf durchgewunken.

Das wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, die Zentralregierung und ihre asoziale Politik, die in Dublin große Probleme geschaffen hat - Stichwort Obdachlosigkeit -, bloßzustellen. Das hätte den zuständigen Minister für Umwelt, Gemeinschaftswesen und Lokalverwaltung, Alan Kelly von der Labour Partei, gezwungen, in Dublin einen Sonderverwalter einzusetzen, wie es 2014 sein Vorgänger Phil Hogan von Fine Gael - der seit zwei Jahren EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung ist - dem Donegal County Council angedroht hat, als sich dessen Vertreter weigerten, die Zuständigkeit für die Wasserversorgung in ihrer Grafschaft dem neuen staatlichen Versorgungsbetrieb Irish Water zu übertragen.

Die Kommunalwahlen 2014 zeichneten sich durch eine massive Wählerwanderung nach links aus. Die irischen Wähler haben sieben harte Jahre, in denen ihnen Steuererhöhungen und staatliche Ausgabenkürzungen in einer Gesamthöhe von 32 Milliarden Euro zugemutet wurden, hinter sich. Von der ganzen Austeritätspolitik haben sie inzwischen genug. Auf der Basis des Linksrucks in Dublin County Council hätte man von der Hauptstadt aus ein deutliches Signal gegen das Weiter-so der Koalitionsregierung von Fine Gael und Labour setzen können. Doch Sinn Féin hat durch ihren Widerwillen, den etablierten Parteien vor das Schienbein zu treten, die Gelegenheit verspielt. Hoffentlich wird das Ergebnis der bevorstehenden Parlamentswahlen erneut die Chance auf radikale Veränderung mit sich bringen.

Ohne als Gewissen Sinn Féins auftreten zu wollen, bin ich schon der Meinung, daß diese Partei genauer auf die Volksstimme hören und entsprechend handeln sollte. Der Anteil der Haushalte, die sich weigern, die neuen Wassergebühren zu bezahlen, liegt bei mehr als sechzig Prozent. Die Menschen sind nicht mehr bereit, unwidersprochen die laufende Umverteilung von unten nach oben, die nachlassende Qualität der Schulen, Krankenhäuser und staatlichen Infrastruktur, die grassierende Armut, den Ausbau des Billiglohnsektors et cetera hinzunehmen. Will Sinn Féin wirklich positive Veränderungen in diesem Land herbeiführen, dann muß sie diese Stimmung berücksichtigen.


John Lyons führt einen fahnenschwenkenden Protestzug an - Foto: © 2016 by John Lyons

Straßenproteste beleben den politischen Diskurs in Irland
Foto: © 2016 by John Lyons

SB: Nun, es scheint hinter den Kulissen bei Sinn Féin einen gewissen Richtungskampf zwischen dem rechten Flügel um Parteipräsident Gerry Adams und dessen Belfaster Klüngel und dem linken Flügel um den politischen Vordenker Eoin O'Broin und vielen der neuen Kommunalräte in der Republik zu geben. Stimmt dieser Eindruck mit Ihren Beobachtungen überein?

JL: Durchaus. Auf den letzten drei Sinn-Féin-Parteitagen hat es Resolutionen verschiedener Ortsgruppen gegeben, die die kategorische Aussage verlangten, daß die Partei nach der nächsten Wahl keinen Deal mit Fianna Fáil, Fine Gael oder Labour - sei es in Form der Regierungsbeteiligung oder Duldung einer Minderheitenregierung - eingehen wird. Jedesmal ist es der Parteiführung gelungen, die entsprechenden Resolutionen entweder nicht zur Abstimmung kommen zu lassen oder zu vereiteln. Wenn ich mich richtig erinnere, gehörte Eoin O'Broin einer dieser Ortsgruppen an. Der Umgang mit besagten Resolutionen läßt klar erkennen, daß bei Sinn Féin ein innerparteilicher Richtungsstreit stattfindet.

Meines Erachtens müssen die Politiker in Irland ihre Rolle als Volksvertreter endlich wahrnehmen. Sie müssen den Politikwechsel, nach dem sich die Menschen in diesem Land sehnen, einleiten. Man muß nicht Éamon de Valera, der frühere Staatspräsident, sein, der angeblich nur in sein Herz zu schauen brauchte, um zu wissen, was das irische Volk wollte. Man muß nur die Ohren aufmachen. Als Politiker bekomme ich es jeden Tag zu hören. In den letzten zwei Jahren hat sich die Bevölkerung im Zuge der Proteste gegen die Einführung der als ungerecht empfundenen Wassergebühren und die drohende Privatisierung der irischen Wasserressourcen deutlich radikalisiert. Die Menschen sind mit der Politik alten Stils, wonach die Regierung in Dublin machen kann, was sie will, Hauptsache der oder die Abgeordnete für meinen Bezirk hilft mir, eine Baugenehmigung zu erhalten oder ähnliches, vollkommen unzufrieden.

Als Sozialisten wollen wir von People Before Profit dem Wunsch nach Veränderung Rechnung tragen. Wir treten zum Beispiel dafür ein, daß die Bürger sich mehr an der Politikgestaltung beteiligen können, als nur einmal alle vier oder fünf Jahren ihre Stimme abzugeben. Größere Möglichkeiten, Volksbefragungen zu aktuellen politischen Fragen durchzuführen, wäre eine Idee. Generell müssen alle Vertreter der irischen Linken - People Before Profit, Sinn Féin, die Anti-Austerity Alliance, die Workers Party und die Communist Party of Ireland - Antworten auf die Frage finden, wie sich der Volkswille am besten zur Geltung bringen ließe. Ich selbst stelle mir die Frage, wie ich die Menschen, die mich zum Kommunalrat gewählt haben und hoffentlich ins Parlament wählen werden, am besten vertreten kann.

SB: Die aktuelle öffentliche Diskussion in Irland wird beherrscht von Themen wie Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, den katastrophalen Zuständen im öffentlichen Gesundheitssystems, aufgrund derer Hunderte Krankenhauspatienten infolge von Sparmaßnahmen in Rollbetten auf dem Flur liegen müssen, und den Überschwemmungen im Zuge des Klimawandels, von denen in diesem Winter Zehntausende Menschen im Westen und Süden des Landes sowie in den niedrigliegenden Regionen beiderseits des Flusses Shannon betroffen waren. Wie lautet die Antwort ihrer Partei auf diese Probleme und welche Themen könnten im Wahlkampf noch eine bedeutende Rolle spielen?

JL: Der Publizist Fintan O'Toole hat vor einigen Tagen einen Artikel in der Irish Times veröffentlicht, der ein niederschmetterndes Foto enthielt. Darauf war eine Wiese in der Nähe des Flusses Suir in der Grafschaft Tipperary zu sehen, die bis zum Horizont bis zu zwei Meter tief unter Wasser stand. Aus den Wassermassen ragte ein Verkaufsschild heraus, auf dem geschrieben stand, daß die Lokalbehörden die Verwandlung der landwirtschaftlichen Fläche in Bauland für Wohnhäuser genehmigt hatten. Das Foto weist auf den skandalösesten Aspekt der derzeitigen Überschwemmungen hin. Die sind natürlich eine Folge der Klimaerwärmung und des verstärkten Auftretens von Winterstürmen. Doch verantwortlich dafür, daß Tausende Wohnhäuser derzeit unter Wasser stehen, sind vor allem die vielen Kommunalräte, die hauptsächlich mit Vertretern von Fianna Fáil und Fine Gael besetzt gewesen sind und unverantwortlicherweise an ihre Amigos in der Baubranche Baugenehmigungen für Flächen erteilt haben, die in der Schwemmebene des Shannons und anderer Flüsse liegen.

