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INTERVIEW/050: Dublin - Fortschritte ungenügend ...    David Cullinane im Gespräch (SB)


Interview mit dem Sinn-Féin-Abgeordneten David Cullinane am 11. Juli 2018 in Dublin


Seit den Tagen Margaret Thatchers streitet man sich innerhalb der konservativen Partei Großbritanniens recht heftig über das angemessene Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union. Mit der Durchführung einer Volksbefragung zur EU-Mitgliedschaft im Juni 2016 hoffte David Cameron, die Querelen ein für allemal zu beenden. Doch der damalige Premierminister und Tory-Vorsitzende hat sich spektakulär verkalkuliert. Die knappe Mehrheit für den EU-Austritt hat genau das Gegenteil bewirkt. Nach dem Rücktritt Camerons gleich am Tag nach dem Votum hat Theresa May die Führung von Partei und Regierung übernommen. Seitdem versucht die glücklose Ex-Innenministerin, das Unmögliche doch noch hinzukommen, nämlich einen Brexit mit der EU auszuhandeln, der einerseits die britische Wirtschaft nicht völlig ruiniert, andererseits die irrigen Vorstellungen der Tory-Brexiteers vom "global Britain", das befreit vom europäischen Dirigismus zum Handelsweltmeister aufsteigt, erfüllt.

Hauptleidtragender eines harten Brexits wäre Irland, weil dort eine Zollgrenze mit allem, was dazugehört, zwischen der Republik im Süden und dem noch zum Vereinigten Königreich gehörenden Norden gezogen werden müßte. Eine solche Installation geriete mit Sicherheit zum Ziel irisch-republikanischer Dissidenten, was die Gefahr eines Wiederaufflammens des Bürgerkrieges in Nordirland zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Anhängern der Union mit Großbritannien mit sich brächte. Deswegen drängen bei den bisherigen Verhandlungen Brüssel und Dublin darauf, daß es keine sichtbaren Grenzkontrollstellen auf der Insel Irland geben soll. Die einzigen Möglichkeiten, eine harte Landgrenze auf der grünen Insel zu vermeiden, wären, entweder die Zoll- und Personenkontrollen erfolgten an den Flug- und Seehäfen beiderseits der Irischen See oder das Vereinigte Königreich verbliebe in der Zollunion mit der EU. Beides hat May abgelehnt; ersteres aus Rücksicht auf Nordirlands Unionisten, denen keine Infragestellung der Verbindung zu Großbritannien zuzumuten ist, letzteres, um die Brexiteers in den eigenen Reihen zu besänftigen. Über diese hochkomplizierte Gemengelage sprach der Schattenblick am 11. Juli mit David Cullinane, dem außenpolitischen Sprecher von Sinn Féin, im Dáil, dem Unterhaus des irischen Parlaments, in Dublin.


Vorderansicht des irischen Parlaments samt Toreingang - Foto: © 2018 by Schattenblick

Leinster House an Dublins Kildare Street
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Cullinane, in den letzten Tagen hat die britische Premierministerin Theresa May ihre konservative Regierung endlich auf einen einheitlichen Kurs in der Brexit-Frage gebracht und ist dabei durch Rücktritte ihre zwei ärgsten Störenfriede im Kabinett, Außenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis, losgeworden. Gestern hat bei einer Rede vor dem einflußreichen Council on Foreign Relations in New York der französische Diplomat und EU-Chefunterhändler Michel Barnier erklärt, der Brexit-Deal zwischen Brüssel und London sei zu "achtzig Prozent abgeschlossen". Es hat aktuell den Anschein, als durchschritten wir in der Brexit-Krise gerade die Talsohle. Stimmen Sie mit diesem Eindruck überein und was wären Ihrer Meinung nach die größten verbliebenen Hindernisse auf dem Weg zu einem für alle Seiten vernünftigen Ausgang der Brexit-Verhandlungen?

David Cullinane: Ich denke, es herrscht eine gewisse Verwirrung vor, was Herr Barnier meint, wenn er "achtzig Prozent" des Brexit-Deals als "abgeschlossen" bezeichnet. In diesem Konglomerat geschehen mehrere Dinge gleichzeitig; also ist es wichtig, sie voneinander zu trennen, um das Ganze besser verstehen zu können. Erstens muß wegen der Aktivierung von Artikel 50 des Lissaboner Vertrags durch die britische Regierung im vergangenen Jahr das Withdrawal Agreement bis Ende 2018 stehen, damit das Vereinigte Königreich die EU wie geplant am 29. März 2019 auf geordnete Weise verlassen kann. In diesem Abkommen werden lediglich die Modalitäten des Austritts aus der EU behandelt, die Handelsfragen bleiben davon unberührt.

Im Withdrawal Bill werden die Begleichung der finanziellen Restverpflichtungen Londons gegenüber dem EU-Haushalt und verschiedene andere politische Fragen wie zum Beispiel der Umstand geregelt, daß künftig keine britischen EU-Abgeordneten in das Parlament nach Strasbourg entsandt werden. Zu achtzig Prozent sind die Fragen dieses "Scheidungsvertrags" beantwortet. Es bleiben nur noch zwanzig Prozent - Themen, wie künftig die Rechte von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich bzw. umgekehrt von britischen Bürgern, wenn sie in der EU arbeiten, studieren et cetera, zu gestalten sind. Ein schwerer Brocken, der auch noch der Erledigung bedarf, ist das geplante Protokoll zur künftigen Handhabung der Grenze zwischen dem EU-Mitgliedsstaat Republik Irland und dem weiterhin zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland. Herr Barnier hat also recht, wenn er sagt, dieser Teil der Arbeit sei zu vier Fünfteln fertig.

