Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → WIRTSCHAFT


ENERGIE/200: Die Erdgaslücke (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 21. Dezember 2022
german-foreign-policy.com

Die Erdgaslücke

Die EU steht 2023 vor einer dramatischen Lücke in ihrer Gasversorgung. Da sie wohl den Weltmarkt leerkaufen wird, droht dem globalen Süden noch gravierenderer Flüssiggasmangel als 2022.


BERLIN/BRÜSSEL - Deutschland und die EU stehen unabhängig vom neuen EU-Gaspreisdeckel in diesem Jahr vor einer massiven Versorgungslücke beim Erdgas. Dies geht aus Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) hervor. Demnach ist unklar, woher gut 30 bis 60 Milliarden Kubikmeter Gas kommen sollen, die benötigt werden, um das Jahr 2023 und den folgenden Winter zu überstehen. Der Preisdeckel soll verhindern, dass die Kosten für Erdgas im Sommer so exzessiv in die Höhe schnellen wie in diesem Jahr. Allerdings drohen von Berlin durchgesetzte Ausnahmeregeln dafür zu sorgen, dass er, wenn es auf ihn ankommt, außer Kraft gesetzt wird. Den Ausstieg aus russischem Pipelinegas, dem die Versorgungslücke geschuldet ist, hat die EU mutwillig beschlossen. Während sie selbstverschuldet von Mangel bedroht ist, gilt dies nicht für Länder des globalen Südens, die schon in diesem Sommer zeitweise überhaupt kein Flüssiggas mehr erhielten, weil die EU-Staaten es ihnen dank ihrer Finanzkraft vor der Nase wegkauften. Ihnen droht, weil weltweit viel weniger Flüssiggas zur Verfügung steht, als benötigt wird, noch krasserer Mangel als dieses Jahr.

"Zu nahezu jedem Preis gekauft"

Der Preisdeckel auf Erdgas, den die EU-Energieminister am Montagabend beschlossen haben, ist aus Sicht seiner Befürworter insbesondere durch das Gebaren der Bundesrepublik auf dem Gasmarkt notwendig geworden. Belgiens Energieministerin Tinne Van der Straeten erinnerte vor kurzem daran, der Markt sei im Sommer "aus dem Gleichgewicht" geraten, "weil einige Länder zu nahezu jedem Preis eingekauft haben, um ihre Speicher zu füllen".[1] Das Land, das sich damit am meisten hervortat, war die Bundesrepublik, die zum einen die größte Menge russischen Erdgases ersetzen musste, zum anderen aber auch über die stärkste Finanzkraft verfügte und sich nicht zur Rücksichtnahme auf weniger wohlhabende Staaten genötigt sah. Die deutsche Ignoranz gegenüber den anderen Mitgliedern der EU ging so weit, dass die Firma Trading Hub Europe (THE), die das Erdgas zur Befüllung der deutschen Speicher erwarb, monatelang die übliche Praxis missachtete, neu eingespeichertes Gas sofort zum Kauf zu einem künftigen Zeitpunkt anzubieten; damit soll verhindert werden, dass Erdgas aus dem Markt genommen wird, das Angebot schrumpft sowie der Preis rasant in die Höhe schnellt. Dass genau dies geschah und der Gaspreis in Europa zwischenzeitlich 350 Euro pro Megawattstunde erreichte, lag nicht zuletzt am Vorgehen der THE.[2]

Deutschlands Sondervetorecht

Schweren Unmut hervorgerufen hat die Bundesrepublik darüber hinaus mit der Art und Weise, wie sie den Preisdeckel auf Erdgas zu verhindern suchte. Grundsätzlich wird in der EU über Fragen der Energiepolitik mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Da die meisten Mitgliedstaaten den Gaspreisdeckel befürworteten, war stets klar, dass eine qualifzierte Mehrheit gegeben war. Kanzler Olaf Scholz ließ sich deshalb auf dem EU-Gipfel am 20. Oktober zusichern, Berlin dürfe in dieser Frage nicht überstimmt werden [3] - ein noch nie dagewesenes Sondervetorecht, das keinerlei Grundlage in den EU-Regelwerken hat und allein auf deutscher Machtanmaßung beruht. Es stieß umso mehr auf Protest, als Berlin bereits seit langem die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf die EU-Außenpolitik verlangt, um etwaige Widerstände einzelner Mitgliedstaaten gegen deutsche Forderungen brechen zu können. "Es kann ... nicht sein", beschwerte sich Tschechiens Energieminister Jozef Sikela vergangene Woche, "dass immer mehr Staaten sagen, wir müssen weg von der Einstimmigkeit - aber wenn man dann selbst betroffen ist, dann gefällt ihnen das nicht".[4] "Wenn ich stets versuche, mein Interesse durchzubringen", erklärte Szikela, "hat das im Laufe der Zeit Folgen"; wer "Leadership" anstrebe, müsse auch "die Interessen und Fähigkeiten der Schwächeren respektieren".

