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BERICHT/028: Die Klimakrise - eine Herausforderung für die Gesellschaft (research*eu)


research*eu - Nr. 60, Juni 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Die Klimakrise: eine Herausforderung für die Gesellschaft

Von Sandrine Dewez


Der Klimawandel ist nicht nur ein Umwelt-, sondern auch ein Gesellschaftsproblem. Wir müssen unbedingt unsere Lebensweise, die Organisation unserer Gesellschaften und die Governance-Systeme verändern. Nun suchen Geistes- und Sozialwissenschaftler nach neuen Wegen für gemeinsame Maßnahmen.


"Wir stehen vor der größten Gefahr, welche die Erde je bedroht hat: Es stellt sich uns jetzt ein historisches Problem, auf das wir gemeinsam reagieren müssen", warnt Scott Barrett, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Johns Hopkins University in Washington. Im September 2008 ging es in Paris um die Herausforderung, der die Menschheit durch die globale Erderwärmung gegenübersteht. Wirtschaftswissenschaftler, Psychologen, Geowissenschaftler, Rechtsexperten, Philosophen, Medienfachleute, Politikwissenschaftler aus Europa und den USA waren zu einer Konferenz über das Thema "Der Mensch und die Gesellschaft angesichts des Klimawandels" zusammengekommen. Die von der Toulouse School of Economics im Rahmen des französischen Ratsvorsitzes am 22. und 23. September 2008 organisierte Konferenz verfolgte das Ziel, den interdisziplinären Austausch auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften zu fördern. Eine Herausforderung für die Europäische Kommission, die ihr erstes Programm für Geistes- und Sozialwissenschaften umsetzt, das für die Dauer des 7. Rahmenprogramms mit 600 Mio. EUR ausgestattet ist.


Hin zu einer anderen Klima-Governance?

"Wenn es um den Klimawandel geht, ist Entwicklung ein unumgängliches Thema", erklärt Amy Dahan, Historikerin und Philosophin am CNRS - Centre National de la Recherche Scientifique (FR). Will man verstehen, was auf dem Spiel steht, muss eine Analyse der internationalen Verhandlungen unbedingt erfolgen. Bis Ende 2009 soll ein neues ehrgeiziges zwischenstaatliches Abkommen über die weitere Verringerung von Treibhausgasemissionen über den 1. Januar 2013 hinaus abgeschlossen werden. Das ist jedenfalls das Ziel der Konvention der Vereinten Nationen zur globalen Erderwärmung. Zu diesem Zeitpunkt endet nämlich die erste Reihe von Verpflichtungen, die im Rahmen des Kyoto-Protokolls vereinbart wurden.

Eine Arbeitsgrundlage wurde bereits Ende 2007 vorgeschlagen: die Halbierung der Treibhausgasemissionen bis 2050. Dieses Ziel wird jedoch von den Entwicklungsländern als ungerecht empfunden und sie weigern sich, ihrem Wachstum Grenzen setzen zu lassen. Die Industrieländer müssen ihrer Meinung nach ihre Anstrengungen bis 2020 alleine verfolgen. Daher muss den Entwicklungsländern erst einmal gewährleistet werden, dass ihr legitimes Streben nach besseren Lebensbedingungen nicht in Frage gestellt wird. "Aber auch wir müssen einen Kurswechsel vornehmen", fährt Amy Dahan fort. "Sonst ist es nämlich unmöglich, die Frage, wie wir mit so wenig CO2-Emissionen wie möglich leben und sie konsumieren können, im Norden und im Süden zu stellen. In diesem Punkt müssen jetzt Fortschritte erzielt werden."

Ist ausgehend von unseren Technologien und Infrastrukturen und mithilfe der vorhandenen Märkte und Institutionen ein Übergang in eine Gesellschaft nach dem Kohlenstoff möglich? "Bereits seit 25 Jahren versuchen wir das zu schaffen", erinnert Scott Barrett. "Es gibt jedoch gegenwärtig keine wirtschaftlichen Anreize für die Entwicklung neuer energiesparender und sauberer Technologien, die dann in der ganzen Welt eingesetzt werden könnten. Das Kyoto-Protokoll wird hier keine Veränderungen herbeiführen", bestätigt er. Die von Scott Barrett vorgeschlagene Lösung stützt sich auf den Erfolg des Montreal-Protokolls bei der Bekämpfung von Gasen, die schädlich für die Ozonschicht sind. "Meinen Schätzungen zufolge hat es ein Ziel erreicht, das fünf Mal über dem des Kyoto-Protokolls lag, und zwar ohne besondere Anstrengungen", unterstreicht er. Zunächst einmal müssen für jeden Wirtschaftssektor (Strom, Automobil, Schifffahrt ...) die wirksamsten Anreize gefunden werden, damit die Technologien weiterentwickelt werden. Auf dieser Grundlage müssen dann getrennte Abkommen unterzeichnet werden, um eine sektorielle zwischenstaatliche Vereinbarung zu erzielen.

Scott Barrett sieht keine andere Möglichkeit und erinnert daran, dass im Fall eines Scheiterns der Verhandlungen die Versuchung groß wäre, die Erderwärmung als gegeben hinzunehmen und in die Sektoren zu investieren, mit denen ihre Auswirkungen begrenzt werden können (Dämme, Klimatisierung, Bewässerungssysteme usw.), was für bestimmte Bevölkerungen dramatische Konsequenzen hätte.