Was aber noch völlig offen ist, sind die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU einschließlich der unzähligen Handelsfragen. Erst am vergangenen Wochenende hat Premierministerin May beim Treffen auf ihrem Landsitz Chequers die britische Regierung auf eine einheitliche Position in Sachen Brexit gebracht. Demnach strebt London eine Zollpartnerschaft mit der EU an, die einer Zollunion fast gleichkommt, jedoch aus politischen Gründen diesen Namen nicht tragen darf. Aus Sicht von Herrn Barnier sind also die technisch-institutionellen Fragen des Austritts weitgehend beantwortet. Der kann im März erfolgen, während sich beide Seiten auf eine mindestens einjährige Übergangsphase geeinigt haben, um sich den schwierigen Handels- und Zollfragen zu widmen. Dabei eine Lösung zu finden wird nicht einfach sein, denn London will zusammen mit der EU einen einheitlichen Markt für Waren, nicht aber für Dienstleistungen bilden. Zudem wollen die Briten den Personenverkehr strenger kontrollieren, um unerwünschte Einwanderung zu verhindern. Das läßt sich aber mit dem EU-Prinzip der Reise- und Niederlassungsfreiheit nicht in Einklang bringen.

Also ist das Withdrawal Agreement zu 80 Prozent fertig, während wir bei all den Handels- und Zollfragen gerade erst am Anfang stehen. Für die Republik Irland ist vor allem wichtig, daß Dublin beim Abschluß bzw. bei der Unterzeichnung des Withdrawal Agreements im November oder Dezember dieses Jahres eine formelle Garantie erhält, daß es unabhängig vom späteren Ausgang der Handelsgespräche keine feste Grenze auf der Insel geben wird. Auf diesen sogenannten "backstop", auf den man sich mit Irland beim EU-Gipfel im Dezember vergangenen Jahres informell geeinigt hat, müssen wir beharren.

SB: In der irischen Öffentlichkeit scheint die Meinung vorzuherrschen, daß die derzeitige national-konservative Fine-Gael-Regierung unter Premierminister Leo Varadkar und Simon Kenny das Brexit-Schlamassel bislang ganz gut bewältigt hat. Vor kurzem haben Sie aber in einem Artikel für thejournal.ie die beiden kritisiert. Können Sie uns bitte erklären, wo und wie Ihrer Meinung nach Dublin mehr aus den bisherigen Brexit-Verhandlungen hätte herausholen müssen?

DC: Zunächst einmal muß festgehalten werden, daß unter den politischen Parteien Irlands im Norden wie im Süden weitgehend Einigkeit darüber herrscht, daß der Brexit Irland nur schaden kann. Bis auf die pro-britische protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) und ihre Vertreter im Norden fordern alle irischen Politiker, daß die Beschlüsse des Karfreitagsabkommens 1998 geschützt und weiterhin eingehalten werden sollen. Sie sind sich einig, daß der Schaden für die gesamte Insel am geringsten gehalten werden kann, wenn Nordirland im Binnenmarkt sowie in der Zollunion bleibt, und erwarten, daß die Rechte irischer Bürger im Norden als EU-Bürger weiterhin in vollem Umfang gewährt werden. Die Position, welche die Dubliner Regierung bei den Brexit-Verhandlungen bisher bezogen hat, wird von allen Parteien mit Ausnahme der DUP unterstützt, weil sie die Interessen Irlands als ganzes verkörpert. Bei Spitzentreffen in den europäischen Hauptstädten wissen die Gesprächspartner, daß die Minister und Diplomaten Dublins nicht allein die Position der Fine-Gael-Regierung oder der Republik, sondern ganz Irlands vertreten.

Die Hauptkritik Sinn Féins an die Adresse der irischen Regierung bei den Brexit-Verhandlungen ist lediglich, daß sie die Vereinbarung vom Dezember, den sogenannten "backstop", gegenüber der eigenen Bevölkerung als unter Dach und Fach dargestelt hat, obwohl das noch lange nicht der Fall ist. Premierminister Varadkar hat eine politische Vereinbarung mit Brüssel gegenüber seiner eigenen Bevölkerung als "felsenfeste Garantie" bezeichnet, obgleich der rechtsverbindliche Inhalt diese Zusicherung noch ausformuliert werden muß und gewissermaßen Gegenstand der laufenden Verhandlungen ist. Wir von Sinn Féin haben die Regierung damals gewarnt, daß die "Versicherungspolice" noch festgezurrt und weiter ausgestaltet werden müsse. Statt dessen hat man sich in Dublin auf das damalige Versprechen der May-Regierung verlassen, das einzulösen angesichts der Querelen in London von Tag zu Tag unwahrscheinlicher erscheint.

Wir hätten erwartet, daß die Gespräche über die irischen Themen - keine Wiedereinführung von Grenzkontrollen, die strikte Einhaltung des Karfreitagsabkommens und der Schutz der EU-Bürgerrechte irischer Staatsbürger in Nordirland - abgeschlossen sein würden, bevor mit den Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen begonnen wird. Statt dessen läuft uns allmählich die Zeit davon, der März 2019 rückt immer näher, und über die Kerninteressen Irlands herrscht in London bzw. zwischen London und Brüssel weiterhin Uneinigkeit. Premierminister Varadkar, Außenminister Coveney und sogar EU-Chefunterhändler Barnier haben dem irischen Parlament zugesichert, daß die Irland-Aspekte des Brexit spätestens bis zum EU-Gipfel Ende Juni vom Tisch sein würden. Die Zusage hat sich als Fata Morgana erwiesen. Die Irland-Fragen liegen immer noch auf dem Tisch.

Als Oppositionspartei besteht unsere Aufgabe unter anderem darin, die Regierung an ihren eigenen Aussagen und Ansprüchen zu messen und sie zu kritisieren, wenn sich dort Lücken oder Widersprüche auftun - wie es hier der Fall ist. Stellten wir die Regierung, hätten wir dafür gesorgt, daß die Zusicherungen, die Dublin in diesem Zusammenhang gegeben wurden, eingehalten werden. Meines Erachtens hat die irische Regierung der Administration in London zuviel Vertrauen geschenkt. Eine strengere, weniger nachsichtige Vorgehensweise wäre besser gewesen. Der EU-Gipfel von Juni ist von der Flüchtlingsfrage und dem Streit zwischen Angela Merkels CDU und Horst Seehofers CSU in Deutschland dominiert worden. Die irische Regierung hat dadurch die Garantien nicht festgezurrt bekommen, wie sie es gehofft hatte. Inzwischen gehen wir auf den Herbst zu, und die Irland-Fragen sind nach wie vor in der Schwebe, was unbefriedigend und zugleich besorgniserregend ist.