Die großen Bauherren, die seit mehr als zwanzig Jahren die wichtigsten Wahlkampfspender Fianna Fáils sind, haben nicht nur die aktuelle Überschwemmungskatastrophe mit verursacht, sondern waren zusammen mit den Banken die Hauptverantwortlichen für die Immobilienblase, deren Platzen 2008 den irischen Staat in den Konkurs getrieben hat, worauf sich die Regierung in Dublin 2011 mit ausgestreckter Hand an die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds wenden mußte. Weil es sich um ein finanzielles Schneeballsystem handelte, wurden während der Immobilienblase sehr viele Häuser und Wohnungen in ländlichen Gegenden gebaut, in denen kein Bedarf bestand. Die stehen nun als sogenannte "Geistersiedlungen" leer und verrotten vor sich hin. Gleichwohl wurde viel zu wenig zur Deckung des eigentlichen Bedarfs an Wohnraum in den großen Städten, allen voran Dublin, unternommen. Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise mußten alle großen Bauunternehmen Irlands Insolvenz anmelden und in die staatliche Bad Bank NAMA flüchten. Die Baubranche brach regelrecht zusammen. Mehrere Jahre lang wurde kaum etwas gebaut. Die Bautätigkeit hat inzwischen wieder langsam zugenommen. Gleichzeitig hat die Zentralregierung wegen leerer Staatskassen die Gelder für den sozialen Wohnungsbau um mehr als achtzig Prozent zusammengestrichen. Infolge dieser Entwicklung ist es zu einer schlimmen Wohnungsnot gekommen, deren Auswirkungen man in Dublin aktuell in Form der vielen Obdachlosen, die nachts in Ladeneingängen schlafen, beobachten kann.

Vor diesem Hintergrund war mein erstes Jahr als Kommunalrat eine sehr deprimierende Erfahrung. Es ist wirklich erschreckend, wie wenig man als Lokalpolitiker ausrichten kann, um Menschen und Familien in Not zu helfen. Man kann jemandem nicht einfach mit einem Telefonat oder einem Brief ein Dach über den Kopf oder einen besseren Platz auf der Warteliste für eine Sozialwohnung verschaffen. Dafür sind einfach keine Wohnungen vorhanden. Bis es zu einer Verbesserung der akuten Wohnungsnot in Dublin werden noch Jahre vergehen. Ein großangelegtes Programm des sozialen Wohnungsbaus wäre erforderlich. Doch die jetzige Regierung weigert sich aus Rücksicht auf ihre Klientel, den Grundstückseigentümern und Wohnungsvermietern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Gleichzeitig schießen die Mieten in Dublin in die Höhe, denn NAMA ist seit einigen Jahren dabei, die ganzen Immobilien in ihren Büchern an ausländische Investitionsfonds zu veräußern. Der zuständige Minister Alan Kelly und sein Staatssekretär Padraig Coffey von Fine Gael vertreten die Auffassung, daß der Markt allein die Wohnungsnot beheben kann. Wer das glaubt, wird selig.

Die jüngste Initiative der Regierung besteht darin, den großen Baufirmen Grundstücke aus dem kommunalen Besitz extrem preiswert zu überlassen, unter der Bedingung, daß 20 Prozent des neuen Bestands Sozialwohnungen sein müssen. Wenn man bedenkt, daß sich derzeit im ganzen Land 130.000 Familien - darunter 24.000 allein in Dublin - auf der Warteliste für eine Sozialwohnung befinden, wird einem schnell klar, daß dieser Ansatz nicht zur Lösung der Krise beiträgt. Als Kommunalräte von Dublin haben wir kürzlich bei einem Treffen mit Kelly und Coffey vorgeschlagen, daß die Kommunen wieder wie früher die Errichtung von Sozialwohnungen selbst in die Hand nehmen sollten. Der Minister und sein Staatssekretär schauten uns an, als redeten wir in einer fremden, ihnen unverständlichen Sprache. Sie wollen einfach nicht von ihrem Glauben an die angeblich selbstregulierenden Mechanismen des privaten Markts lassen. Sie waren für unseren Vorstoß vollkommen unempfänglich.

Was sich derzeit auf dem privaten Wohnungsmarkt in Dublin und anderswo in Irland abspielt ist schockierend. Man braucht nur in das Gesicht eines Kindes zu blicken, wie ich es mehr als einmal getan habe, dessen Familie in eine Notunterkunft ziehen muß, weil die Eltern die gestiegene Miete für ihre bisherige Wohnung nicht bezahlen konnten. Solche Traurigkeit erschüttert mich. Für die ganze Familie hat eine solche Entwicklung schwerwiegende Folgen. Weil es in der Notunterkunft keine Kochgelegenheit gibt, essen alle Fast Food, wodurch Eltern und Kinder dick und krank werden. Weil ihre Lebensumstände prekär sind, verlieren die Kinder das Interesse an der Schule und fallen bildungstechnisch zurück. Ihre ganzen Lebensperspektiven werden in Mitleidenschaft gezogen. Ihre Berufschancen, ihre künftige Einkommenssituation, ja sogar ihre zu erwartende Lebensdauer werden beeinträchtigt. Es ist furchterregend, was mit diesen unterprivilegierten Menschen passiert bzw. was ihnen angetan wird. Das Desinteresse auf der Ebene der Zentralregierung und der Kommunalräte für das Schicksal dieser Abertausenden einfachen Menschen ist beschämend. Manchmal frage ich mich, wie ich mein Dasein als Politiker mir selbst gegenüber vertreten kann. Helfe ich Menschen wirklich oder trage ich nur dazu dabei, ein unmenschliches System am Laufen zu halten?

Im Rahmen der Kampagne Right2Housing arbeiten wir von der People Before Profit Alliance mit den Obdachlosenhilfsorganisationen Focus und der Peter McVerry Trust um den gleichnamigen Jesuitenpater, den Gewerkschaften Unite und Mandate, dem Caritasverband Threshhold sowie mit vielen neuen Aktivistengruppen, die sich dem Kampf gegen die Wohnungsnot verpflichtet haben, zusammen. Wir wollen den politischen Druck stetig erhöhen, bis die Behörden raschere und wirksamere Maßnahmen gegen die Wohnungsnot ergreifen. Tatsächlich werden Wohnungsmangel, das marode Gesundheitssystem und Wasser - sowohl die Überschwemmungen als auch die Kontroverse um die neuen Gebühren - die wichtigsten Themen im Wahlkampf sein. Meines Erachtens muß die neue Regierung nach der Wahl den nationalen Notstand ausrufen, um die Wohnungsnot zu beheben. Wir werden uns auf jeden Fall dafür stark machen, denn die notwendigen Finanzmittel, um das Problem anzugehen, sind vorhanden. Wir brauchen in den nächsten fünf Jahren jährlich 10.000 bis 20.000 neue Sozialwohnungen, um den vorhandenen Bedarf an Wohnraum zu decken. Damit könnte man den 5.000 Obdachlosen, die es derzeit gibt, ein Dach über den Kopf bieten und den vielen Familien, die auf eine Sozialwohnung warten, immerhin eine kurzfristige Perspektive geben.