Der Gaspreisdeckel

Zur Schadensbegrenzung hat sich Berlin letztlich gezwungen gesehen, den Gaspreisdeckel nicht zu Fall zu bringen, sondern ihn zumindest der Form halber zu tolerieren. Sein erster Versuch, ihn zugleich aber so weit auszuhöhlen, dass er praktisch keine Bedeutung mehr hat, ist gescheitert: Der gemeinsam mit der EU-Kommission vorgebrachte Vorschlag, den Deckel bei 275 Euro pro Megawattstunde festzusetzen und ihn nur dann einschnappen zu lassen, wenn dieser Betrag zwei Wochen lang überschritten wird, wurde abgelehnt - er hätte nicht einmal bei den exzessiven Gaspreisen in diesem Sommer gegriffen. Der am Montag beschlossene Preisdeckel liegt nun bei 180 Euro pro Megawattstunde; er wird aktiviert, wenn dieser Betrag nur drei Tage lang überschritten wird. Dies gilt als durchaus realistisch: Zwar schwankte der Gaspreis in Europa zuletzt meist zwischen 100 und 150 Euro; doch gehen Experten allgemein davon aus, dass er erneut in die Höhe schnellen wird, sobald die Speicher wieder gefüllt werden. Berlin hat nun allerdings Zusatzregeln durchgesetzt, die es erlauben, den Preisdeckel rasch zu deaktivieren: Dies wird möglich sein, wenn irgendwo in der EU Gasmangel auftritt, wenn die Flüssiggaseinfuhr sinkt oder wenn der innereuropäische Gashandel eingeschränkt wird. Zudem ist der Preisdeckel auf den Börsenhandel beschränkt; für außerbörslichen Handel gilt er nicht.[5]

30 Milliarden Kubikmeter zu wenig

Damit geht die EU mit einem schwachen Preisdeckel in ein Jahr, in dem erhebliche Probleme mit der Gasversorgung in Europa erwartet werden. Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass im kommenden Jahr in der EU-Erdgasversorgung eine Lücke von gut 30 Milliarden Kubikmetern entsteht. Dies liegt daran, dass einerseits, anders als in diesem Jahr, fast kein oder gar kein russisches Pipelinegas mehr zur Befüllung der Gasspeicher genutzt werden kann. Andererseits werden 2023 weltweit kaum mehr als 20 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas zusätzlich zur Verfügung stehen; auf gut die Hälfte davon besitzt zudem China ein Vorkaufsrecht.[6] Wie die Erdgaslücke in der EU gefüllt werden soll, die unter nicht ganz optimalen Umständen sogar auf 60 Milliarden Kubikmeter anschwellen könnte, ist ungewiss. Dabei kommt zum einen hinzu, dass der chinesische Konsum mutmaßlich rasch steigen wird. Die Volksrepublik hatte in diesem Jahr wegen zahlreicher Lockdowns erheblich weniger Erdgas verbraucht als geplant und große Mengen in die EU weiterverkauft - allein im August gut vier Millionen Tonnen, mehr als ein Sechstel des EU-Gesamtimports im ersten Halbjahr von rund 21,4 Millionen Tonnen.[7] Das fällt 2023 weg. Zum anderen haben die EU und Großbritannien die Einfuhr von Flüssiggas aus Russland um ein Fünftel gesteigert; zur Zeit beziehen sie 13 Prozent ihrer LNG-Importe von dort - mehr denn je.[8]

Versorgungskrisen im globalen Süden

Düstere Prognosen ergeben sich aus der Erdgaslücke der EU nicht nur für die Staaten Europas, die mit ihrer Ankündigung vom Frühjahr, so schnell wie möglich aus der Nutzung russischen Erdgases auszusteigen, die Schlacht auf dem Gassektor mutwillig eröffnet und damit die Verknappung des Gases herbeigeführt haben. Japan hat sich der Maßnahme - aus gutem Grund - nicht angeschlossen und wird bis heute verlässlich mit russischem Erdgas beliefert.[9] Steht die EU also selbstverschuldet vor womöglich ernstem Mangel, so tun dies ärmere Staaten etwa in Süd- und Südostasien, die bereits in diesem Sommer zeitweise gar kein Flüssiggas mehr erwerben konnten, gänzlich unverschuldet: Die wohlhabenden Staaten der EU kauften zeitweise jede verfügbare Tankerladung vom Markt (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Insgesamt hatten die Staaten Europas, inklusive Großbritannien und der Türkei, in den ersten drei Quartalen 2022 ihren Anteil an den Flüssiggaseinfuhren weltweit bereits von einem knappen Fünftel auf ein knappes Drittel aufgestockt.[11] Wollen sie ihre Erdgaslücke füllen, so müssen sie ihren Anteil noch weiter erhöhen und damit den weniger wohlhabenden Staaten etwa Süd- und Südostasiens noch größere Mengen Gas wegkaufen als bereits in diesem Jahr. Der Ausstieg der EU aus dem Bezug russischen Gases droht damit eine schwere Versorgungskrise im globalen Süden auszulösen, die diejenige dieses Jahres noch weit in den Schatten stellt.


Anmerkungen:

[1] Michael Sauga: "Einige Länder haben zu nahezu jedem Preis gekauft". spiegel.de 12.12.2022.

[2] Michael Brächer, Stefan Schultz: Deutschlands teure Gashamsterei. spiegel.de 14.10.2022.

[3] Christoph Herwartz: Der EU-Gaspreisdeckel ist ein Versprechen, das nicht gehalten werden kann. handelsblatt.com 21.10.2022.

[4] "Scheitern wir, gibt es keine Sieger, oder wenn, Putin". Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.12.2022.

[5] Hendrick Kafsack: Gaspreisdeckel steht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.12.2022.

[6] Hendrick Kafsack: Reicht das Gas nur bis Ende 2023? Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.12.2022.

[7] Zahra Tayeb: China has stopped sales of LNG to Europe to make sure its own households have enough gas for the winter, report says. finance.yahoo.com 17.10.2022.

[8] Kathrin Witsch: LNG-Importe aus Russland steigen auf Rekordhoch. handelsblatt.com 08.12.2022.

[9] S. dazu Von Preisdeckeln und Selbstbetrug.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9020

[10] S. dazu Nach uns die Sintflut.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8973

[11] Kersten Knipp: Asiaten konkurrieren mit Europa um Flüssiggas aus Katar. dw.com 27.11.2022.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 24. Dezember 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang