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AUSSENHANDEL/287: EU-Handelspolitik auf der Intensivstation (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2016
Völlig losgelöst
Lässt sich die EU noch demokratisieren?

EU-Handelspolitik auf der Intensivstation
Kurswechsel in der Handelspolitik unausweichlich

Von Jürgen Maier


Nachdem die Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen lange Jahre im politisch-medialen Mainstream als "alternativlos" galt, hat sich angesichts der grassierenden Legitimationskrise der politischen Klassen in Europa und den USA der Wind gründlich gedreht. Inzwischen hat sich zumindest verbal eine neue Mehrheitsmeinung herausgebildet, wonach die Globalisierung anders gesteuert werden müsse. Zu viel Ungleichheit, und zu viele VerliererInnen, die jetzt die Demokratie destabilisieren - das ist spätestens seit dem Brexit-Votum das Mantra. Exemplarisch sei Sigmar Gabriel zitiert, der am 19. August 2016 im Handelsblatt schreibt: "Ein Beispiel dafür, was für eine 'Globalisierung 2.0' zu tun ist, sehen wir auch in der Handelspolitik. Bisherige Freihandelsverträge sind mit dem Abbau von sozialen Standards verbunden. Wir brauchen jedoch einen Paradigmenwechsel in der Handelspolitik zur international vereinbarten Sicherung von Sozial- und Umweltnormen."


So weit, so schön. Spannend wird es allerdings erst dann, wenn daraus Konsequenzen gezogen werden sollen. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz schreibt: "Heute müssen wir die Spielregeln erneut ändern, und dies muss Maßnahmen zur Zähmung der Globalisierung mit umfassen." Kaum jemand würde ihm noch widersprechen - aber: Was ändert sich denn nun konkret an der Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa, in Amerika?

Business as usual?

Leider nicht viel. Schaut man genauer hin, ist wenig an konkreten Veränderungen der bisherigen Globalisierungspolitik auszumachen. Ein eklatantes Symbol dieser missratenen Gestaltung der Globalisierung ist die systematische Steuervermeidungspolitik großer Konzerne, wie z.B. Apple. Auf seine Gewinne zahlte Apple bisher 0,005 Prozent Steuern. Als die Wettbewerbskommissarin der Europäischen Union (EU) Margrethe Vestagher Ende August nach gründlicher Prüfung verfügte, dass der irische Staat Apple illegalerweise 13 Milliarden Euro plus Zinsen Steuernachlässe gewährt habe, die Apple deshalb nachzahlen müsse, herrschte jedoch keine Begeisterung. Der irische Staat ist damit nicht einverstanden und will die Verfügung anfechten. Bemerkenswert auch die Reaktion aus den USA, wo noch 2013 der Senat Apple systematischer Steuerhinterziehung beschuldigt hatte: Finanzminister Jack Lew attackierte die EU-Entscheidung und erklärte sie für "antiamerikanisch motiviert".

Da können einem schon Zweifel kommen, wie ernst die Selbstkritik derer eigentlich gemeint ist, die angesichts von Brexit und Wahlerfolgen für RechtspopulistInnen treuherzig verkünden, man müsse doch dafür sorgen, dass alle von den Segnungen der Globalisierung profitieren und nicht nur wenige Konzerne.

TTIP - Kristallisationspunkt des Widerstands

Ähnlich sieht es mit der Handelspolitik aus, dem zentralen Politikfeld, mit dem Globalisierung gesteuert und gestaltet wird. Wer also besorgt über die Schieflage der bisherigen Globalisierung ist, muss zuallererst bei der Handelspolitik anfangen.

Die EU-Handelspolitik ist in der Tat in einer veritablen Krise. Das Flaggschiffprojekt TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) wurde von den Regierungen in Paris, Berlin, Wien und anderswo bereits beerdigt. Schuld sei die amerikanische Unbeweglichkeit bei den Verhandlungen, hieß es - in Wirklichkeit ist es wohl eher der massive Druck der Öffentlichkeit beiderseits des Atlantiks, der genau diese Unbeweglichkeit beider Seiten erzwingt.