Der Sinn-Féin-Abgeordnete für Waterford im Porträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

David Cullinane
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Ein wichtiger Aspekt der Brexit-Strategie Dublins ist die Entscheidung von Varadkar und Coveney, im Namen der Nationalisten bzw. der überkonfessionellen Mehrheit in Nordirland, die dort bei der Volksbefragung im Juni 2016 gegen den Brexit votiert hat, zu sprechen. Der Auftritt Dubliner Regierungspolitiker als Vertreter der Menschen in Nordirland bricht radikal mit der bisherigen Tradition der Nicht-Einmischung und hat entsprechend heftige Reaktionen seitens der pro-britischen Unionisten ausgelöst. In welchem Ausmaß unterstützt die brexit-bedingte Wiederentdeckung der "nationalen Frage" durch das politische Establishment in der Republik, das sich seit 1922 eigentlich ganz gut mit der Trennung der Insel abgefunden hatte, die Bemühungen Sinn Féins um die Wiedervereinigung Irlands? Nutzen die etablierten Parteien im Dubliner Parlament die Brexit-Problematik lediglich aus, um den Vormarsch Sinn Féins in der Republik auszubremsen?

DC: Zunächst möchte ich klarstellen, daß Sinn Féin die Thematik einer Umfrage über die irische Wiedervereinigung nicht mit der Brexit-Problematik vermischt hat. Der Brexit ist kein irisches Thema, sondern von Anfang an eine Angelegenheit der britischen, besser gesagt der englischen Politik gewesen, die sich durch den Ausgang des Referendums Irland aufgedrängt hat. Die Menschen in Nordirland haben aus pragmatischen, mehrheitlich vernünftigen Gründen ähnlich wie die Menschen in Schottland für den Verbleib in der EU votiert. Bei Sinn Féin haben wir schon länger Probleme mit der EU in ihrer bisherigen Form. Uns ist sie zu wenig sozial und nicht demokratisch genug. Ungeachtet dessen haben wir in unserer Partei wie viele andere Menschen erkannt, daß es enorme Probleme und Nachteile mit sich brächte, wenn Nordirland aus der EU gerissen würde. Bei der großen Brexit-Debatte im Vereinigten Königreich im Vorfeld der Abstimmung wurden die möglichen Auswirkungen eines EU-Austritts auf Irland, weder auf die Beziehungen zwischen Nord und Süd noch auf die Insel als Ganzes oder die Handelsbeziehungen zwischen der Republik und Großbritannien, die recht umfangreich sind, von der dortigen Politik angemessen berücksichtigt. Das Gegenteil ist der Fall. Sie wurden weitgehend ignoriert.

Da nun der Brexit ansteht, hat Sinn Féin als einzige Partei, die sowohl in Dublin als auch in Belfast im Parlament vertreten ist, die Aufgabe, mit dafür zu sorgen, daß Irland aus den Verhandlungen zwischen London und Brüssel mit dem bestmöglichen Ergebnis herauskommt. Uns wäre am liebsten, wenn das Vereinigte Königreich im Binnenmarkt und in der Zollunion bliebe. Doch die Brexit-Befürworter in der britischen Regierung wollen unbedingt beiden Einrichtungen den Rücken kehren. Also müssen wir für ein Ergebnis arbeiten, das keine Nachteile für Irland mit sich bringt. Aus pragmatischen und demokratischen Gründen treten wir deshalb dafür ein, daß zumindest Nordirland im Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt, um die Notwendigkeit der Wiedererrichtung einer Grenze auf der Insel mit all den negativen Auswirkungen auf die Sicherheitslage, die eine solche Installation mit sich brächte, zu vermeiden.

Nehmen wir den Vorschlag in Augenschein, auf den sich die Regierung Theresa Mays am vergangenen Wochenende geeinigt hat. Der sieht das Vereinigte Königreich zwar nicht mehr im Binnenmarkt oder in der Zollunion, aber doch in einer maßgeschneiderten Zollpartnerschaft mit der EU. Ordnungspolitisch würde der Warenhandel nach den EU-Regeln laufen, nicht jedoch das Geschäft mit Dienstleistungen. Wie immer man es dreht und wendet, es käme zu Differenzen, die Zollkontrollen an der Grenze erforderlich machten. Das wäre für die Menschen in Irland ganz klar von Nachteil. Folglich sehen wir von Sinn Féin nicht ein, warum man das in Irland akzeptieren soll, wo doch die nordirischen Wähler vor zwei Jahren mehrheitlich gegen den Brexit votiert haben.

In Mays jüngstem Plan ist unklar, wie ein grenzüberschreitender Rechtsstreit künftig beigelegt werden könnte. Für die fortgesetzte Umsetzung des Karfreitagsabkommens, das sich auf irisches, britisches und europäisches Recht stützt, ist das ein Problem. Das Schiedsgericht für zwischenstaatliche Dispute ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, und für Menschenrechtsfragen ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) Strasbourg zuständig, wobei dieser eigentlich gar nichts mit der EU zu tun hat. Beide Gerichte sind in Fragen der Einhaltung der im Karfreitagsabkommen getroffenen Vereinbarungen zuständig - jeweils auf verschiedenen Ebenen. Ein wichtiges Ziel der Brexiteers ist es, die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs abzuschütteln. Sie erwägen sogar, demnächst auch dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof den Rücken zu kehren. Ihr Ziel ist es, britische Gerichte wieder zur letzten Instanz zu machen. Im Dokument von Chequers ist die Rede von einer Zusammenarbeit zwischen britischen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof bei Streitfragen. Wie das laufen soll, weiß derzeit niemand. Auf alle Fälle scheint das Vorhaben ein Angriff auf das Karfreitagsabkommen zu sein, denn Nordirland wäre nicht mehr dem Europäischen Gerichtshof unterworfen, so daß sich die Menschen dort nicht mehr an ihn wenden könnten, um ihre Rechte einzuklagen. Folglich ist Sinn Féin der Auffassung, daß an der Untermauerung des Karfreitagsabkommens durch die europäischen Institutionen nicht gerüttelt werden darf. Wir lehnen deshalb einen harten Brexit und alle negativen Folgen, die daraus für die Menschen in Irland erwachsen könnten wie Grenzkontrollen auf der Insel, erschwerte Handelsbedingungen und verminderte Bürgerrechte kategorisch ab.

