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INTERVIEW/051: Belfast - Mühselig, doch aufeinander zu ...    Ian Malcolm im Gespräch (SB)


Interview mit dem Journalisten Ian Malcolm am 12. Juli 2018 in Belfast

Nicht nur in London, sondern auch in Belfast hat das Votum der britischen Wähler für den Austritt aus der EU im Juni 2016 eine politische Krise ausgelöst, die bis heute anhält. Im Vorfeld der Abstimmung hatten sich die Koalitionäre der nordirischen Provinzregierung unterschiedlich positioniert. Die katholisch-nationalistische Sinn Féin trat für den Verbleib in der EU ein, um der Möglichkeit einer Wiedervereinigung Irlands den Weg nicht zu versperren, während sich die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) mit dem rechten Flügel der konservativen Partei Großbritanniens verbündete und Stimmung für den Brexit machte. Bei der Volksbefragung hat die Mehrheit der Wähler in England und Wales für, in Schottland und Nordirland gegen den Brexit gestimmt.

Der Ausgang des Votums und vor allem wie die DUP ohne jede Rücksicht auf die nationalistische Gemeinde mutwillig den nordirischen Friedensprozeß aufs Spiel gesetzt hatte, um ihr Britischsein zu unterstreichen, führten zum Kollaps der nordirischen Provinzregierung im Januar 2017. Unter Verweis auf die jahrelange Blockadehaltung der DUP in Fragen einer gesetzlichen Aufwertung der gälischen Sprache, der Ehe für alle und der Abtreibung trat Sinn Féin von der großen Koalition zurück. Seitdem tagt das Parlament im Belfaster Stadtteil Stormont nicht mehr. Nordirland wird von lokalen Staatsbeamten unter der Leitung der britischen Nordirlandministerin Karen Bradley administriert.


Ian Malcolm und drei schwerbewaffnete PSNI-Beamte stehen vor einem gepanzerten Range Rover - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ian Malcolm bittet die nordirische Polizei um Durchlaß
Foto: © 2018 by Schattenblick

Das politische Vakuum läßt die Spannungen in der einstigen Unruheprovinz gefährlich ansteigen. Der Police Service of Northern Ireland (PSNI) stellt seit Monaten verstärkte Aktivitäten bei den protestantisch-loyalistischen Paramilitärs sowie bei den katholischen IRA-Dissidenten fest. Es stand zu befürchten, daß die diesjährige Marschsaison des Oranierordens heftige Krawalle mit sich bringen könnte. Glücklicherweise blieb die Lage - bis auf nächtliche Unruhen in Derry - vergleichsweise ruhig. Jedes Jahr feiern die Oranier am 12. Juli den Sieg des Wilhelm von Oranien über König Jakob II. aus dem schottischen Hause der Stuarts bei der Schlacht am Boyne 1690 in Irland. Damit wurde der Niederländer zum König von Großbritannien und Irland und dort die Herrschaft der Protestanten über die Katholiken besiegelt - was als "Glorreiche Revolution" in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Als Anfang des 20. Jahrhunderts das mehrheitlich katholische Irland nach Autonomie innerhalb des British Empire strebte, probten die Protestanten dort, angeführt vom Oranierorden und mit Duldung der britischen Generalität, den Aufstand. Als nach dem Ersten Weltkrieg und dem irischen Unabhängigkeitskrieg (1919-1921) Irland den Status eines Freistaats erhielt, blieb Nordirland davon ausgespart. Sechs der neun Grafschaften der nördlichen Provinz Ulster wurden vom Süden abgetrennt. Nach den Worten des damaligen Anführers der Ulster Unionisten James Craig, seinerseits ranghoher Logenbruder des Oranierordens, wurde "ein protestantischer Staat für ein protestantisches Volk" geschaffen. Die Diskriminierung und Benachteiligung der katholischen Minderheit in diesem Duodezstaat legte jedoch die Lunte für den Bürgerkrieg, der 1968 ausbrach, bis 1998 dauerte und 3500 Menschen das Leben kostete.

Die meisten Menschen in der Republik Irland und die Nationalisten in Nordirland betrachten den Oranierorden als eine rassistiche Organisation ähnlich dem Klu Klux Klan in den USA. Seit Jahrzehnten gibt es Streit, weil die Oranier im Sommer entlang ihrer traditionellen Routen marschieren wollen, die inzwischen teilweise durch katholische Gegenden führen, deren Anwohner dagegen Einspruch erheben. Um solche Dispute zu schlichten und das Konfliktpotential zu reduzieren, wurde im Rahmen des Karfreitagsabkommens die Parades Commission geschaffen. Die Oranier wiederum fühlen sich in der Inanspruchnahme ihres Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit eingeschränkt.


Weibliche Oranier in blauen T-Shirts und weißen Röcken tragen ebenfalls die obligatorische Ordensschärpe - Foto: © 2018 by Schattenblick

Oranierinnen defilieren an der katholischen Sankt-Patricks-Kirche vorbei
Foto: © 2018 by Schattenblick

Der nordirische Kulturkampf hat sich dahingehend entwickelt, daß vor allem am Vorabend des 12. Juli, also am 11. Juli, loyalistische Jugendliche riesige Holzstapel errichten und abfackeln. Die bis zu sechs Meter hohen, meist illegalen Bauten werden von den Behörden geduldet, obwohl sie häufig mit irischen Fahnen, Statuen der Jungfrau Maria, Bildern vom Papst oder Gerry Adams von Sinn Féin geschmückt werden. Häufig muß die Feuerwehr anrücken, weil die Feuerplätze zu nahe an Gebäuden errichtet wurden und die Flammen überzuspringen drohen. Beim Löschen des Feuers werden Polizisten und Feuerwehrleute häufig von betrunkenen Hooligans mit Steinen, Flaschen und Bierdosen beworfen.