Längst hat sich die Hauptkontroverse auf das Kanada-Abkommen CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) verschoben. Auch CETA, verhandelt von 20092014, ist Ergebnis der EU-Handelsstrategie "Global Europe" aus dem Jahr 2005. Mit dieser Strategie wollte die EU all diejenigen Ziele von noch mehr Marktöffnung, noch mehr Deregulierung, noch mehr Investorenschutz in bilateralen Handelsabkommen quer durch die ganze Welt verankern, nachdem dieser Versuch in der WTO (World Trade Organization) gescheitert war. Da die Entwicklungsländer bis heute diesen Versuch blockieren, den Welthandel in erster Linie entlang der politischen Prioritäten der EU und der USA auszurichten, erklärte die Kommission gleich die ganze WTO für "blockiert" und dementsprechend setzte man jetzt auf bilaterale Abkommen. Genau diese alte Prioritätensetzung ist es, die CETA prägt - und auch die vielen anderen neuen Freihandelsabkommen, an denen die EU derzeit arbeitet. Sie sind genauso wie TTIP und CETA Ausdruck dieser alten Globalisierungspolitik mit falschen Prioritäten, die heute so massiv in der Kritik steht. Einige Korrekturen vor allem beim Investitionsschutz machen aus CETA nicht das "modernste EU-Handelsabkommen" aller Zeiten, es sei denn, man versteht unter "modern" genau die Prioritäten, die man 2009 in das Verhandlungsmandat schrieb.

Ob CETA tatsächlich im Herbst im EU-Rat beschlossen, seine vorläufige Anwendung entschieden und anschließend vom Europäischen Parlament und allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden kann, steht heute mehr denn je auf der Kippe. Für den Generaldirektor der Generaldirektion Handel, Jean-Luc Demarty, ist die EU-Handelspolitik "nahezu tot", sollte CETA scheitern.

EU-Handelspolitik in der Krise

Aber die EU-Handelspolitik der letzten 10 Jahre ist ohnehin alles andere als eine Erfolgsstory. Man wollte praktisch die ganze Welt mit Freihandelsabkommen abdecken. Zustande gekommen sind bisher gerade mal ein Abkommen ebenfalls mit Zentral­amerika sowie eines mit Peru und Kolumbien, dem sich vermutlich Ecuador noch anschließen wird. Das ursprünglich als weiterer Vertragspartner angedachte Bolivien ist abgesprungen. Ein Abkommen mit Südkorea trat 2011 in Kraft. Ausverhandelt, aber noch nicht ratifiziert sind Abkommen mit Singapur und Vietnam. Zu diesen Abkommen kam es, weil die ursprünglich geplanten Verhandlungen mit dem ASEAN-Block geplatzt sind. Neu aufgenommen wurden jetzt Verhandlungen mit den Philippinen vor dem Amtsantritt des irrlichternden Präsidenten Duterte. CETA ist das Vorbild für ein neues Abkommen mit Mexiko, das die EU anstrebt - Schiedsgerichte inklusive. Die Verhandlungen mit dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt Mercosur stocken seit vielen Jahren, vor allem weil die EU zwar die dortigen Märkte öffnen will, aber eine Öffnung zu Hause blockiert.

Die Verhandlungen mit Indien kommen ebenfalls seit Jahren nicht voran, weil Indien die Marktöffnungsagenda der EU im Agrar- und Dienstleistungsbereich ablehnt. Bei bis zu 200 Millionen Arbeitsplätzen im indischen Einzelhandel ist nachvollziehbar, warum keine indische Regierung ein Interesse daran hat, Aldi und Lidl ins Land zu lassen. Auch die Verhandlungen mit Japan über ein Freihandelsabkommen schleppen sich zäh voran, ein Abschluss ist nicht in Sicht. Die "Wirtschaftspartnerschaftsabkommen" mit vielen Staaten Afrikas sind zwar weitgehend ausverhandelt, aber einige Länder leisten hartnäckig Widerstand gegen die Ratifizierung.

Im September beschlossen die 6 Mitgliedsstaaten der Ostafrikanischen Union, das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit der EU nicht zu ratifizieren. Nicht nur von der EU erzwungene weitgehende Marktöffnung lehnen sie ab - nach dem Brexit ist auch der zollfreie Marktzugang in die EU für viele nicht mehr so wichtig, weil Großbritannien ihr wichtigster europäischer Markt ist. Der ohnehin bestehende Marktzugang nach den WTO-Regeln reicht ihnen völlig aus.

Angesichts all dieser Probleme wäre es höchste Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme, ob die EU-Handelspolitik noch zeitgemäß ist. Aber davon wollen weder die Kommission noch die EU-Regierungen etwas wissen. Trotzig verkündete die Kommission im Oktober 2015 eine "neue" EU-Handelsstrategie namens "Trade for all", die faktisch nur den alten Kurs bestätigte, den man aber "besser kommunizieren" möchte. Nichts als alter Wein in neuen Schläuchen.

Sind die Ziele der EU-Handelspolitik noch zeitgemäß?