Strategisch hat Sinn Féin die Frage der Wiedervereinigung Irlands von der Brexit-Problematik abgekoppelt. In Sachen Brexit streben wir ein Ergebnis an - das könnte ein Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion mit der EU oder notfalls der Status als Sonderwirtschaftszone für Nordirland sein, der die negativen Auswirkungen des Brexits für die Menschen in ganz Irland soweit wie möglich minimiert. Kommt es jedoch zu einem harten Brexit mit erschwerten Handelsbedingungen, Zollschranken und Personenkontrollen an den Grenzübergängen, denn halte ich es für angemessen, den Menschen in Nordirland die Möglichkeit zu geben, darüber abzustimmen, in welcher Union sie leben wollen: im United Kingdom mit Großbritannien ohne den rechtlichen Schutz der europäischen Institution oder in einem United Ireland mit diesem Schutz.

Sinn Féin ist eine republikanische Partei. Unabhängig vom Brexit ist für uns die Wiedervereinigung Irlands stets das oberste Ziel. Wir glauben, daß ein vereinigtes Irland natürlich ist und für die Menschen auf der Insel am meisten Sinn macht - politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Hinzu kommt, daß die demografische Entwicklung in Richtung Wiedervereinigung läuft. Die protestantische Mehrheit, die in den sechs nordöstlichen Grafschaften bei der Trennung von der restlichen Insel 1922 existierte, gibt es praktisch nicht mehr. Das zeigen die letzten Wahlergebnisse sowie die unterschiedlichen Geburtenraten. In den nächsten paar Jahren ist mit einer katholischen Mehrheit zu rechnen, die dann über kurz oder lang ihr Recht nach dem Karfreitagsabkommen auf Wiedervereinigung mit der Republik beanspruchen wird. Der einst von James Craig propagierte "protestantische Staat für ein protestantisches Volk" gehört inzwischen der Vergangenheit an. Politisch betreten wir unbekanntes Terrain mit allen Unwägbarkeiten, die das mit sich bringt. Daher die neu aufgeflammte öffentliche Debatte um die irische Wiedervereinigung, die der Brexit zusätzlich befeuert hat.

Ob wir die Entdeckung unseres Kernthemas durch die anderen politischen Parteien in der Republik bedauern oder uns dadurch gefährdet sehen? Keinesfalls. Je mehr Menschen, gesellschaftliche Gruppen und politische Parteien über die Wiedervereinigung debattieren, um so besser. Wenn führende Vertreter von Fine Gael und Fianna Fáil von einem wiedervereinigten Irland, in welcher Form auch immer, sprechen, ist das Musik in unseren Ohren. Das Ende der Teilung Irlands ist ein legitimes politisches Ziel, und die Zeit für eine große öffentliche Debatte über den besten Weg zu seiner Verwirklichung ist endlich gekommen. Wir von Sinn Féin begrüßen diese Entwicklung. Wir sind der Meinung, daß den Unionisten ein gleichberechtigter Platz in einem vereinigten Irland zusteht. Sie dürfen nicht wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden, wie es jahrzehntelang bei Katholiken in Nordirland der Fall gewesen ist.

SB: Dank des Brexits ist die Debatte um die Wiedervereinigung Irlands voll ausgebrochen - siehe der Einigungsplan von Fianna Fáil oder die jüngste aufsehenerregende Rede des früheren nordirischen Premierministers und einstigen DUP-Chef Peter Robinson an der Queen's University von Belfast. Es herrscht Einigkeit darüber, daß sowohl auf dem Weg zur Wiedervereinigung als auch im Endstadium Zugeständnisse an die rund eine Million zählenden pro-britischen Protestanten in Nordirland gemacht werden müssen. Man fragt sich jedoch, wo diese Zugeständnisse anfangen und wo sie enden. Reicht es bei einer künftigen Volksbefragung im Norden, wenn 50 Prozent der abgegebenen Stimmen plus eine für die Wiedervereinigung votieren, oder soll man auf 60 Prozent plus beharren, um das Einverständnis eines Gutteils der protestantischen Bevölkerung mit den neuen Verhältnissen zu garantieren? Reicht künftig die Beibehaltung der Provinzregierung und des Provinzparlaments in Belfast, oder sollte man vielleicht eine föderale Struktur mit den vier historischen Provinzen Ulster, Munster, Leinster und Connacht als Bundesländer ähnlich dem Plan der IRA "Éire Nua" aus den siebziger Jahren errichten? Diese Variante wäre vielleicht eine Antwort auf das überproportionale Wachstum Dublins auf Kosten der anderen Städte sowie auf das Problem der infrastrukturellen Unterentwicklung im ländlichen Raum. Was meinen Sie?

DC: Wie das wiedervereinigte bzw. neue Irland aussehen soll, darüber hat das irische Volk zu entscheiden und nicht Sinn Féin oder die politischen Parteien. Das Schöne an der Debatte über die Wiedervereinigung ist, daß sich die Menschen auf der Insel darüber austauschen können, was für eine Republik, was für eine Gesellschaft sie haben wollen. Persönlich bin ich der Meinung, daß in einem wiedervereinigten Irland die jeweils besten Aspekte des Nordens und Südens Eingang finden sollen. Die Teilung Irlands hat, wie einst vom Sozialisten und Freiheitshelden James Connolly prognostiziert, auf beiden Seiten der Grenze die konservativen Kräfte gestärkt. Ich würde hoffen, daß sich durch die Wiedervereinigung die progressiven Kräfte auf der ganzen Insel durchsetzen und eine neue, sozial ausgewogenere Gesellschaft errichten.