Um das Phänomen der Marschsaison der Oranier in Nordirland - schließlich sind die Feierlichkeiten um den "Glorious Twelfth" das größte alljährliche kulturelle Ereignis in Irland - besser verstehen zu können, hat sich der Schattenblick in diesem Sommer nach Belfast begeben. Dort trafen wir den Journalisten Ian Malcolm, der sich an diesem Tag als Stadtführer betätigte und anschließend für ein Interview zur Verfügung stellte. Obwohl selbst Protestant und bekennender Unionist, ist Malcolm ein glühender Verfechter der gälischen Sprache, die er als Teil sowohl seines britischen als auch seines irischen Erbes versteht. Der begeisterte Hobbymusiker tritt häufig als politischer Analytiker beim staatlichen irischen Sender Raidió na Gaeltachta auf und hat eine eigene wöchentliche Sendung beim Belfaster Lokalsender Raidió Fáilte. An dieser Stelle möchte sich der Schattenblick ganz herzlich bei Malcolm für die Mühe bedanken, mit der er ihn an diesem Tag durch Belfast lotste und ihm dabei einen tiefen Einblick in die Oranier-Kultur ermöglichte.


Kapelle mit Trommeln im Gleichschritt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Unübersehbar der Hang zum Militärischen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick: Nach dem Ende des nordirischen Bürgerkrieges 1998 gab es große Hoffnungen, die Marschsaison der Oranier, vor allem ihr wichtigster Feiertag, der 12. Juli, könnte zu einem großen Volksfest werden, an dem Katholiken und Protestanten gemeinsam teilnehmen. "Orangefest" sollte zum internationalen Touristenmagneten und Aushängeschild einer gelungenen Versöhnung werden. Zwanzig Jahre später haben sich die Hoffnungen immer noch nicht erfüllt. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür?

Ian Malcolm: Nun, ich denke, das liegt am Oranierorden - aber nicht nur. Der Oranierorden ist eine große, alte Organisation. Folglich ist er Veränderung oder Reformen gegenüber ziemlich resistent. Das heißt aber nicht, daß es nicht innerhalb des Ordens auch progressive Strömungen gibt. Die sind da, doch leider sind es die konservativen Kräfte, die den Ton angeben und die Institution nach außen hin repräsentieren. Was "Orangefest" betrifft, so halte ich es für eine wunderbare Idee. Sie haben heute selbst den "Glorious Twelfth" in Belfast erlebt. Für mich war es ebenfalls aufschlußreich. Normalerweise wohne ich am 12. Juli dem Oraniermarsch in Armagh bei. An diesem Tag bin ich niemals zuvor in Belfast gewesen. Mich hat der Umzug mit seiner Größe, Farbenpracht und Vielfalt der vielen verschiedenen Gruppen und Musikkapellen schwer beeindruckt.

Gleichwohl haben wir beide einige der problematischen Aspekte mitansehen können, die mit dem Oraniermarsch einhergehen. Wir waren an der Saint Patrick's Church in der Donegall Street, der bedeutendsten katholischen Kirche in Belfast, vor der es den Oraniermarschierern ausdrücklich verboten ist, Musik zu spielen. 2012 sind die Young Conway Volunteers bei einer Pause während des Marsches vor dem Eingang von Saint Patrick's im Kreis gelaufen und haben dabei den "Famine Song" mit ihren Pfeifeninstrumenten gespielt. Das Lied basiert auf der Melodie von "Sloop John B." von den Beach Boys.


Zwei Oranier, der eine in Hemd und Schärpe, der andere in Paradeuniform samt Bärenhut - Foto: © 2018 by Schattenblick

Freundliche Mitglieder der Oranierloge 513 stellen sich für ein Foto zur Verfügung
Foto: © 2018 by Schattenblick

Vor Jahren haben die Fans des schottischen, hauptsächlich von Protestanten unterstützten Fußballvereins Glasgow Rangers das Lied umgemünzt, um die gegnerischen Fans von Celtic Glasgow, dem Verein der irisch-katholischen Einwanderer, zu verhöhnen. Im Text dieser zweiten Version heißt es, die Kartoffelplage von Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland sei lange vorbei, also "why don't you go home". Das heißt, die Nachfahren der Iren, die im 19. Jahrhundert vor wirtschaftlicher Misere oder wegen Hungersnot nach Schottland auswanderten, sollten nach Irland zurückgehen. Der "Famine Song" ist wegen seiner rassistischen Botschaft bei Spielen der ersten schottischen Fußballiga, insbesondere bei Derbys zwischen Rangers und Celtic, ausdrücklich verboten.