SB: Bevor man mit dem Bau neuer Wohnungen beginnt, wäre es da nicht sinnvoll, die zahlreichen leerstehenden Räumlichkeiten über den Geschäften in der Dubliner Innenstadt in Wohnraum zu verwandeln? Die meisten Gebäude in der Hauptstadt sind vier oder fünf Stockwerke hoch. Im Erdgeschoß gibt es meistens einen Laden oder ein Geschäft und im zweiten Stock Büros oder Lagerräume. Die meisten Räumlichkeiten im dritten, vierten und fünften Stock scheinen leer zu sein. Nachts brennt da jedenfalls kein Licht. Würde man dort Wohnungen errichten, würde es die Stadt viel lebenswerter machen. Die Innenstadt wäre abends belebter, gleichzeitig hätte man etwas gegen die ständige Ausweitung der Stadt unternommen, was wiederum zur Entlastung des Transportsystems beitrüge.

JL: Im Stadtrat arbeiten wir aktuell am Draft Dublin City Development Plan für 2016-2022 [1] und in dem Zusammenhang hat es einige Diskussionen gerade über die Frage, wie man mehr Menschen in der Innenstadt, also in dem Raum zwischen dem Royal Canal im Norden und der Grand Canal im Süden, ansiedeln könnte, gegeben. Genau wie Sie hat vor kurzem ein Freund von mir, ein Architekt und Sozialist, der für die Stadt arbeitet, die Situation in Dame Street, einer der Prachtstraßen Dublins, kritisiert. Wie er anmerkte, gehören die meisten Gebäude in Dame Street zwei Immobilienunternehmen. Nachts sind die meisten Räumlichkeiten in dieser Straße vom zweiten Stock aufwärts dunkel. Mein Freund war auch der Ansicht, daß das aus städteplanerischer Sicht ein absolut inakzeptabler Zustand ist. Ich denke, daß das Problem das Ergebnis von Inflexibilität und Mangel an Fantasie seitens der Stadtverwaltung ist. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde in Kapitel fünf des Draft Development Plan das Ziel formuliert, das "above-shop living" in Dublin wieder zum Standard zu machen. Welche Schritte man unternehmen muß, um dieses Ziel zu erreichen, ist noch Gegenstand von Beratungen. Vor diesem Hintergrund wollte ich vor einiger Zeit wissen, inwieweit der vorangegangene City Development Plan verwirklicht wurde. Ich habe eine entsprechende Anfrage eingereicht, die von der Stadtverwaltung bislang noch nicht beantwortet wurde.

SB: Wie lautet Ihre Erwiderung auf die neueste Behauptung von Premierminister Enda Kenny und Finanzminister Michael Noonan, daß Irland aus dem schlimmsten heraus ist und sich auf dem Weg der wirtschaftlichen Erholung befindet?


John Lyons überlegt, fast in Gedanken versunken, seine Antwort - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

JL: Ich begrüße jede Verbesserung des ökonomischen Lebens in Irland, die Menschen in Arbeit bringt und ihnen ein gutes Einkommen mit festen Arbeitszeiten sichert. Die wirtschaftliche Erholung hat in Irland lange auf sich warten lassen, denn die drastischen Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen des Staates haben sich äußerst negativ auf die Kaufkraft der Bürger ausgewirkt und die Binnenkonjunktur gelähmt.

Eine gewisse Verbesserung der wirtschaftlichen Lage läßt sich nicht bestreiten. Begünstigt wird dies durch die Schwäche des Euros gegenüber dem Dollar und dem Pfund, den Währungen der beiden wichtigsten Handelspartner Irlands, was unsere Exportwirtschaft beflügelt. Seit einiger Zeit sind die Ölpreise extrem niedrig. Gleiches gilt für die Zinsen der EZB. Beides hilft den irischen Unternehmen. Das sind jedoch Faktoren, welche die Regierung in Dublin nicht als ihren Verdienst deklarieren kann. Das könnte sie erst tun, wenn die einfachen Menschen die wirtschaftliche Erholung in der eigenen Tasche zu spüren bekämen, etwa durch Lohnerhöhungen für die Staatsbeamten der unteren und mittleren Ebene. Bislang haben die einfachen Menschen wenig bis gar nicht vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Das muß sich ändern.

Ein im Ausland vielleicht wenig bekannter Aspekt der als "irischer Phönix" betitelten Erholung ist, daß die guten Exportzahlen der letzten Zeit zu einem nicht geringen Anteil auf buchhalterische Tricks bei den ausländischen Großunternehmen wie Google und Facebook zurückgehen, die aufgrund der niedrigen Körperschaftssteuer ihre europäischen Hauptquartiere in den Dubliner Docklands angesiedelt haben. Der von ihnen gemeldete Umsatz samt Gewinn wird zwar in Irland versteuert, aber nur zu einem ganz geringen Teil hier erwirtschaftet. Diese Summen blähen dann in der Folge die irischen Exportzahlen für Dienstleistungen auf. Mit einem nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung im eigentlichen Sinne hat das nichts zu tun.

SB: Seitens linker Ökonomen wie Michael Taft von der Gewerkschaft Unite wird der übermäßige Einfluß, den ausländische Konzerne, vornehmlich aus den USA, auf Wirtschaft und Politik in Irland ausüben, beklagt. Wie könnte dieser Einfluß zurückgedrängt und eine Wirtschaft geschaffen werden, die sich weniger auf ausländische Direktinvestitionen und die Ansiedlung von Globalkonzernen, deren Hauptinteresse in der Verminderung ihrer Steuerschuld im Herkunftsland liegt, und mehr auf die Förderung einheimischer Unternehmen stützt?

JL: Das ist eine wirklich schwierige Frage, denn man hat es hier mit einem globalen Phänomen zu tun. Im Grunde spielen solche Konzerne Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Griechenland, Zypern und die USA gegeneinander aus, um so wenig Steuern wie möglich abführen zu müssen. Die Nationalstaaten laufen den großen Weltkonzernen, die per Knopfdruck ihre Gelder von einem Teil des Globus auf einen anderen verschieben können, juristisch und technologisch hinterher. Man sollte annehmen, daß es das gemeinsame Ziel der Staaten sein müßte, daß diese Unternehmen in jedem Land, in dem sie aktiv sind, in Form von Steuern einen angemessenen Beitrag zum Wohlergehen des Gemeinwesens leisten. Die amtierende irische Regierung sieht das anders. Sie widersetzt sich konsequent den Bemühungen von Paris und Berlin, die weltweiten Finanztransaktionen aus dem Devisengeschäft mit einem winzigen Steuersatz von etwa 0,1 Prozent, der sogenannten Tobin-Steuer, zu belegen. Der irische Finanzminister Michael Noonan von Fine Gael lehnt die Einführung einer solchen Abgabe, welche die Steuerlast der eigenen Bürger vermindern könnte, strikt ab und will nicht einmal darüber diskutieren.