Was die Frage der 50 Prozent plus eine Stimme oder allgemein der erforderlichen Mehrheit bei einer Volksabstimmung betrifft, um die Teilung aufzuheben, ist der Text des Karfreitagsabkommens unmißverständlich und steht nicht zur Debatte. In dem Dokument heißt es, daß gleichzeitig auf beiden Seiten der Grenze Volksbefragungen über die Wiedervereinigung stattfinden müsen und daß bei beiden eine einfache Mehrheit ausreicht, um die Wiedervereinigung Irlands und die Loslösung des Nordens vom Vereinigten Königreich in Gang zu setzen. Man darf nicht vergessen, daß die Regierung in Dublin und die Nationalisten im Norden 1998 ein ganz großes Zugeständnis an die Unionisten in Nordirland gemacht haben, als sie akzeptierten, daß in der Einigungsfrage zwei Abstimmungen und nicht eine für die ganze Insel durchgeführt werden sollten. Jetzt, wo die Möglichkeit einer Wiedervereinigung besteht, argumentieren manche Kommentatoren und Politiker, die Teilung dürfe erst aufgehoben werden, wenn eine Mehrheit der Protestanten bzw. Unionisten im Norden dafür votiert. Das ist ein unzulässiger Versuch, aufgrund der veränderten Bedingungen und der demographischen Entwicklung die Regeln zu verschieben und als solcher für Sinn Féin vollkommen inakzeptabel. Ich glaube auch nicht, daß sich eine derartige Revidierung des Karfreitagsabkommens durchsetzen wird. Schließlich wäre das undemokratisch. Einfach gesagt, sobald eine Mehrheit der Menschen in Nordirland die Wiedervereinigung mit der Republik wünscht - im Süden stellt praktisch niemand den Wunsch nach einem Ende der Teilung in Frage -, dann soll das geschehen. Sollte bei der Abstimmung im Norden eine Mehrheit gegen die Wiedervereinigung und für den Verbleib im Vereinigten Königreich votieren, dann wird Sinn Féin als demokratische Partei das Ergebnis selbstverständlich akzeptieren.

Bei allen Diskussionen darüber, wie ein wiedervereinigtes Irland aussehen soll, muß der Respekt für die Kultur der protestantischen Unionisten wie zum Beispiel die Rolle des Oranierordens mit seiner Marschsaison in jedem Sommer ganz groß geschrieben werden. Die Unionisten müssen sich in einem neuen Irland akzeptiert und respektiert fühlen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die berühmten Worte des hungerstreikenden Bobby Sands, wonach "unsere Rache das Lachen unserer Kinder" sein werde. Gemeint war ein Ende des Bürgerkrieges in Nordirland, der nicht einfach den Sieg des irischen Nationalismus bei gleichzeitiger Kapitulation der Unionisten beinhalten sollte. Vielmehr bekannte sich Sands mit diesen Worten zu einem Irland, das verspricht, wie es in der Unabhängigkeitserklärung von 1916 heißt, "alle Kinder der Nation auf gleiche Weise zu umsorgen". Die Unionisten sollen also gleichberechtigte Partner bei der Verwirklichung eines neuen Irlands sein, dort in Freiheit ihre Religion praktizieren und ihre Kultur und ihre Bräuche zelebrieren können. Sinn Féin tritt dafür ein, daß in einem vereinigten Irland die Identität und der Rechte aller Menschen, die sich als Briten sehen, respektiert und garantiert werden. Ich denke, daß das die Art von Irland ist, die praktisch alle Menschen auf der Insel haben wollen.


Lebensgroße Statue des Urvaters des irischen Republikanismus - Foto: © 2018 by Schattenblick

Wolf-Tone-Denkmal an Dublins Stephen's Green
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Eine Voraussetzung für Fortschritte in der Frage der Wiedervereinigung wäre es, die politischen Institutionen in Nordirland, die sich seit Anfang 2017 im Dornröschenschlaf befinden, wieder in Gang zu bekommen. In den letzten Wochen hat es Anzeichen einer Annäherung bzw. einer Entspannung zwischen den zerstrittenen Ex-Koalitionären Sinn Féin und DUP gegeben. Als Sinn-Féin-Parteipräsidentin Mary Lou McDonald in Derry gewesen ist, hat sie die von Unionisten bevorzugte Bezeichnung Londonderry in den Mund genommen, während vor zwei Wochen Arlene Foster als erste DUP-Chefin überhaupt ein gälisches Fußballspiel besucht hat und beim Abspielen der irischen Nationalhymne aufgestanden ist. Als Sinn-Féin-Abgeordneter in Dublin sind Sie relativ nahe am Geschehen dran. Daher die Frage: Wie sehen die Chancen einer Wiederauflage der interkonfessionellen Administration in Belfast aus und was muß geschehen, damit der politische Stillstand dort beendet wird?

DC: Es bleibt bei dem, was der frühere Vizepremierminister Nordirlands, Sinn Féins Martin McGuinness, im Januar 2017 nach zehn Jahren Koalition an der Seite zuerst der Ulster Unionist Party wie auch später der DUP erklärt hat, als er die Zusammenarbeit aufkündigte und die Regierung stürzte: Es darf und wird keine Rückkehr zum Status quo geben. Was wir in Nordirland brauchen ist eine echte Koalitionspartnerschaft, deren Basis die Gleichberechtigung und der gegenseitige Respekt sind. Das hat bisher gefehlt. Sinn Féin ist eine Koalition mit den Unionisten eingegangen und hat mehr als zehn Jahre lang jedes Versprechen eingelöst, das wir im Rahmen des Karfreitagsabkommens, des Saint Andrews Agreement, des Stormont House Agreement und des Fresh Start Agreement gegeben haben. Es gibt keine Zusicherung, die von uns nicht erfüllt worden wäre. Bestes Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit mit dem reformierten Police Service of Northern Ireland (PSNI). Wir haben dem ehemaligen Feind stets die Hand der Freundschaft gereicht. Das gleiche kann man jedoch nicht von den Unionisten sagen. Sie mußten zur Bildung einer Koalition mit Sinn Féin praktisch gezwungen werden. Bis heute werden wir von ihnen als ehemalige "Terroristen" behandelt. Die Unionisten haben sich im Laufe der Jahre unter anderem zu einer juristischen Aufarbeitung der "Troubles", zur Gleichberechtigung der gälischen Sprache sowie zur Einführung einer Menschenrechtscharta verpflichtet und wehren sich dennoch bis heute gegen die Umsetzung aller drei Vorhaben mit Händen und Füßen. Das sind Themen, die für Nationalisten wichtig sind, doch sie werden von unionistischer Seite vollkommen mißachtet.