Längst hat das Lied Eingang in das Repertoir vieler Kapellen des Oranierordens sowie loyalistischer Gruppen gefunden. Wegen des Vorfalls vor dem Saint Patrick's vor sechs Jahren landeten dreizehn Mitglieder der Young Conway Volunteers, die aus der loyalistischen Hochburg Shankill Road im ansonsten überwiegend von Katholiken bewohnten Westbelfast kommen, vor Gericht. In erster Instanz wurden sie schuldig gesprochen, mit der Nummer sektiererischen Haß geschürt zu haben, später jedoch in der Revision freigesprochen. Jedenfalls darf seit diesem Vorfall auf Anweisung der staatlichen Parades Commission, die zwischen Marschierern und Anwohnern der verschiedenen Routen vermitteln soll, keine protestantische, oranische, loyalistische Kapelle mehr Musik vor Saint Patrick's spielen. Lediglich der Marschtakt darf von einem Trommler pro Kapelle vorgegeben werden. Die Einhaltung der Vorschrift wird von der Polizei strengstens kontrolliert.

Als Hobbymusiker finde ich die Kontroverse um das Lied sehr bedauerlich, denn die Melodie ist wunderschön und die ursprüngliche Version von den Beach Boys auch. Gelegentlich spiele ich das Lied auf dem Banjo, jedoch natürlich nicht mit dem Text vom "Famine Song". Jedenfalls zeigt die Kontroverse exemplarisch, vor welchen Herausforderungen der Oranierorden beim Versuch steht, seine Umzüge akzeptabel bzw. nicht bedrohlich für Nicht-Protestanten zu machen. Seitens des Oranierordens gibt es schon Bemühungen in diese Richtung, die jedoch bisher ungenügend gewesen sind. Die Oranier sind noch weit davon entfernt, daß alle Menschen in Nordirland den 12. Juli gemeinsam feiern können. Das hängt natürlich mit dem Wesen des Oranierordens zusammen, dessen Mitgliedschaft ausschließlich Protestanten vorbehalten ist - ähnlich wie nur Katholiken dem Ancient Order of Hibernians (AOH) beitreten dürfen. Viele Aspekte des Ordenswesens in Nordirland haben tiefe historische Wurzeln. Die Probleme lassen sich daher nicht so leicht beheben. Meiner Meinung nach wäre der Oranierorden gut beraten, wenn er zum Thema 12. Juli die Aspekte Musik, Geschichte und Tradition in den Vordergrund stellte.


Zwei kleine Jungs und ein Mädchen tragen Schärpen und marschieren stolz mit - Foto: © 2018 by Schattenblick

Auch Kinder dürfen beim großen Marsch mitmachen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Eines der größten Probleme in Verbindung mit "dem Zwölften" waren in der Vergangenheit Personen, die den Feiertag zum Anlaß nahmen, sich volllaufen zu lassen, sich dann nicht mehr unter Kontrolle hatten und teilweise Ärger verursacht haben. Deswegen hat vor wenigen Jahren der Oranierorden eine Anti-Sauf-Kampagne unter dem witzigen Motto "It's the battle, not the bottle!" gestartet. Also sollte die Schlacht am Boyne wieder im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stehen und nicht vom übermäßigen Konsum der Produkte von Brauereien wie Tennent's, Stella Artois, Kronenbourg oder Heineken überschattet werden. Nach allem, was ich mitbekommen habe, war die Kampagne recht erfolgreich. Die Trunkenheit ist sichtbar zurückgegangen und damit die Atmosphäre insgesamt entspannter geworden.

SB: Anläßlich der diesjährigen Feierlichkeiten zum 12. Juli hat die Führung des Oranierordens ihre absolute Ablehnung der Forderung von Sinn Féin nach Gleichstellung der gälischen Sprache in Nordirland ähnlich dem Status der schottisch-gälischen in Schottland und der walisischen in Wales besonders hervorgehoben. Woher rührt die tiefe Antipathie der Oranier gegenüber dem Gälischen und was können die nordirischen Nationalisten bzw. diejenigen, die für das Überleben der irischen Sprache kämpfen, tun, um den Disput vielleicht zu entschärfen?


Oranier aus Schottland in ihren traditionellen Kostümen mit vielen Flaggen und Bannern - Foto: © 2018 by Schattenblick

Die Protestant Boys aus Glasgow präsentieren sich stolz
Foto: © 2018 by Schattenblick

IM: Ich denke, man muß versuchen, das negative Ansehen der gälischen Sprache nicht allein beim Oranierorden, sondern bei den Protestanten in Nordirland insgesamt zu verstehen. Die Unionisten im allgemeinen und die DUP im besonderen haben es sich in den Kopf gesetzt, eine Gleichstellung der gälischen Sprache mit der englischen in Nordirland nicht zuzulassen. Ein solches Zugeständnis käme für sie einer Herabsetzung der englischen Sprache und damit der britischen Kultur, so wie sie sie verstehen, gleich. Deswegen blockieren sie bislang konsequent alle Bemühungen Sinn Féins, den Irish Language Act (ILA) durch das Regionalparlament zu bringen.