Die frühere Regierung unter der Führung von Fianna Fáil, die von 1987 bis 2011 im Amt war, und die jetzige Koalition aus Fine Gael und Labour haben Irland zu einer Steueroase gemacht. Nicht umsonst hat die New York Times 2005 - drei Jahre vor dem Zusammenbruch - das International Financial Services Centre (IFSC) an den Dubliner Docks als den "Wilden Westen der europäischen Finanzwelt" bezeichnet. Die Gesetze, welche die Aktivitäten der im IFSC angesiedelten Geldhäuser regulierten, waren absichtlich lasch. Die zuständige Aufsichtsbehörde schaute, auf politische Anweisung von oben, jahrelang weg. Dadurch konnten dort zum Beispiel die Tochterfirmen der Sachsen LB, der West LB, der IKB und der Hypo Real Estate hochriskante Geschäfte eingehen, was sie allesamt nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes 2008 in den USA in große Finanzschwierigkeiten brachte. Zwar mögen die Banken im IFSC inzwischen strenger reguliert werden, doch Irland bietet sich den internationalen Großkonzernen nach wie vor als Steuerparadies an. Die ausländischen Konzerne zahlen in Irland nicht nur deutlich weniger Steuern als unsere einheimischen Unternehmen, hinzu kommt, daß die Firmen im IFSC von allen städtischen Gebühren befreit sind. Beides ist ungerecht und nicht hinnehmbar. Durch die bevorzugte Behandlung ausländischer Großunternehmen leistet der irische Staat Beihilfe zur Steuerflucht in ganz großem Stil und verhält sich den eigenen Bürgern, den eigenen kleinen und mittleren Betrieben sowie der Staatengemeinschaft gegenüber unfair.

Tina McVeigh, meine Parteikollegin im Dubliner Stadrat, arbeitet gerade mit Conor McCabe, Wirtschaftsdozent am University College Dublin und Autor des vielgepriesenen Buchs "Sins of the Father - The Decisions that Shaped the Irish Economy", an einer Studie zu diesem Thema. Ohnehin ist der neoliberale Drang der Zentralregierung in Dublin, die Steuersätze soweit wie möglich zu verringern, ein schwerwiegendes Problem, denn dieser Kurs führt zu einer Reduzierung des gesamten nationalen Steueraufkommens, was wiederum unweigerlich Kürzungen der staatlichen Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales mit sich bringt.

Im Zuge einer Parlamentsanfrage von Richard Boyd Barrett letztes Jahr an die Adresse von Finanzminister Noonan kam heraus, daß Google, Microsoft und Konsorten auf ihr deklariertes Einkommen in Irland einen effektiven Steuersatz von rund sechs Prozent bezahlen. Das ist weniger als der Steuersatz für irische Firmen, der mit 12,5 Prozent ohnehin zu den niedrigsten in der industrialisierten Welt gehört. Berechnungen zufolge hätte der irische Fiskus jährlich drei Milliarden Euro mehr an Einkünften gehabt, würden die ausländischen Großkonzerne den regulären Steuersatz bezahlen. Man braucht sich nur vorzustellen, was der irische Staat mit drei Milliarden Euro zusätzlich im Jahr alles machen könnte, zum Beispiel die aktuellen Flutschäden beheben und künftige verhindern, oder die Schande der Bettenknappheit in den Krankenhäusern beseitigen oder die Obdachlosigkeit bekämpfen. Doch das Geld will die derzeitige Regierung nicht, statt dessen macht sie sich gegenüber den ausländischen Großkonzernen lieb Kind. Für solches Kuschen gibt es meiner Meinung nach keinerlei Notwendigkeit, denn selbst wenn diese Firmen den vollen irischen Körperschaftssteuersatz zu bezahlen hätten, kämen sie dabei immer noch besser weg, als wenn sie ihr Einkommen in den USA, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland versteuern müßten. Gleichwohl gibt es Bestrebungen innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Körperschaftssteuer bei den Mitgliedsstaaten zu vereinheitlichen. Irland sollte diese Initiative unterstützen.


IFSC und das neue Dublin Congress Centre am Liffey-Ufer - Foto: © 2016 by Schattenblick

Dublins umstrittenes Bankenviertel nahe der Samuel Beckett Bridge
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Irland steht ganz im Zeichen der Hundertjahrfeierlichkeiten zum Osteraufstand 1916. Wie relevant sind die Prinzipien, welche damals die sieben Unterzeichner der Oster-Proklamation verkündet haben - religiöse und soziale Freiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und die Garantie, für alle Kinder des Landes gleich zu sorgen - heute?

JL: Als politischer Aktivist und geschichtsinteressierter Mensch finde ich die laufende Diskussion um die Bedeutung des Osteraufstands wahnsinnig aufregend. Man bedenke allein die Kontroverse, die der ehemalige Premierminister John Bruton von Fine Gael mit seiner provokanten These, das Vergießen des Blutes Hunderttausender irischer Soldaten durch das British Empire im Ersten Weltkrieg sei legitim und nachvollziehbar, der gewaltsame Griff der Irish Volunteers, der Irish Republican Brotherhood und der Irish Citizen Army in Dublin nach Unabhängigkeit für Irland dagegen ein verbrecherischer Akt anti-demokratischer Hasardeure gewesen, ausgelöst hat. Ich halte den revisionistischen Standpunkt von Leuten wie Bruton für nicht überzeugend. Ab 1870, als Isaac Butt die Home Government Association gründete, gab es starke Bestrebungen seitens der Irish Parliamentary Party für eine irische Selbstverwaltung innerhalb des Vereinigten Königreichs, die zwar von Großbritanniens Liberalen unterstützt wurden, jedoch immer wieder am Widerstand der Konservativen und Unionisten scheiterten. Selbst das Home Rule Bill, das gegen den erbitterten Widerstand der Tories 1914 vom britischen Parlament verabschiedet worden war, wurde mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf Eis gelegt. Es gab also keine Garantie, daß London das Gesetz nach dem Ende des Weltkrieges in die Tat umsetzen würde, zumal sich die nordirischen Unionisten bewaffnet hatten und mit der Abspaltung vom restlichen Irland drohten.