Ansporn zur Kreativität

"Ohne soziale Innovationen schaffen wir es nicht", meint Amy Dahan. Impulse für neue Überlegungen könnte der fünfte Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) liefern, für den die vor 20 Jahren erarbeiteten Szenarien vollständig überarbeitet werden sollen. Diese waren zu technisch, mit unterschiedlichen Unsicherheitsspannen und konnten daher die öffentliche Meinung nicht überzeugen. Sie wurden in einer globalen Perspektive entwickelt und erweisen sich auf lokaler Ebene als widersprüchlich. Daher werden sie jetzt überarbeitet. "Für Sozialwissenschaftler und Politiker ist es eine hervorragende Gelegenheit, in der Öffentlichkeit über unsere gesellschaftlichen Entscheidungen bis zum Ende des Jahrhunderts zu diskutieren." Hierfür ist es notwendig, die gesellschaftliche Akzeptanz der verschiedenen Optionen zu testen, die Versuche vor Ort zu begleiten und eventuelle Schwierigkeiten zu ermitteln. "Wenn wir das nicht machen, wie können wir dann die Vorstellungskraft der Leute anregen?"

Dieser Schritt hin zu einer informierten, aktiven und engagierten Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess wird von vielen Teilnehmern sämtlicher Disziplinen gefordert. Und wenn sie bereits auf dem Weg wäre? "Das weltweit wachsende Engagement der Menschen in Nichtregierungsorganisationen oder in religiösen Gruppen, das unter einer Perspektive der Koevolution der menschlichen Spezies mit dem Planeten beobachtet werden kann, ist eine sich herausbildende Eigenschaft des aktuellen Systems", analysiert Richard Norgaard, Spezialist für ökologische Ökonomie an der University of California in Berkeley (US). Die Menschen finden in diesen Aktivitäten eine Alternative zum Konsum sowie intellektuelle, soziale und identitätsbezogene Befriedung. Unsere Lebens- und Denkweisen könnten sich bereits in einem Wandlungsprozess befinden. "In Verbindung mit den kollektiven Prozessen in der Wissenschaft, die eher demokratisch und diskursiv sind, lenken uns diese Entwicklungen ja vielleicht in eine andere Richtung mit neuen Möglichkeiten für die Governance", bemerkt Richard Norgaard.


Eine Neufassung der Gesetze?

Wir brauchen eine bessere Berücksichtigung der Erschöpfung unserer natürlichen Ressourcen, der Dienste, die uns die Ökosysteme leisten, und des Wertes dessen, was unbezahlbar ist - nämlich eines Klimas, das mit dem Leben auf der Erde vereinbar ist. Lässt sich per Gesetz erreichen, was die Wirtschaft nicht geschafft hat? In Anbetracht der gegenwärtigen Situation ist die Antwort "Nein". Wir müssen neue Rechtsstrukturen erdenken und eine Rechtsprechung der Erde einrichten und damit einen potenziellen Rahmen für eine neue Form der Governance schaffen", erklärt Jacqueline McGlade, Verwaltungsdirektorin der Europäischen Umweltagentur. Es müsse beispielsweise erreicht werden, dass bedrohte Naturräume (Flüsse, Gletscher, Wälder) und vom Aussterben bedrohte Arten vor dem Gesetz vertreten werden. Um wirksam gegen die globale Erderwärmung anzukämpfen, "müssen wir in Europa das Recht erhalten, lokal neue nachhaltige und saubere Energiequellen zu nutzen und den Produktionsüberschuss in ein dezentralisiertes Versorgungsnetz einzuspeisen", erklärt Jacqueline McGlade. Es ist die Idee einer von dem Essayisten Jeremy Rifkin erhofften dritten industriellen Revolution, deren Wortlaut in einer schriftlichen Erklärung des Europäischen Parlaments (0016/2007) aufgegriffen wurde.

Es fällt schwer, sich heute vorzustellen, welche Lösungen sich im Kampf gegen die Klimakrise als wirksam erweisen werden. Werden sie der Vielfalt der menschlichen Bedürfnisse und der Lebensformen auf der Erde gerecht werden? Nach welchen Werten und welchen Interessen werden sich letztendlich die Entscheidungen richten? Bei diesen wichtigen Fragen müssen wir uns festlegen - und zwar schnell.


Die Erderwärmung: eine Bewährungsprobe für unsere Werte

Halte ich an traditionellen Werten fest oder bin ich eher modern oder sogar absolut fortschrittlich? Welche Probleme stellen sich mir, wenn die Auswirkungen der globalen Erderwärmung mein Wertesystem erreichen? Diese und andere Fragen zur Anpassung von Mensch und Gesellschaft an den Klimawandel untersucht Karen O'Brian, Spezialistin für Humangeografie an der Universität Oslo (NO). Wenn die Schutzbedürftigsten unter uns in der ganzen Welt einem drastischen Temperaturanstieg ausgesetzt sind, "gehen für alle bestimmte Dinge verloren und keine Form der Anpassung kann diese ausgleichen", warnt die Forscherin. "Wenn wie die Werte nicht berücksichtigen, was für jeden von uns eigentlich wünschenswert ist und was unsere Vision der Welt bestimmt, wenn wir uns nicht bewusst sind, wie diese Werte durch den Klimawandel beeinträchtigt werden, schätzen wir unsere wahren Anpassungsfähigkeiten falsch ein."


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Quelle:
research*eu - Nr. 60, Juni 2009, Seite 20-21
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2009