Als Protestant, der die Oraniertraditionen schätzt, und gleichzeitig stolzer Gälischsprecher und -lehrer, stehe ich mit einem Bein in beiden Lagern. Mir macht der Spagat keine Probleme. Es sind andere Leute, die ihn seltsam finden oder daran Anstoß nehmen. Was das protestantische Nein zum Irish Language Act betrifft, so meine ich, daß es die unionistischen Politiker sind, die den kompromißlosen Kurs vorgegeben haben, während der Oranierorden dem folgt - und nicht umgekehrt. Es gab in der Vergangenheit namhafte Führungspersönlichkeiten beim Oranierorden, die sehr wohl des Gälischen mächtig waren und in der irischen Sprache kein kulturelles Bollwerk der katholisch-nationalistischen Seite sahen. Hierzu gehörte Edward Carson, der Mitbegründer der Ulster Volunteers, dessen Ablehnung von Home Rule für Irland in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg schließlich zur Spaltung der Insel und der Gründung Nordirlands führte.


Schottische Logenbrüder in dunkelblauen Paradeuniformen vor der roten Backstein-Kulisse der St.-Patricks-Kirche - Foto: © 2018 by Schattenblick

Die Glasgower Oranier pausieren vor Saint Patrick's Church
Foto: © 2018 by Schattenblick

Nicht wenige der älteren Logen des Oranierordens haben ein Motto, sichtbar auf ihren Fahnen und Bannern, das auf Gälisch verfaßt ist. Weniger hier in Belfast, sondern eher auf dem Land sind solche Banner am 12. Juli zu sehen. Es gibt innerhalb des Ordens noch heute eine kleine Minderheit, die entweder Gälisch sprechen kann oder zumindest diesen Teil des geschichtlichen Erbes nicht bestreitet. Mitte des vergangenen Jahrhunderts gab es sogar eine Oranier-Loge, deren Motto "Oidhreacht na hÉireann" ("Irlands Erbe") hieß. Sie wurde jedoch irgendwann Anfang der achtziger Jahre abgewickelt, nachdem ihr prominentestes Mitglied, William McGrath, im Rahmen des Kincora-Skandals um das gleichnamige Belfaster Jugendheim als Serienpäderast entlarvt wurde.

SB: War William McGrath des Gälischen mächtig?

IM: Das weiß ich nicht. Immerhin trug die geheimnisvolle Untergrundzelle, die er in den sechziger Jahre im Kampf gegen die aus seiner Sicht kommunistisch-katholische Weltverschwörung gründete, den gälischen Namen des berühmten Sitzes der irischen Könige Tara.

SB: Im vergangenen Februar haben sich die Unterhändler von Sinn Féin und der DUP auf eine Vereinbarung verständigt, welche eine Wiederaufnahme der nordirischen parlamentarischen Arbeit und eine Neuauflage der früheren interkonfessionellen Koalitionsregierung ermöglichen sollte. Doch laut Medienberichten haben sich die zehnköpfige DUP-Fraktion im britischen Unterhaus, deren Stimmen das Überleben der konservativen Minderheitsregierung von Premierministerin Theresa May sichern, und die Führung des Oranierordens gegen die Vereinbarung ausgesprochen. Worauf ist der anhaltende politische Einfluß des Oranierordens im protestantischen Lager Nordirlands zurückzuführen und inwieweit ist der Einfluß einer freimaurerischen, anti-katholischen Institution mit der Demokratie in Nordirland sowie dem Karfreitagsabkommen von 1998 vereinbar?


Oranierkapelle in Reih und Glied aus der Vorderansicht - Foto: © 2018 by Schattenblick

Oraniermarschierer aus Ardrossan im schottischen Ayrshire
Foto: © 2018 by Schattenblick

IM: Gemäß der modernen Politsprache könnte man das, was der Oranierorden betreibt, schlicht als Lobbyismus bezeichnen. Der findet bekanntlich auf jeder gesellschaftlichen Ebene statt. Jede Gruppe, die etwas auf sich hält und ihre Interessen vorantreiben oder verteidigen will, muß sich des Mittels der Lobbyarbeit bedienen. Von daher sehe ich keinen qualitativen Unterschied zwischen den Aktivitäten der orangenen Lobbys und denjenigen beispielsweise der Umweltschützer. Ob auf der kommunalen oder der parlamentarischen Ebene im Stormont, dem Sitz der nordirischen Administration, oder im Londoner Regierungsviertel Westminster tragen die Vertreter der verschiedenen Interessensverbände ihre Anliegen vor und versuchen politische Unterstützung dafür zu gewinnen. Im Gegenzug versprechen sie, die Politiker öffentlich zu unterstützen, ihnen eine gute Presse zu verschaffen und Stimmung für sie bei der nächsten Wahl zu machen.

Als Unionist finde ich die Lobbyarbeit des Oranierordens gegen die gesetzliche Gleichstellung der gälischen Sprache in Nordirland höchst bedauerlich, denn das Argument, dadurch käme es zur Herabsetzung der britischen Kultur in Nordirland und zur Schwächung der Union mit dem Vereinigten Königreich, ist meines Erachtens nicht überzeugend, sondern eher kontraproduktiv.

SB: Wenige Tage vor der Abhaltung des Referendums in der Republik Irland im vergangenen Mai über die Abschaffung des 8. Verfassungszusatzes, um den Weg für die Verabschiedung eines Abtreibungsgesetzes freizumachen, hat der Oranierorden, der zwar im Norden stark vertreten, jedoch bis heute gesamtirisch organisiert ist, die Stimmberechtigten aufgerufen, dagegen mit Nein zu votieren (Bei der Abstimmung hat letztlich eine Zweidrittelmehrheit für das Recht der Frau auf Abtreibung votiert). In der Regel stehen nicht nur in Irland sondern in der ganzen westlichen Welt Protestanten dem Argument für ein Recht auf Abtreibung aufgeschlossener als Katholiken gegenüber. Mit seiner Intervention in der Abtreibungsdebatte in der Republik Irland hat der Oranierorden oder zumindest seine Führung gezeigt, daß er bzw. sie nicht die Meinung der meisten Protestanten, sondern des rechtskonservativen Randes der evangelischen Gemeinde vertritt. Können Sie uns das bitte erklären?


Die traditionelle Darstellung von Wilhelm von Oranien auf einem Schimmel am Ufer des Flusses Boyne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Banner der Oranierloge 839, auch Duke of Manchester's Invincibles genannt, samt King Billy hoch zu Roß
Foto: © 2018 by Schattenblick

IM: Nun, die Abtreibungsdebatte im Vorfeld der Volksbefragung wurde bekanntlich sehr lebhaft geführt. Es entstand auch innerhalb der Gaelic Athletics Association (GAA), des größten irischen Sportverbands, der landauf, landab gälischen Fußball und Hurling fördert, eine Gruppe Prominenter, die sich für den Erhalt von Artikel 8 und das Abtreibungsverbot stark machten.

SB: Das stimmt, nur daß es sich bei der GAA um eine kleine Gruppe innerhalb einer großen Organisation und nicht um die Führung handelte, wie es beim Oranierorden der Fall gewesen ist.

IM: Ich denke, die Führungsriege des Oranierordens hängt einem bestimmten Weltbild nach, das recht konservativ, religiös eng und patriarchialisch geprägt ist und damit für die meisten Mitglieder nicht repräsentativ sein dürfte. Bei großen Institutionen wie dem Oranierorden ist es nicht immer einfach, nach außen hin allen Strömungen die ihnen zustehende Geltung zu verschaffen. Hinzu kommt, daß der Oranierorden mit seinem freimaurerischen Graduierungssystem streng hierarchisch organisiert ist. Seine Struktur läßt einen starken Einfluß von Basisgruppen - wie wir das gerade in den letzten Jahren mit der Gruppe Momentum und ihren Hunderttausenden von Mitgliedern bei der britischen Labour Party unter der Führung von Jeremy Corbyn erleben konnten - gar nicht erst zu. Die langjährigen Logenbrüder mit der höchsten Graduierung haben beim Oranierorden das Sagen. Sie bestimmen, wo es langgeht. Deswegen nehmen viele einfache Oranier gar nicht zur Kenntnis oder beachten nicht, was die Führung sagt. Bei der großen Festveranstaltung am Nachmittag des 12. Juli zum Beispiel begeben sich die wenigsten Ordensbrüder zur aufgebauten Bühne im Freien, um den politischen Reden der Führung beizuwohnen, sondern die meisten eilen gleich in die Bierzelte und an irgendwelche Stände, um zu essen, zu trinken und sich mit den Freunden zu amüsieren. Also ist das, was die Ordensführung von sich gibt, nicht immer deckungsgleich mit den Ansichten der einfachen Mitglieder.


Wunderschönes Konterfei von King Billy samt des Schlachtrufs 'Let ambition fire thy mind' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Wandmalerei zu Ehren von Wilhelm von Oranien im Belfaster Sandy Row, einer Hochburg der paramilitärischen Ulster Defence Association (UDA)
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Seit dem Sieg der Abtreibungsbefürworter in der Republik Irland mehren sich Stimmen, die eine ähnliche Gesetzesreform in Nordirland fordern. Schließlich ist Nordirland der einzige Teil des Vereinigten Königreichs, in dem Frauen legal keinen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen können. Daraufhin sind innerhalb der DUP Überlegungen laut geworden, denenzufolge sich die größte unionistische Partei angesichts des linksliberalen Eintritts Sinn Féins für das Recht auf Abtreibung um die Gunst verprellter, konservativer Wähler auf der katholischen Seite des konfessionellen Grabens bemühen sollte. Gleichzeitig meinen wiederum andere Kommentatoren, angesichts des gesellschaftlichen Wandels und des demographischen Vormarsches der Katholiken müsse sich die DUP selbst programmatisch liberalisieren, um sich vor allem für jüngere Wähler attraktiver zu machen, denn das sei der einzige Weg, langfristig die Union mit Großbritannien zu retten. Was meinen Sie, für welchen der beiden Kurse sich die DUP entscheiden wird?

IM: Ich bin nicht besonders gut im Gedankenlesen. Ich stehe auch nicht in direkter Verbindung mit DUP-Chefin Arlene Foster oder Nigel Dodds, dem Vorsitzenden der DUP-Fraktion im britischen Unterhaus. Die DUP sieht sich mit einer schweren Aufgabe konfrontiert. Einerseits will sie ihre eigene protestantisch-konservative Wählerschaft erhalten, gleichzeitig muß sie versuchen, sich für jüngere, liberale Wähler, darunter Katholiken, attraktiver zu machen, um die Position als stärkste Partei Nordirlands nicht irgendwann an Sinn Féin zu verlieren. Angesichts der demographischen Entwicklung wird es in Nordirland innerhalb der nächsten fünf Jahre eine katholische Mehrheit geben. Lange Zeit wollten die Unionisten dieses Szenario nicht wahrhaben. Inzwischen können sie es nicht mehr ignorieren und versuchen verzweifelt, nun eine Antwort darauf zu formulieren.

Gleichwohl muß man anmerken, daß der demographische Vormarsch der Katholiken in Nordirland samt angeblich unvermeidbarer Wiedervereinigung mit dem Süden nicht so eine ausgemachte Sache ist, wie viele Nationalisten es annehmen. Allmählich sinkt die Geburtenrate bei den Katholiken auf das niedrigere Niveau der Protestanten herab. Auch wenn demnächst Nordirland seine protestantische Mehrheit verliert, wird der evangelische Bevölkerungsanteil lange Zeit fast gleichauf mit dem der Katholiken bleiben. Wiederum bedeutet eine katholische Bevölkerungsmehrheit nicht automatisch den Anschluß Nordirlands an die Republik. Es gibt nicht wenige Katholiken, welche die Vorzüge der Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich schätzen - bestes Beispiel das staatliche Gesundheitssystem NHS - und sie deshalb nicht missen wollen.


Abgesperrter Parkplatz übersät von leeren Bierflaschen und -dosen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Rauchende Überreste eines Feuers im Herzen von Belfast
Foto: © 2018 by Schattenblick

Die DUP hat meines Erachtens einen schweren Fehler begangen, als sie vor einigen Jahren nicht auf den Rat ihres damaligen Vorsitzenden Peter Robinson hörte, die Partei für katholische Nationalisten attraktiver zu machen, damit sie sich in Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs fühlten und nicht mehr nach Wiedervereinigung mit der Republik sehnten. Die DUP hat genau das Gegenteil gemacht, indem sie die gälische Sprache verteufelte und eine extrem ablehnende Position gegenüber der Ehe für alle und Abtreibung bezog.

Inzwischen macht sich aber ein Umdenken bei der DUP bemerkbar. In den letzten Monaten hat Parteichefin Foster Gespräche mit den Gemeinden der Gälischsprecher, der Muslime sowie der Homosexuellen und Lesben Nordirlands geführt und entsprechende Gruppen besucht. Die Charmeoffensive nenne ich scherzhaft "Operation Arlene". Vor wenigen Wochen hat Foster in Begleitung von Vertretern von Sinn Féin und der Regierung in Dublin als erste DUP-Vorsitzende überhaupt ein gälisches Fußballspiel in der Republik Irland besucht, bei dem die Mannschaft ihrer Heimatprovinz Fermanagh gegen Donegal antrat. Sie wurde dabei begeistert aufgenommen und hatte sichtbaren Spaß. Das war eine tolle Aktion, die, wenn auch nur symbolisch, sehr wohl zur Verständigung und zum Abbau des Mißtrauens zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland beitragen kann.

Vor kurzem hat die neue Sinn-Féin-Präsidentin Mary Lou McDonald, die aus Dublin stammt und im Vergleich zum Vorgänger Gerry Adams durch keine IRA-Vergangenheit belastet ist, ihre Bereitschaft erklärt, die Feierlichkeiten zum 12. Juli zu besuchen, bekäme sie vom Oranierorden dazu eine Einladung. Das wäre eine großartige Sache. In Reaktion auf die Aussage McDonalds hat der Oranierorden abgewunken und auf die 300 Logenbrüder, die während der Troubles infolge von Aktionen der IRA ums Leben gekommen sind, verwiesen. Auch wenn es dieses Jahr nicht geklappt hat, so gehe ich davon aus, daß der Besuch eines Sinn-Féin-Präsidenten beim "Twelfth" nur eine Frage der Zeit ist.

Ich denke, die Unionisten und die Oranier sind am Zug, ihre bisher minimalen Anstrengungen, den konfessionellen Graben zu überwinden und dem früheren Feind die Hand des Friedens zu reichen, endlich zu verstärken. Wenn Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs überleben soll, dann geht das nur, wenn sich die Katholiken dort willkommen und akzeptiert fühlen. Ob sie es tun, hängt letztendlich vom Verhalten der Protestanten ab.

Man darf auch nicht vergessen, daß die Gesellschaft in Nordirland wie im restlichen Europa zunehmend vom Säkularismus geprägt wird. Die Menschen, ob nun Katholiken oder Protestanten, haben im Vergleich zu früher viel weniger mit der Kirche am Hut und identifizieren sich immer weniger über die Religion bzw. die Konfession. Dieser Bedeutungsverlust der Religion bietet den politischen Parteien in der Provinz die Gelegenheit, sich für Wähler und Mitglieder der jeweils anderen Konfession zu öffnen und sich nicht mehr so stark wie bisher ideologisch auf die konfessionelle Verbindung zu fixieren.


Banner zu Ehren der Tausenden von Ulster Volunteers, die an der Somme ihr Leben verloren - Foto: © 2018 by Schattenblick

Belfaster Oranier gedenken der Schlacht an der Somme 1916
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Nach dem Rücktritt des britischen Außenministers Boris Johnson und des Brexit-Ministers David Davis vor wenigen Tagen scheint sich die Brexit-Krise in London etwas abgeschwächt zu haben. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Chancen, daß die interkonfessionelle Regierung von Sinn Féin und DUP bald ihre Arbeit wieder aufnimmt? Noch im Februar standen beide Parteien kurz vor einer Kompromißlösung.

IM: Auch wenn Premierministerin Theresa May beim Treffen am vergangenen Wochenende auf ihrem Landsitz Chequers ihre Kabinettsmitglieder endlich auf einen einheitlichen Kurs in den Brexit-Verhandlungen mit der EU gebracht hat, glaube ich leider nicht, daß wir damit das Schlimmste hinter uns haben. Nur weil Johnson und Davis zurückgetreten sind, heißt das noch lange nicht, daß die Verfechter eines harten Brexits das Handtuch geworfen haben. Im Gegenteil. Der Krieg innerhalb der konservativen Partei wird weitertoben. Johnson, dessen unverhohlene Ambitionen auf das Amt des Premierministers offenkundig sind, wird seine Position als Hinterbänkler nutzen, um noch schärfer als bisher gegen May zu intrigieren. Nach der parlamentarischen Sommerpause könnte May von den eigenen Abgeordneten im Unterhaus weggeputscht werden. Ein Kollaps der May-Regierung und Neuwahlen sind jederzeit möglich. Die Labour-Partei, angeführt von Linksaußen Corbyn, könnte die Wahl gewinnen. London ist zum politischen Tollhaus geworden. Niemand weiß, wie es dort weitergehen soll, während mit jedem Tag das Datum des EU-Austritts am 29. März 2019 näher rückt.

Ein Ende des politischen Stillstands in Belfast wird es erst geben, wenn sich Sinn Féin und DUP dazu durchringen. Theresa May hat mit dem Brexit und dem internen Machtkampf bei den britischen Konservativen alle Hände voll zu tun. Von ihr sind keine Impulse zur Beilegung der politischen Krise in Belfast zu erwarten. Die neue Nordirland-Ministerin Karen Bradley ist seit ihrer Ernennung im vergangenen Januar kaum in Erscheinung getreten. Und selbst wohlmeinende Reden oder Ermutigungen des irischen Premierministers Leo Varadkar oder seines Außenministers Simon Coveney werden den Durchbruch nicht herbeiführen. Der muß von den nordirischen Parteien selbst kommen. Das sage ich auch als jemand, der sich eine konstruktive Zusammenarbeit von DUP und Sinn Féin und dadurch ein Gelingen der politischen Institutionen in Nordirland wünscht.

Inzwischen sind schon vorsichtige positive Signale aus beiden Parteien zu vernehmen. Parallel zur "Operation Arlene" gibt sich auch Sinn Féin gegenüber den protestantischen Unionisten zunehmend versöhnlich. Kurz nach der Wahl zur neuen Sinn-Féin-Präsidentin war Mary Lou McDonald in Derry und hat von der Stadt als "Derry oder auch Londonderry" gesprochen. Aus dem Munde der Anführerin der republikanischen Bewegung wäre früher die Verwendung des Namens Londonderry für die Stadt an der Foyle absolut undenkbar gewesen. Auch wenn McDonald den Begriff ausdrücklich unter Verweis auf das Selbstverständnis der protestantischen Bevölkerung der Stadt benutzt hat, so war es auch ein mutiger Schritt, der von den Unionisten in ganz Nordirland wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde.

Etwas, das ich sehr positiv finde und von dem ich weiß, daß viele Protestanten in Nordirland das genauso sehen und empfinden, ist der Respekt und die Freundlichkeit, mit denen Mitglieder des britischen Königshauses inzwischen bei Besuchen in der Republik aufgenommen werden. Als Thronfolger Prince Charles und seine Gemahlin Camilla, die Herzogin von Cornwall, vor wenigen Wochen Ferien in Cork und Kerry machten, kamen sie unter anderem mit Mary Lou McDonald und Michelle O'Neill, der Anführerin von Sinn Féin in Nordirland, zusammen. Von keiner der beiden Seiten waren irgendwelche Berührungsängste zu beobachten. Das Verhältnis war total entspannt. Solche Begegnungen können sich nach meinem Dafürhalten nur positiv auf das Zusammenleben der Menschen in Nordirland sowie auf die Beziehungen zwischen Irland und Großbritannien insgesamt auswirken.

SB: Seit die Volksbefragung im Vereinigten Königreich über den Austritt aus der EU mehrheitlich mit Ja beantwortet wurde - in Nordirland und Schottland votierten die meisten Wähler bekanntlich mit Nein - steht in Irland die Frage der Wiedervereinigung auf der Tagesordnung. Schließlich sieht das Karfreitagsabkommen von 1998 ausdrücklich die Möglichkeit einer Volksbefragung in Nordirland über die Abschaffung der Grenze - eine sogenannte "border poll" - vor, sobald der zuständige Minister in London der Ansicht ist, daß sich eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung die Wiedervereinigung mit der Republik wünscht. Was müßte die Regierung in Dublin unternehmen, um den protestantischen Unionisten ein vereinigtes Irland schmackhaft zu machen? Oder anders gesagt, wie müßte ein vereinigtes Irland beschaffen sein, daß sich Nordirlands Protestanten darin wohlfühlen?