Die Aufständischen selbst kamen aus unterschiedlichen Strömungen. James Connolly und die Irish Citizens Army wollten einen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat errichten, während die Gruppe um Padraig Pearse und die Irish Republican Brotherhood neben der Erringung der politischen Unabhängigkeit auch die kulturelle Eigenständigkeit hervorhoben und darum für die Wiederbelebung der gälischen Sprache eintraten. Im Gegensatz zu den Vertretern der Irish Parliamentary Party wollten sich die Aufständischen nicht mit einer Autonomieregelung innerhalb des Vereinigten Königreichs begnügen. Die Ausrufung der Republik Irland war daher eine kategorische Absage an die Monarchie. Der britische König sollte auf keinen Fall Oberhaupt des neuen Staates werden. Aber was für einen Staat wollten sie errichten? Darüber streiten sich die Historiker bis heute deshalb, weil die Ziele der Beteiligten so unterschiedlich waren. Die konservativ Gesinnten unter den Revolutionären wollten eine grüngefärbte parlamentarische Demokratie, die linken Teilnehmer des Aufstands dagegen anstelle des alten Status quo einen neuen, progressiven Staat errichten. Wie wir wissen, haben sich erstere, nach dem Unabhängigkeitskrieg 1919-1921, im darauffolgenden Bürgerkrieg 1922-1923 durchgesetzt.

Ich halte es für sinnvoll und lohnenswert, die Ereignisse von damals und die Aussagen der Beteiligten zu studieren und darüber zu diskutieren. Mit dem hundertsten Jahrestag der Unterzeichnung der Ulster Covenant 1914 durch die nordirischen Unionisten ist in Irland quasi eine Dekade der großen historischen Ereignisse angebrochen. Aus jener Dekade ist ein geteiltes Irland mit einem unabhängigen Staat, bestehend aus 26 Grafschaften, und einem pro-britischen Zwergstaat mit sechs Grafschaften im Norden hervorgegangen. Die Teilung hat die Saat für jene "Troubles" gelegt, die zwischen 1969 und 1998 3.500 Menschen das Leben kosteten, das Verhältnis zwischen Katholiken und Unionisten in Nordirland auf Jahre hinaus vergifteten und die Beziehungen zwischen Dublin und Belfast nachhaltig störten. Ich begrüße deshalb die vielen Artikel, Bücher und Fernseh- und Radiodokumentationen, die sich mit der Geburt des neuen Irlands befassen.

Vor drei Jahren hat die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Dublin Lockout von 1913, als 300 Unternehmen mehr als 20.000 Arbeiter monatelang aussperrten, um die Ausbreitung der Gewerkschaftsbewegung zu verhindern, der irischen Linken und den vielen sozialen Gruppen, die gegen Wassergebühren, Krankenhausschließungen und Ausgabenkürzungen protestieren, nicht wenig Auftrieb verliehen. [2] Die Gewerkschaftsführer von heute wurden zum Beispiel mit der Frage konfrontiert, inwieweit sie sich wirklich als die würdigen Erben von Revolutionären wie Connolly und James Larkin betrachten dürften und ob sie sich nicht längst von den Arbeitgebern haben einkaufen lassen. In einem Heft, das vom Dublin City Council veröffentlicht wurde, ging der Historiker Francis Devine von der Gewerkschaft SIPTU der Frage nach, inwieweit die Lebensbedingungen für die arbeitende Bevölkerung von heute besser als vor 100 Jahren sind. Er kam zu dem erschreckenden Ergebnis, daß sie sich bis auf die generelle Gesundheit der Menschen nicht wesentlich verbessert hätten. Das gibt schwer zu denken.

Von daher bieten die Hundertjahres-Feierlichkeiten zum Osteraufstand 1916 den Menschen in Irland die Gelegenheit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wozu das Ganze damals gut gewesen sein soll. Zu welchem Zweck sollte die britische Herrschaft abgeschüttelt werden? Läßt sich das Irland von heute an den Idealen der Oster-Proklamation messen? Wie kann ein gerechteres Irland ohne Not, ohne Obdachlosigkeit, ohne Arbeitslosigkeit, ohne Billigjobs und Prekariat, ohne Kinder, die morgens hungrig zur Schule gehen, und ohne gravierende Wohlstandsunterschiede zwischen arm und reich geschaffen werden? In einer landesweiten Aktion bekommt in diesem Frühjahr jede Schule in der Republik Irland eine Kopie der Oster-Proklamation zugestellt. Es genügt jedoch nicht, sie einfach zu lesen oder ihr zu huldigen. Wir müssen uns endlich daransetzen, das verkündete Ziel eines Irlands, in dem jeder ein Leben ohne Not führen kann, zu verwirklichen. Dazu müssen als erstes die Grundbedürfnisse eines jeden Einzelnen wie ein Dach über den Kopf, Heizung, Essen auf dem Tisch und anständige Kleider gedeckt werden. Danach kann man sich überlegen, was für eine Gesellschaft wir schaffen wollen und wie das Leben gestaltet werden soll. Aus Plackerei, wie das heute für die meisten Menschen der Fall ist, soll es nicht bestehen, sage ich als Sozialist. Zu Bildung und Kunst zum Beispiel sollen alle Menschen, nicht nur die Besserverdiener und ihre Familien, Zugang haben. Der materielle Wohlstand der Gesellschaft wird von der arbeitenden Bevölkerung geschaffen. Darum soll sie über die Art und Weise, wie der Wohlstand verteilt wird, bestimmen. Meines Erachtens ist das der Kerngedanke der Oster-Proklamation. [4]


Vergilbtes Original der Oster-Proklamation im schwarzen Bilderrahmen hinter Glas an der Wand - Foto: © 2016 by Schattenblick

Eines der wenigen, noch erhaltenen Original-Plakate der Oster-Proklamation von 1916 in Dublin City Hall
Foto: © 2016 by Schattenblick

Es gibt natürlich Bemühungen seitens der amtierenden Regierung, die revolutionären Ziele der Oster-Aufständischen unter den Teppich zu kehren. Man braucht sich nur an das hochpeinliche Promotionsvideo erinnern, das letztes Jahr auf der Website des Kulturministeriums veröffentlicht wurde. Darin waren die irische Rugby-Legende Brian O'Driscoll, die Königin von England, Elizabeth II., der britische Premierminister David Cameron, der unionistische Anführer Ian Paisley und die frühere irische Präsidentin Mary McAleese zu sehen. Kein einziger der Unterzeichner der Oster-Proklamation wurde namentlich erwähnt, geschweige denn gezeigt. Im Grunde genommen wollte man den nordirischen Friedensprozeß und die Verbesserung der Beziehungen zu Großbritannien bejubeln und die Feierlichkeiten zum 100jährigen Jubiläum des Osteraufstands zum Beiwerk verkommen lassen. Doch der Ansatz ging nach hinten los. Die öffentliche Empörung über die vermeintlich unpolitische, betont zukunftsgerichtete Botschaft des Videos war so groß, daß das Werk schnell aus dem Internet verschwinden mußte. Als in dem Zusammenhang das Kulturministerium zusätzlich die Übersetzung der Oster-Proklamation ins Gälische mittels Google Translate verhunzte, sahen sich Premierminister Kenny und Kulturministerin Heather Humphreys vollends blamiert.

SB: Es bleibt jedoch die Frage im Raum, wie sich die unvollendete Vision von 1916 verwirklichen ließe.

JL: Da gibt es kein Drumherum - die Linke in Irland muß endlich die Macht übernehmen und im Sinne der Arbeiterklasse Staat und Wirtschaft neu gestalten. Nach Jahrzehnten neoliberaler Hegemonie auf der kulturellen und politischen Ebene traut sich heute fast niemand mehr, das Wort Arbeiterklasse in den Mund zu nehmen. Und dennoch bleibt der Klassenkampf bestehen. Das wissen auch die Reichen, die nicht nur in Irland, sondern in allen Industrienationen schon länger ganz erfolgreich eine Umverteilung von unten betreiben. Die klassische Arbeiterklasse wie im 19. Jahrhundert, als Marx und Engels Das Kapital schrieben, gibt es heute kaum noch. Darum redet man in linken Kreisen von Menschen mittleren und niedrigen Einkommens. Damit sind Angestellte, Kleinbauern, Billigjobber, Freiberufler, Arbeitslose, Rentner et cetera - also praktisch alle, die nicht von einem angehäuften Vermögen bzw. dessen Zinsen leben können - gemeint. Als linker Politiker sehe ich meine Aufgabe darin, dafür zu sorgen, daß die arbeitende Bevölkerung ein Leben in Würde ohne materielle Not führen kann.


Neoklassische Granitsäulen und massive Eisengitter versperren den Blick auf den Amtssitz des Taoiseach - Foto: © 2016 by Schattenblick

Amtssitz des irischen Premierministers an der Upper Merrion Street
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: In den letzten Tagen hat sich eine Konfrontation um die Besetzung einer Reihe von Gebäuden in der Moore Street im Herzen Dublins entzündet. Könnten Sie uns erzählen, worum es hierbei geht?

JL: Die Häuser 14 bis 17 Moore Street sind von großer geschichtlicher Bedeutung. Dorthin waren 1916 die Anführer des Osteraufstands nach einer Woche schwerer Kämpfe und nachdem das Hauptpostamt, das sie zuerst besetzt hatten, in Flammen aufgegangen war, geflohen. In 16 Moore Street haben die Gründungsväter der irischen Republik ihr letztes Hauptquartier gehabt und dort haben sie auch am Ende vor dem britischen Militär formell kapituliert. Deswegen bezeichnen einige Historiker die Häuserzeile in der Moore Street als das "Alamo" Irlands. Lange Zeit drohten diese Häuser im Zuge des geplanten Baus eines 1,25 Milliarden teuren Einkaufzentrums, das sich von der O'Connell Street bis nach Moore Street erstrecken soll, gänzlich abgerissen zu werden. Jahrelang haben Politiker der etablierten Parteien Fine Gael, Fianna Fáil und Labour nicht das geringste Interesse am Erhalt dieser Häuser gezeigt und sich damit als Banausen entpuppt.

Erst aufgrund einer Öffentlichkeitskampagne, die von den Nachfahren der Unterzeichner der Oster-Proklamation und der National Graves Association angeführt wurde, haben die Behörden 2007 die Häuser 14 bis 17 Moore Street unter Denkmalschutz gestellt. Doch wie das Denkmal restauriert und in das geplante Einkaufszentrum integriert werden soll, ist umstritten. Manche Beobachter befürchten, daß am Ende lediglich die Fassade erhalten bleibt, was natürlich eine Schande wäre. Ihrerseits wollen die Anhänger der Kampagne "Save Moore Street" aus den vier Häusern ein Nationalmuseum machen, das diesen Namen verdient. Vor diesem Hintergrund löste der Umstand, daß vor zwei Tagen plötzlich ein Gerüst und ein Bauzaun vor den Häusern 14 bis 17 Moore Street errichtet wurden, bei den Denkmalschützern Alarm aus. Aus Angst, die Bauherrn des Einkaufzentrumprojektes könnten dort Abrißarbeiten durchführen lassen und vollendete Tatsachen schaffen, haben Aktivisten in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar die Häuser besetzt. Sie weigern sich, das Gelände freizugeben, bis es schriftliche Garantien gibt, daß dort nur unter der Aufsicht anerkannter Historiker und Archäologen Bauarbeiten durchgeführt werden.

Der ruinöse Zustand der Häuser 14 bis 17 Moore Street und die Tatsache, daß die Behörden es nicht geschafft haben, sie rechtzeitig bis zu den Feierlichkeiten für das 100. Jubiläum des Osteraufstandes angemessen zu renovieren, ist eine absolute Schande für die politische Klasse in diesem Land. Im vergangenen Juni hat der Dublin City Council einen von mir formulierten Antrag mehrheitlich verabschiedet, in dem die Zentralregierung dazu aufgefordert wurde, fünf weitere Häuser beiderseits von 14 bis 17 Moore Street ebenfalls unter Denkmalschutz zu stellen. Das wäre erst einmal 10 Moore Street, das erste Eckgebäude der Häuserzeile, das die Gruppe um den Aufstandsanführer nach der Flucht aus dem Hauptpostamt über den Seitenausgang an der Henry Street und Moore Lane erreichte und wo sie auch einen Kriegsrat abhielt. Am anderen Ende der Reihe wären das die Häuser 18, 20 und 21 Moore Street. Jene Gebäude, die allesamt aus der Zeit vor 1916 stammen, sollten dem Einkaufszentrum weichen und demnächst abgerissen werden. Dasselbe Schicksal erwartet die Gebäude, die aufgrund der schweren Schäden infolge der Kämpfe nach 1916 praktisch neu gebaut worden waren. Dessen ungeachtet bin ich wie viele andere Menschen der Meinung, daß die ganze Häuserreihe von 10 bis 21 Moore Street erhalten, unter Denkmalschutz gestellt und im Rahmen der Museumspläne renoviert werden sollte.

Bis heute sind die Umstände, unter denen 2007 die Firma Chartered Lands des Bauunternehmers Joe O'Reilly in den Besitz dieser Prestigeimmobilie mitten in Dublin zwischen Upper O'Connell Street und Moore Street gelangt ist, ungeklärt. Es liegt mehr als nur ein Hauch der Korruption über dem ganzen Vorgang. O'Reilly gehört bekanntlich zu den finanziellen Förderern von Fianna Fáil, die damals unter der Führung des inzwischen diskreditierten Premierministers Bertie Ahern einer Koalitionsregierung mit den Grünen vorstand. Nach dem Platzen der Immobilienblase wurde O'Reilly als einer der sogenannten "Maple Ten" entlarvt, die auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 illegal riesige Darlehen von der Anglo-Irish Bank erhielten, um damit deren Aktien zu kaufen und den Absturz des Börsenkurses des Finanzhauses zu verhindern. Bei O'Reillys Übernahme der Immobilie - 2007 hat er zwei frühere Mitinvestoren ausgekauft - war ein Enteignungsbeschluß des Dublin City Council im Spiel. Wie ihm das gelungen ist, wissen nur die Beteiligten am Betrug. Der gälischsprachige Fernsehsender TG4 hat eine spannende Dokumentation zum Skandal produziert, die sich anzuschauen lohnt. [5]

Die Pläne von Chartered Lands in bezug auf das Einkaufszentrum haben sich nach Abbruch des früheren Baubooms leicht verändert. Das überrascht nicht. Schließlich mußte O'Reilly selbst aufgrund von Verbindlichkeiten in einer Höhe von sage und schreibe 2,8 Milliarden Euro unter den Rettungschirm der irischen Bad Bank NAMA flüchten. Dennoch bleibt das geplante Einkaufszentrum überdimensioniert; das Nationaldenkmal droht zum Anhängsel in Form eines Besucherzentrums mit Alibifunktion zu verkommen. Ich und viele Gleichgesinnte halten das Vorhaben deshalb für fehl am Platze. Der Ausgang der neuen Einkaufspassage läge auf der Moore-Street-Seite gegenüber dem ILAC Centre, das O'Reilly bereits zu 50 Prozent gehört, und damit wiederum unweit vom Jervis Centre und dem Warenhaus Roches Stores an der Henry Street. Erst im letzten Jahr hat Clerys, das traditionsreichste Warenhaus Dublins, das an der O'Connell Street direkt gegenüber dem Hauptpostamt liegt, seine Tore geschlossen. Das Letzte, was die Gegend um O'Connell Street und Henry Street braucht, ist eine weitere Einkaufsmeile, die sich absehbar wegen fehlender Kaufkraft in eine billige Durchgangspassage mit Frittenbuden, Ein-Euro-Läden und Spielhöllen verwandelt.

Die komplette Häuserreihe in der Moore Street muß erhalten und renoviert werden, denn es handelt sich hier nach Angaben des Direktoriums des National Museums um die "wichtigste historische Stätte des 20. Jahrhunderts in Irland", den letzten Schauplatz des Osteraufstands von 1916 und nach Urteil internationaler Experten eines der wenigen existierenden urbanen Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges. [6] Gelingt es uns, die ganze Häuserreihe zu retten, haben wir auch die Chance, dieses Kampfgebiet für die Nachwelt zu erhalten. Man könnte die Gegend zu einen geschichtsträchtigen Kulturviertel machen und dabei die Markthändler, die mit ihren Obst-, Gemüse-, Fisch- und Fleischständen seit jeher das Bild der Moore Street prägen, behalten, statt sie, wie es seit einiger Zeit leider der Fall ist, zu verdrängen.

Das wollen auch viele Menschen in Dublin. Die Leitung des Stadtrats in der Person Jim Keogans, des Chefs der Abteilung Planung und Entwicklung, und die Zentralregierung, allen voran Kulturministerin Heather Humphreys, sträuben sich jedoch dagegen. Ich habe mit beiden, Keogan und Humphreys, zum Thema Moore Street und deren Bedeutung gesprochen; ihren Mangel an Geschichtsbewußtsein zu erleben ist wirklich erschreckend. Sie halten an der Verwirklichung der Bebauungspläne von Chartered Lands fest und können oder wollen den Wert des kulturellen und geschichtlichen Erbes in der Gegend um Moore Street für die Bewohner der Stadt und die vielen Touristen, die jedes Jahr Dublin besuchen, nicht erkennen.


Obst- und Blumenstände verleihen der Moore Street Farbe - Foto: Marek Slusarczyk [CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons

Moore Street in besseren Zeiten vor circa zehn Jahren
Foto: Marek Slusarczyk [CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons

SB: Was passiert mit den Straßenhändlern, sollte das Einkaufszentrum nach den aktuellen Plänen gebaut werden? Droht ihnen nicht die Verdrängung infolge des üblichen Gentrifizierungsprozesses?

JL: Die Straßenhändler von Moore Street sehen sich seit Jahren einem enormen Verdrängungsdruck ausgesetzt. Dafür haben Dublin City Council und Chartered Lands gemeinsam gesorgt, indem sie viele Gebäude beiderseits der Straße mehr oder weniger verwahrlosen ließen. Zwar haben die neuen Einwanderer aus Afrika und anderswo geholfen, die Moore Street durch die Öffnung eigener Kleingeschäfte wiederzubeleben, dennoch bietet die Gegend einen traurigen Anblick. Auf der einen Seite gammelt das ILAC Centre, dessen Errichtung in den siebziger Jahren rund die Hälfte des Moore-Street-Marktviertels zum Opfer fiel, vor sich hin, während viele der Gebäude, die dem jüngsten Bauvorhaben von Chartered Lands weichen sollen, seit Jahren verbarrikadiert sind und verrotten. Es steht sehr wohl zu befürchten, daß die Errichtung des Einkaufszentrums die Todesglocke für den traditionellen Straßenhandel in der Moore Street einläuten wird und daß die endgültige Verdrängung der Markthändler von den Verantwortlichen beim Dublin City Council auch gewollt ist.

SB: Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Parlamentsabgeordneter, sollten Sie bei der bevorstehenden Wahl einen Parlamentssitz als Abgeordneter für den Bezirk Dublin Bay North erobern, in der Wahrnehmung der Interessen ihrer Wähler: in der Auseinandersetzung mit Fragen von nationaler Tragweite oder in einer Kombination aus beidem?

JL: Alle Kandidaten von People Before Profit und der Anti-Austerity Alliance haben sich verpflichtet, daß sie, sollten sie gewählt werden, als Belohnung für ihre Abgeordnetentätigkeit nur den durchschnittlichen Industrielohn beziehen werden. Mit 7.271,50 Euro im Monat, das sind 87.258 Euro im Jahr, ist das Grundgehalt eines Abgeordneten des Parlaments in Dublin etwa dreimal so hoch wie der durchschnittliche Industrielohn, der in Irland bei 35.000 Euro brutto liegt. Zusätzlich kommen Spesen dazu. Das geht nicht. Damit verhöhnt man nur die Bürger, die es in diesen Krisenzeiten ohnehin schwer genug haben. Ein solches Gehalt einzustreichen und gleichzeitig den armen Leuten zu sagen, sie sollten sich mit dem gesetzlichen Mindestlohn zufrieden geben oder sich mit der Kürzung ihrer ohnehin mickrigen Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe abfinden, ist mehr als obszön. Ein so großer Abstand, den materiellen Wohlstand betreffend, zwischen Volksvertretern und den einfachen Bürgern kann für die Gesellschaft als Ganzes nicht gut sein. Dadurch verlieren die Politiker das Gefühl für die Sorgen und Nöte ihrer Wähler und identifizieren sich mit den Reichen und ihren Interessen. Davon wollen wir weg. Hinzu kommt, daß man mit 35.000 Euro im Jahr immer noch gut gestellt ist. Damit verdient man mehr als die vielen Menschen, die nur den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Man darf auch nicht vergessen, daß man als Berufspolitiker in erster Linie Staatsdiener ist. Es geht also darum, den Menschen zu dienen, und nicht darum, die eigenen Taschen zu füllen.

Zu viele Politiker in Irland betrachten die Wahl zum Kommunalrat oder zum Parlamentsabgeordeten als Chance, sich beruflich zu verwirklichen, ordentlich zu verdienen und an eine saftige Staatspension für seinen Lebensabend zu kommen. Meine Motivation ist eine ganz andere. Als Sozialist will ich dem Wohle meiner Wähler und dem Volk als ganzes dienen. Ich halte es mit James Connolly, dem großen Sozialisten und Mitorganisator des Osteraufstands, und Lenin, die beide stets für die Beteiligung der revolutionären Linken an Wahlen plädierten. Allein der Wahlkampf, unabhängig davon, ob man am Ende gewählt wird oder nicht, bietet ein Forum, um sozialistische Ideen zu verbreiten. Man darf den politischen Diskurs nicht den herrschenden konservativen Kräften überlassen. Solche Leute wollen den Menschen stets nur einreden, es gäbe keine Alternative zum Status quo. Diesen Standpunkt bestreite ich vehement.


John Lyons hält zwei eigene Wahlplakate hoch - Foto: © 2016 by John Lyons

Ohne Plakate mit Kandidatenkonterfei läuft im irischen Wahlkampf gar nichts
Foto: © 2016 by John Lyons

Als Abgeordneter wird man in der Öffentlichkeit viel mehr wahrgenommen als ein außerparlamentarischer Aktivist. Man wird zum Gesprächs- und Interviewpartner für die Zeitungen, fürs Radio und Fernsehen. Folglich kann man als Sozialist sein Mandat als Abgeordneter nutzen, nicht nur um die Anliegen seiner Wähler voranzutreiben, sondern um die arbeitende Bevölkerung gegen das herrschende System zu mobilisieren. Meines Erachtens hat mein Parteikollege Richard Boyd Barrett in den letzten fünf Jahren durch seine Rolle bei den Kampagnen zum Erhalt des staatlichen Waldbesitzes und gegen die Einführung von Wassergebühren sehr gut gezeigt, wie man das macht.

Ob man als Abgeordneter der Opposition oder der Regierung angehört, ist für uns Sozialisten zweitrangig, denn für uns geht die Macht vom Volk aus. Entscheidend ist, das Volk für progressive und gegen regressive Ziele zu mobilisieren. Gelingt einem das, wird sich die parlamentarische Politik danach richten und es werden sich Mehrheiten für die entsprechenden Initiativen bilden. Für die Richtigkeit dieser These spricht der Versuch der Fine-Gael-Labour-Koalition, die Proteste gegen die Wassergebühren und die vielen Akte des zivilen Ungehorsams zu kriminalisieren. Die etablierten Parteien merken, daß sich das Volk immer mehr gegen sie regt, und greifen deshalb auf polizeiliche Mittel zurück, um die einfachen Menschen wieder einzuschüchtern.

Der Fall der Demonstranten, darunter der Abgeordnete Paul Murphy von der sozialistischen Partei, die wegen einer Sitzblockade im November 2014 um das Auto der Vizepremierministerin und Labour-Chefin Joan Burton in ihren Wohnungen verhaftet wurden und sich wegen Freiheitsberaubung vor Gericht verantworten sollen, ist das sichtbarste Zeichen dieser Einschüchterungstrategie. Die politische und wirtschaftliche Elite in Irland ist verunsichert. In den letzten zwei Jahren hat sie fünf landesweite Protestaktionen gegen die Wassergebühren und die drohende Privatisierung des neuen Versorgungsbetriebes Irish Water erleben müssen. Pro Kopf der Bevölkerung waren das die größten Demonstrationen des Volkszorns gewesen, die es in Europa seit Beginn der Finanzkrise 2008 gegeben hat.

Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe als Sozialisten, den Wahlkampf zu bestreiten und so viele Mandate im Parlament wie möglich zu erobern, um von dort die gesellschaftliche Mobilisierung, die in letzter Zeit sehr gut gelaufen ist, weiter voranzutreiben. Was man im Parlament als Abgeordneter oder als Fraktion erreichen kann, hängt im wesentlichen davon ab, wieviel Unterstützung man dafür an der Basis von den Menschen bekommt. Darum muß diese Verbindung zwischen Volksvertretern und Volk gepflegt werden und darf niemals abreißen. Wenn ich das sage, meine ich natürlich etwa anderes, als das traditionelle Verhältnis zwischen Politikern und Wählern in Irland.

Hierzulande ist es üblich, daß sich Menschen, die Schwierigkeiten mit den Behörden haben, sei es auf der nationalen oder kommunalen Ebene, an ihren lokalen Kommunalrat oder den Abgeordneten aus ihrem Bezirk wenden. Viele Politiker verbringen ihre Zeit hauptsächlich damit, ihren Wählern durch das unüberschaubare behördliche Dickicht zu helfen. Sie sorgen dafür, daß diese bei der Vergabe von Sozialwohnungen weiter oben auf die Liste gesetzt werden oder eine Baugenehmigung bekommen und vieles mehr. Im Gegenzug wird erwartet, daß die Menschen den Einsatz des Politikers bei der nächsten Wahl mit ihrer Stimme belohnen. Auf diese Weise sichern sich viele Kommunalräte und Abgeordnete die Wiederwahl. Nicht wenige von ihnen tun den ganzen Tag nichts anderes.

An mich als Stadtrat treten immer wieder Wähler heran, weil sich die städtischen Baubehörden nicht um den Schimmel in ihrer Sozialwohnung kümmern oder weil ihnen irgendwelche Zuschüsse gestrichen werden sollen und ähnliches. Ich gehe dem nach, setze mich für sie ein und helfe, die Dinge in Ordnung zu bringen. Nachher sichern mir die Leute zu, bei der nächsten Wahl für mich zu stimmen. Ich sage Ihnen jedes Mal, daß ich nicht daran interessiert bin. Sie sollten unsere Literatur lesen, und wenn ihnen unser Wahlprogramm gefällt, können sie uns ihre Stimmen geben oder, was noch besser wäre, sich bei uns engagieren.

Eigentlich sollten sich die Menschen weder an mich noch irgendeinen anderen Politiker wenden. Die staatlichen Dienstleistungen, die ich für sie organisieren soll, stehen ihnen ohnehin zu. Das politische System in Irland ist kaputt. Die Politiker spielen sich als Vermittler zwischen Behörden und Wählern auf. Das ist die reine Anmaßung. Die Abgeordneten im Parlament sollten ihre Energie dafür aufwenden, die Politik auf der nationalen Ebene zu gestalten, statt ihre Zeit ausschließlich der Erledigung irgendwelcher Gefälligkeiten zu widmen, um sich ihre Wiederwahl zu sichern. Je mehr sozialistische Abgeordnete wir in das Parlament gewählt bekommen, um so schneller werden wir der korrupten "parish pump politics", die Fianna Fáil, Fine Gael und Labour seit Jahrzehnten betreiben, ein Ende setzen.

SB: Danke sehr, John Lyons, für dieses Interview.


Nachtaufnahme des Prachtgebäudes aus dem 18. Jahrhundert - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ansicht der westlichen Seite der Dublin City Hall am Cork Hill
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:


1. http://www.dublincitydevelopmentplan.ie

2. http://www.siptu.ie/aboutsiptu/history/the1913lock-out/

3. http://1916societies.com/2016/01/13/statement-from-save-moore-street-1916-committee/

4. http://guardian.com/world/2016/feb/15/irish-independence-proclamation-display-trinity-college

5. "Iniúchadh - Oidhreacht na Cásca", TG4, Erstausstrahlung Oktober 17, 2012, http://www.youtube.com/watch?v=Cx0Kah7dE80 (Mit englischen Untertiteln)

6. https://rebelbreeze.wordpress.com/2016/01/20/the-moore-street-terrace-a-world-heritage-site/


25. Februar 2016


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