Wie McGuinness kurz vor seinem Tod im Frühjahr 2017 mit Bedauern festgehalten hat, ist eine Koalition, in der nur die eine Seite ihren Verpflichtungen nachkommt, auf Dauer nicht tragbar. Folglich sind Sinn Féin und die DUP Anfang dieses Jahres in Verhandlungen über eine Neuauflage der nordirischen Koalitionsregierung auf der Basis gegenseitigen Respekts eingetreten. Im Februar kam es zum Entwurf, wie die künftige Zusammenarbeit aussehen und wie die bereits erwähnten Themen - gälische Sprache, Aufarbeitung der "Troubles" sowie Menschenrechte, darunter Ehe für alle und Abtreibung - gemeinsam angegangen werden könnten. Die Unterhändler, darunter DUP-Chefin Arlene Foster, hatten sich auf einen für beide Seiten gangbaren Weg geeinigt. Obwohl das Papier die Zustimmung Dublins und Londons sowie Sinn Féins hatte, hat die DUP in der allerletzten Sekunde den Rückzug angetreten und sich geweigert, im Beisein von Leo Varadkar und Theresa May ihre Unterschrift unter das Dokument zu setzen.

Der Grund für die dramatische Entscheidung der DUP ist die Spannung oder vielleicht besser gesagt Spaltung zwischen ihren Abgeordneten im nordirischen Parlament in Belfast und der zehnköpfigen Fraktion der Partei im britischen Unterhaus. Die DUP 10 um Nigel Dodds spielen sich als Hardliner gegenüber den Mitgliedern im Regionalparlament um Parteichefin Foster auf und geben den Ton an. Seit May letztes Jahr bei vorgezogenen Wahlen die konservative Mehrheit im Unterhaus verspielt hat und ihre Regierung deshalb auf die Unterstützung der DUP angewiesen ist, ist der Einfluß von Dodds und Konsorten beiderseits der Irischen See enorm gewachsen und ihnen offenbar zu Kopf gestiegen.

Die DUP-Unterhausfraktion, deren Mitglieder sich unter der Woche in London aufhalten, war an den Verhandlungen mit Sinn Féin nicht beteiligt. Als ihr jedoch das Ergebnis vorgelegt wurde, haben sie und der Oranier-Orden mit der Behauptung die Reißleine gezogen, die DUP komme Sinn Féin zu weit entgegen, ein solcher Kurs wäre der unionistischen Basis nicht zu vermitteln. Der Vorgang erinnert stark an den teuflischen Dauerstreit zum Thema Brexit bei der konservativen Partei. Auch dort treiben die Hardliner, die selbst zu keinem Kompromiß bereit sind, jedoch völliges Entgegenkommen von der EU erwarten, Premierministerin May vor sich her und machen deren Bemühungen um einen Ausweg aus der Krise zum Ding der Unmöglichkeit. Vor diesem Hintergrund gibt es nur eine Option. Wenn Arlene Foster wieder Erste Ministerin Nordirlands werden will, muß sie Führungsstärke beweisen und die Hardliner in der eigenen Partei in ihre Schranken weisen. Ich sehe keinen anderen Ausweg aus der politischen Sackgasse, in der sich Nordirlands Parteien seit eineinhalb Jahren befinden. Wir können nur hoffen, daß von der British-Irish Intergovernmental Conference (BIIG), die zuletzt 2007 getagt hat und Ende Juli wieder stattfindet, Signale der Ermutigung an die Adresse Arlene Fosters ausgehen werden.

SB: Angesichts des scheinbar niemals endenden Streits um die Aufarbeitung der "Troubles" hat vor kurzem Barry McGrory, der einstige Generalstaatsanwalt Nordirlands und frühere Rechtsbeistand des Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams, Zweifel an der Eignung des juristischen Wegs zur Bewältigung der ungeklärten Mordfälle aus der Bürgerkriegsära geäußert, während sich der amtierende britische Verteidigungsminister Gavin Williamson für eine Generalamnestie für Soldaten, Polizisten, IRA-Freiwillige und loyalistische Milizionäre gleichermaßen ausgesprochen hat. Wäre nicht vielleicht eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie man sie in Südafrika nach dem Ende des Apartheid-Systems eingerichtet hat, der geeignete Weg, um die Hinterlassenschaften des nordirischen Bürgerkriegs aufzuarbeiten, ohne dabei die alten Wunden wieder aufzureißen?

DC: Im Verlauf der Verhandlungen von mehreren Abkommen haben sich Dublin, London und die nordirischen Parteien auf einen Wahrheitsfindungsprozeß geeinigt. Für Sinn Féin ist am wichtigsten, daß dieser Prozeß, wie immer er gestaltet wird, die Zustimmung der Verletzten und Traumatisierten der Troubles sowie der Hinterbliebenen der Getöteten genießt. Sie sind die Hauptleidtragenden und ihr Wohlergehen, ihre Suche nach Antworten für das, was ihnen geschehen ist, muß oberste Priorität haben. Wir von Sinn Féin sind dafür, daß der vereinbarte Prozeß endlich in Gang kommt. Zur Aufarbeitung gehört das Ziel, den Betroffenen der früheren Gewalttaten Heilung zukommen zu lassen. Zu diesem Zweck sieht der Prozeß vor, daß sich die am Konflikt aktiv beteiligten Personen und Organisationen ohne Ausnahme zu ihren früheren Aktionen bekennen und Aufklärung leisten.

Es sind damals von allen Seiten Verbrechen begangen worden. Ich glaube, das müssen alle einsehen und nicht mehr so tun, als seien es allein "die anderen" gewesen, die Leid über die Gesellschaft gebracht haben. Als Republikaner müssen wir die Größe aufbringen zuzugeben, daß damals viele Dinge im Namen der republikanischen Sache geschahen, die falsch waren und die niemals hätten geschehen dürfen. Das gleiche muß auch für protestantische Paramilitärs sowie unionistische Politiker, die Spannungen angeheizt haben, und Vertreter des britischen Staats gelten, die viel zu lange eine militärische "Lösung" suchten. Alle müssen sich zu ihrer Verantwortung bekennen. Statt das Rad neu zu erfinden und eine Wahrheitskommission à la Südafrika ins Leben zu rufen, sollten wir den beschlossenen Weg beschreiten und sehen, wie weit wir damit kommen. Ich gehe davon aus, daß es einige Menschen geben wird, deren Leid niemals gelindert oder deren erlittenes Unrecht niemals aufgewogen werden kann. Doch als Politiker müssen wir unser Bestes tun, um soviel Linderung wie möglich zu verschaffen.


David Cullinane an seinem Schreibtisch im Leinster House - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Die Unterstützung, die Dublin im Brexit-Streit mit London von Brüssel erhalten hat, hat denjenigen Kräften in Irland Auftrieb verliehen, die eine engere Bindung ihres Staats an die europäischen Sicherheitsstrukturen befürworten. Mit minimaler Debatte hat vor wenigen Wochen das Parlament in Dublin die Teilnahme der irischen Streitkräfte an der Permanent Structured Cooperation (PESCO) beschlossen, die als "militärisches Schengen" gedacht ist und damit offenbar als Samen einer späteren EU-Armee dienen soll. Während Leute wie der EU-Abgeordnete Brian Hayes von Fine Gael aktiv an der "Umdefinierung" der irischen Neutralität basteln, preschen seit Ende Juni Deutschland, Frankreich und sieben weitere EU-Staaten mit der European Intervention Initiative (EI2) vor. Wie gefährlich schätzt Sinn Féin die von der EU ausgehende Bedrohung für Irlands Neutralität ein und was gedenkt sie dagegen zu unternehmen?

DC: Seit ihrer Gründung bekennt sich die Republik Irland aufgrund der eigenen Geschichte als Kolonie einer fremden Macht zur militärischen Neutralität. Diese Tradition stößt auf breite Zustimmung bei der irischen Bevölkerung und ist inzwischen in deren Identität tief verwurzelt. Die Iren sind stolz auf die wiederholte Teilnahme ihrer Streitkräfte an den verschiedenen Friedensmissionen der Vereinten Nationen - sei es im Kongo oder im Libanon gewesen. Uns bei Sinn Féin erfüllt die Militärisierung der EU und die Schaffung entsprechender Strukturen auf der zwischenstaatlichen Ebene mit großer Sorge. Wir lehnen die Idee eines militärisierten Superstaats EU und alle Bestrebungen in diese Richtung strikt ab. Wir wollen in der EU mehr Demokratie und weniger Militarismus sehen. Wir glauben nicht, daß ein weiterer militärischer Superstaat, angeführt von den ehemaligen europäischen Großmächten, die richtige Antwort Europas auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - Stichwort Klimawandel - sein kann. Die Gelder, die in gigantischem Umfang in die Armeen und die Rüstungsindustrie Europas gesteckt werden, könnte man an anderer Stelle - Umwelt, Bildung, Gesundheit - viel sinnvoller investieren.

Vor dem Hintergrund einer schweren Wohnungsnot, überfüllter Krankenhäuser sowie eines großen Billiglohnsektors in Irland ist die Idee, Dublin sollte seinen Wehretat drastisch erhöhen und sich an Militärabenteuern der Briten, Deutschen und Franzosen in Übersee beteiligen, mehr als abwegig. Sich den neuen Militärstrukturen der EU und damit letztlich der NATO anzunähern stellt eine klare Bedrohung der Neutralität Irlands dar. Der Prozeß der europäischen Integration ist daher etwas, dem Sinn Féin kritisch gegenübersteht, denn ungeachtet aller gegenteiligen Behauptungen läuft er auf die Vereinigten Staaten von Europa mit einer eigenen Armee hinaus. Die USA haben sich jedoch mit dem Militarismus völlig übernommen. Deshalb stecken sie aktuell schwer in der politischen und wirtschaftlichen Krise. Folglich wäre es töricht von der EU, wenn sie nicht aus den Fehlern der USA lernte und einfach deren Fehler wiederholte. Wir brauchen eine EU, die weniger militärisch, weniger bürokratisch, weniger zentralistisch ist. Wir brauchen eine EU, die weltweit Standards in den Bereichen Lebensmittel, Umwelt, Arbeitsschutz, soziale Absicherung et cetera setzt und mit gutem Beispiel vorangeht, statt sich in Hahnenkämpfen mit den USA, Rußland, China und wem auch immer zu verausgaben.

Eine militarisierte EU, die ihren Bürgern Austerität aufzwingt, wird deren Unterstützung nicht erhalten. Die Menschen in Europa wollen eine EU der Nationen, in der soziale Gerechtigkeit, Reisefreiheit und Solidarität herrschen. Sie haben nichts gegen Binnenmarkt und Handelserleichterungen, weil sie sinnvoll sind. Doch sie lehnen im zunehmenden Maße die Verlagerung von Macht von den einzelnen Mitgliedsstaaten an die Brüsseler Institution und die Vorherrschaft der großen Mitgliedsländer wie Frankreich, aber vor allem Deutschland ab. Statt eine stärkere Integration in der EU brauchen wir mehr Demokratie, mehr Entscheidungsfindung auf der nationalen, regionalen und kommunalen Ebene sowie mehr soziale Gerechtigkeit. Nur so ist das europäische Projekt langfristig zu verwirklichen.

SB: Unter ihrer neuen Vorsitzenden Mary Lou McDonald hat Sinn Féin keinen Hehl aus ihrem Wunsch gemacht, sich nach der nächsten Parlamentswahl in der Republik Irland, die bald erwartet wird, an der Regierungsbildung zu beteiligen - scheinbar eventuell als Juniorpartner zusammen mit Fine Gael. Könnte Sinn Féin in einer solchen Konstellation dafür sorgen, daß erstens ihre keynesianische Sozial- und Wirtschaftspolitik umgesetzt wird und sie zweitens nicht zum Schmutzfänger für einen rechtsgerichteten, neoliberalen Seniorpartner, sei es Fine Gael oder Fianna Fáil, gerät? Schließlich ist jede Partei, die in den letzten Legislaturperioden in Irland als Juniorpartner in eine Regierungskoalition eingetreten ist - die Progressive Democrats, die Grünen und die Sozialdemokraten - bei der darauffolgenden Wahl von den Bürgern schwer abgestraft worden und in die absolute Bedeutungslosigkeit abgestürzt.

DC: Wäre das, was Sie gerade beschrieben haben, unsere Strategie, dann hätte Sinn Féin es nicht besser verdient, würde sie nach vier oder fünf Jahren als Juniorpartner einer Regierungskoalition bei der übernächsten Parlamentswahl auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Doch es ist nicht unsere Absicht, für Fine Gael oder Fianna Fáil den Schmutzfänger zu spielen, nur damit sich verdiente Mitglieder der Parteiführung von Sinn Féin einige Jahre lang mit dem einen oder anderen Ministeramt schmücken dürfen. Ich denke, daß das, was Mary Lou McDonald zum Thema der Regierungsbildung nach den nächsten Parlamentswahlen gesagt hat, etwas vielschichtiger als die verkürzte Schilderung in Ihrer Frage ist. Sinn Féin will in Dublin Regierungsgewalt ausüben. Wir geben uns nicht damit zufrieden, immer nur als oppositionelle Abgeordnete die Versäumnisse der amtierenden Minister - sei es in der Frage des sozialen Wohnungsbaus oder der fehlenden Krankenhausbetten - beklagen und anprangern zu müssen. Wir wollen selbst Verantwortung übernehmen und die Probleme, unter denen Irland leidet, anpacken und hoffentlich bessere Arbeit machen als unsere Vorgänger. Um dies machen zu können, müssen wir in die Regierung. Doch nicht nur das. Wir wollen als größte Partei die Regierung führen.

Seit der Gründung dieses Staates 1922 waren es immer Fine Gael oder Fianna Fáil, die entweder allein oder als Seniorpartner in einer Koalition die Regierung in Dublin gestellt haben. Die Monopolisierung der Regierungsmacht durch diese beiden Parteien wollen wir ein für allemal beenden. Dafür müssen wir die Anzahl unserer Abgeordneten im irischen Unterhaus, dem Dáil, von derzeit 23 drastisch erhöhen. Wir müßten sie in etwa verdoppeln, um als Seniorpartner eine Regierungskoalition mit den kleinen linken Parteien sowie den zahlreichen unabhängigen Abgeordneten bilden zu können. Persönlich halte ich das für möglich. Das ist unsere Strategie, und bei der nächsten Wahl werden mit einem entsprechend linken Programm so viele Menschen wie möglich dafür zu gewinnen versuchen. Weder in der Sinn-Féin-Führung noch an der Parteibasis gibt es irgend jemanden, der meint, wir sollten uns nach der nächsten Wahl Fianna Fáil oder Fine Gael als Juniorpartner zur Verfügung stellen. Das will bei Sinn Féin niemand.

SB: Aber nach der Wahl könnte sich eine solche Konstellation rechnerisch aufdrängen.

DC: Das ist wohl wahr. In der Politik, wo es stets um das Mögliche geht, sollte man es tunlichst vermeiden, "niemals" zu sagen und absolutistische Positionen zu beziehen, die den eigenen Handlungspielraum einschränken. Folglich werden wir mit einem attraktiven, sozial ausgewogenen Programm in die Wahl gehen und versuchen, die Zahl unserer Abgeordnetensitze im Dáil ordentlich zu erhöhen. Sollte das gelingen, werden wir selbstverständlich mit den anderen Parteien reden und Möglichkeiten ausloten, wie wir am effektivsten die Elemente unseren Wahlprogramms verwirklichen können. Wenn wir selbst nicht den Seniorpartner in einer Koalition stellen können, so werden wir vielleicht mit anderen progressiven Gruppen und Personen einen Block bilden, um als gleichwertiger Partner eine Regierung mit Fine Gael oder Fianna Fáil bilden zu können.

Persönlich glaube ich nicht an ein Szenario, in dem Sinn Féin einfach als Juniorpartner einer der beiden Parteien zu einer parlamentarischen Mehrheit verhilft. Weder Fianna Fáil noch Fine Gael eignen sich als Partner bei der Schaffung der Art von Irland, die Sinn Féin vorschwebt. Kommt es zu Vorgesprächen über die Regierungsbildung, werden wir die Vertreter von Fine Gael und Fianna Fáil darauf abklopfen, ob sie wirklich bereit sind, ein sozial gerechteres Irland ohne zum Beispiel Obdachlosigkeit und Krankenhausmisere zu schaffen. Können wir mit ihnen ein Regierungsprogramm vereinbaren, das wirklich progressiv, sozial ausgewogen und solidarisch wäre und das Maßnahmen zur Verwirklichung eines wiedervereinigten Irlands beinhaltete, dann würden wir natürlich die Teilnahme an einer Koalition in Erwägung ziehen.

SB: Recht vielen Dank, David Cullinane, für dieses Interview.


Vorderansicht des im edwardianischen Stil gebauten Government Buildings - Foto: © 2018 by Schattenblick

Amtssitz des irischen Premierministers an Dublins Merrion Street
Foto: © 2018 by Schattenblick


21. Juli 2018


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