Eine der zentralen Ziele all der geplanten EU-Handelsabkommen ist die weitere Öffnung fremder Märkte für EU-Agrarexporte, allen voran Fleisch und Milch. Man will die Probleme der missratenen EU-Agrarpolitik schlicht wegexportieren. Fleisch aus Massentierhaltung wird in der EU immer unbeliebter, der Absatz sinkt - dennoch steigt die Produktion. Da braucht man dringend neue Märkte. Statt die Industrialisierung der Landwirtschaft als Fehlentwicklung zu begreifen und umzusteuern Richtung Regionalisierung und Ökologisierung, halten die EU-Regierungen unbelehrbar an der alten Politik fest - und wundern sich, warum ihre Handelspolitik so unpopulär geworden ist.

Auch in den USA ist der Jobverlust durch Freihandel und Globalisierung so offensichtlich, dass Obama das TPP-Abkommen, der Transpazifischen Partnerschaft der USA mit 11 weiteren Ländern, dem Kongress aus Angst vor einer Niederlage gar nicht vorlegt. Das frisch ausgehandelte TPP-Abkommen ist im Wesentlichen ein Abkommen von Ländern, die mit den USA bereits Freihandelsabkommen haben: Kanada, Mexiko, Australien, Südkorea, Singapur, Chile. Abgesehen von der ohnehin schon intensiven Handelsbeziehung USA-Japan bleibt nicht viel übrig von TPP als einem "dramatischen Sprung nach vorn, der die EU jetzt unter Zugzwang setzt, wenn sie nicht von der Lokomotive der Welthandelsliberalisierung abgehängt werden soll", wie es Kommission und Bundesregierung gerne darstellen. Die geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone FTAA/ALCA ist schon vor Jahren geplatzt, übrig blieb ein Abkommen mit den zentralamerikanischen Ländern und der Dominikanischen Republik. Auch für die US-Freihandelspolitik muss man konstatieren: Ein recht bescheidenes Ergebnis.

Ob CETA und TPP jemals in Kraft treten, wird immer fraglicher. Ein Scheitern dieser Abkommen hätte tiefgreifende Auswirkungen auf die Welthandelspolitik. Wenn es den Regierungen Europas und der USA nicht einmal mehr gelingt, in den eigenen Parlamenten Mehrheiten für ihre Handelspolitik zu finden, dann sinkt auch das machtpolitische Potenzial, Entwicklungsländern ihre Marktöffnungsagenda aufzudrücken.

Und jetzt? - ein Ausblick

Die EU braucht eine Neujustierung ihrer Handelspolitik. Nicht nur die Verfahren müssen grundlegend demokratisiert werden, sondern auch ihre Inhalte und Zielsetzungen komplett auf den Prüfstand. Nicht die EU-Handelspolitik als solche ist "nahezu tot", sondern die alte, für die Herr Demarty und seine Kommissarin stehen. Weite Teile der Öffentlichkeit lehnen die bisherige Art ab, mit der Globalisierung gestaltet wurde, und erwarten eine Kurskorrektur. Handelshemmnisse wurden in den letzten 20 Jahren in großem Umfang ausgeräumt. Allerdings hat diese Handelspolitik der Beseitigung von Handelshemmnissen und der Erschwerung von Regulierung im öffentlichen Interesse eine derart absolute Priorität eingeräumt, dass sehr viele andere Hemmnisse entstanden sind: Hemmnisse für eine Politik für Nachhaltigkeit, Hemmnisse für eine soziale und ökologische Regulierung globaler Wertschöpfungsketten, Hemmnisse für eine Stärkung benachteiligter Regionen durch "Buy Local"-Klauseln, Hemmnisse für eine anständige Besteuerung multinationaler Konzerne usw. Im Ergebnis gibt es bei diesem Globalisierungsmodell zunehmend weniger Gewinner und immer mehr Verlierer, die sich als ausgegrenzt empfinden und protestieren. Dieses Globalisierungsmodell von immer mehr Marktöffnung, immer mehr Liberalisierung, immer mehr Deregulierung hat keine Zukunft, ist aber immer noch das Credo europäischer Handelspolitik. Handelshemmnisse wurden in den letzten 20 Jahren genug abgebaut. Jetzt ist es an der Zeit, konsequent Nachhaltigkeitshemmnisse abzubauen, gerade auch in der Art und Weise wie Globalisierung gestaltet wird. Dafür muss die Handelspolitik neu justiert werden. Dies kann nur in einer breiten ergebnisoffenen öffentlichen Debatte geschehen, nicht in geheimen Brüsseler Sitzungen des handelspolitischen Ratsausschusses. Diese Debatte hat längst begonnen - es wird Zeit, dass sich die europäischen Institutionen und nationalen Regierungen daran konstruktiv beteiligen.


Autor Jürgen Maier ist Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2016, Seite 9-11
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
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Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2016

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