Oranier ziehen an unzähligen Zuschauern auf den Bürgersteigen vorbei - Foto: © 2018 by Schattenblick

Der "Glorious Twelfth" als Volksfest
Foto: © 2018 by Schattenblick

IM: Das ist eine wirklich schwierige Frage. Wie Sie vielleicht wissen, hat Arlene Foster in einer BBC-Fernsehdokumentation vor einigen Wochen erklärt, im Falle der Wiedervereinigung Irlands würde sie nach Großbritannien auswandern. Ein vereinigtes Irland ist nicht etwas, das ich anstrebe oder erleben möchte. Ich will weiterhin im Vereinigten Königreich leben und arbeiten. Deshalb möchte ich, daß die Union zwischen Nordirland und Großbritannien weiterhin Bestand hat. Im Gegensatz zu Foster wäre ich nicht in der Lage, einfach alles aufzugeben und mich woanders niederzulassen.

Im Falle der Wiedervereinigung müßte der neue Staat eine Verschmelzung von Norden und Süden sein. Nordirland einfach an die Republik anzugliedern würde nicht ausreichen. Es müßte ein neuer Staat mit gemeinsamen Symbolen sein. Eine neue Staatsflagge zum Beispiel müßte her. Ich weiß, daß die irische Trikolore für den Frieden zwischen Grün, der katholischen Urbevölkerung, und Orange, den protestantischen Siedlern aus England und Schottland, steht. Doch leider wurde sie durch dreißig Jahren Bürgerkrieg in den Augen der meisten Protestanten zum Aushängeschild der IRA. Bei den Trauerfeiern verstorbener IRA-Aktivisten, ob sie von der britischen Armee erschossen wurden, durch die eigenen Bomben starben oder im Hungerstreik ihr Leben verloren, schmückte die irische Trikolore sichtbar für alle Welt ihre Särge. Für Leute wie mich ist die irische Staatsflagge zum IRA-Symbol geworden. In einem neuen Irland würde ich mir wünschen, daß es eine Fahne mit keinen derart negativen Konnotationen gäbe.

SB: Und wie sieht es mit der irischen Nationalhymne "Amhrán na bhFiann"/"The Soldier's Song" aus?

IM: Da hätte ich auch gern ein anderes Lied. Mit "Ireland's Call", das seit dem Karfreitagsabkommen vor Beginn eines jeden Spiels der irischen Rugbynationalmannschaft erklingt, deren Mitglieder bekanntlich aus Nord und Süd kommen, könnte ich mich anfreunden. Es ist gar nicht so schlecht.

SB: Müßten in einem wiedervereinigten Irland das Parlament und die Provinzregierung in Nordirland beibehalten werden oder würde Ihnen eine allirische Versammlung genügen?

IM: Ich habe häufig über diese Frage nachgedacht. Wenn es wirklich zu einem vereinigten Irland käme, dann bin ich der Überzeugung, daß man den neuen Staat als Bundesrepublik auf der Basis der vier Provinzen Ulster, Munster, Leinster und Connacht jeweils mit eigenem Landtag und einer Regionalregierung strukturieren sollte. Die allirische Versammlung könnte abwechselnd in Dublin und Belfast tagen. Man müßte einen radikalen Weg einschlagen, um einen Neubeginn, der diesen Namen verdient, zu schaffen. Das vereinigte Irland wäre dadurch mehr als nur die Verbindung von Nord und Süd, sondern ein ganz anderer Staat. Es würde meines Erachtens auch die Chancen erhöhen, daß der Neubeginn gelingt.

SB: Ist die Wiedervereinigung Irlands noch aufzuhalten oder brächte sie zwangsläufig als Gegenreaktion ein Wiederaufflammen loyalistischer Gewalt mit sich bzw. wie könnte eine solche Reaktion verhindert werden?

IM: Der Widerstand der nordirischen Protestanten gegen ein vereinigtes Irland hat eine lange Tradition, die nach wie vor lebendig ist. Von daher ist die Gefahr, von der Sie hier sprechen, real und nicht zu unterschätzen. Wie auch immer sich die Dinge entwickeln, und ich spreche als jemand, der den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich befürwortet, müssen die nordirischen Politiker auf beiden Seiten des konfessionellen Grabens wie auch die Vertreter Dublins und Londons stets allergrößte Vorsicht bei der Wahl ihrer Worte und ihrer Gesten walten lassen, damit sie niemanden zu Gewalthandlungen provozieren oder animieren. Die politische Gewalt hat in Irland verheerende Folgen gezeitigt. Die Troubles haben viel Leid verursacht. Niemand kann sich eine Rückkehr in jene schreckliche Ära wünschen.

Käme es demnächst zur Volksbefragung über die Abschaffung der Teilung und 51 Prozent der Stimmberechtigten in Nordirland votierten dafür, dann würde ich als Demokrat das Ergebnis respektieren. Aber sollte dieser Fall eintreten, dann müßten die Politiker jedes Wort auf die Goldwaage legen und jede Handlung vorher gut überlegen, damit sie niemandem Anlaß zu einer gewalttätigen Handlung geben. Wir haben genug politische Gewalt in Irland erlebt. Das müssen wir nicht noch einmal haben.

SB: Vielen, vielen Dank Ian Malcolm für das Gespräch und die vielen Erläuterungen rund um den "12th of July".


Ian Malcolm im Café des Belfaster Bahnhofs Great Victoria Street - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ian Malcolm
Foto: © 2018 by Schattenblick


28. Juli 2018


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