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FORSCHUNG/321: Die Überwindung des "mentalen Bruchs" (research*eu)


research*eu Nr. 53 - September 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Die Überwindung des "mentalen Bruchs"

Von Julie Van Rossom


Im Lichte des Starts des Siebten Rahmenprogramms hat sich Janez Potocnik, Kommissar für Wissenschaft und Forschung, am 4. April 2007 daran gemacht, das große Vorhaben des Europäischen Forschungsraums, das man ein wenig aus den Augen verloren hatte, neu zu definieren. Für Bertil Andersson, den ehemaligen Direktor der Europäischen Wissenschaftsstiftung (EWS) und früheren Vizepräsidenten von EURAB (siehe unten: Von Straßburg nach Singapur), "beharren die Mitgliedstaaten darauf, Forschung als eine rein nationale Angelegenheit anzusehen".

Bertil Andersson: "Weder auf Unionsebene noch auf der Ebene der Mitgliedstaaten wird die Risikobereitschaft ausreichend gefördert."

FRAGE: Vor sieben Jahren wurde die Idee zur Schaffung eines Europäischen Forschungsraums als herausragendes Ziel der Forschungspolitik der Europäischen Union festgelegt. Wieso geht seine Durchführung nur so langsam voran?

BERTIL ANDERSSON: Als im Jahr 2000 die Idee zur Schaffung des EFR zur Debatte stand, war sich ganz Europa einig, dass diese Initiative einen Wendepunkt darstellte. Aber in all diesen Jahren ist der EFR über das Planungsstadium kaum hinausgekommen und erst jetzt konkretisiert er sich umfassend. Die meisten Staaten beharren weiterhin darauf, ihre Forschungspolitik vor allem anhand nationaler Prioritäten zu organisieren. Beispielsweise stellt Schweden lieber Mittel für seine eigenen Forschungsinstitute zur Verfügung, da es dann wahrscheinlicher ist, dass sich Forschungsergebnisse auf nationaler Ebene bemerkbar machen. Das Problem lässt sich also eher auf die traditionelle Einstellung der Mitgliedstaaten zurückführen als auf mangelnden Willen.

In den europäischen Laboratorien macht sich folglich eine Art "mentaler Bruch" bemerkbar: Einerseits ist man sich des EFR sehr wohl bewusst, da durch ihn mehr grenzübergreifende Kollaborationen möglich werden und damit auch die Forschungsbereiche, die Qualität und die Forschungsmittel erweitert werden. Im gegenwärtigen Zustand einer zersplitterten Forschungspolitik bleiben die Forscher andererseits von den nationalen Finanzierungen abhängig, die sie benötigen, um die Kontinuität ihrer Forschungsstrukturen zu bewahren, und deren geheime Pforten sie kennen. Sie kennen ihre nationalen Systeme, wogegen das europäische System oft als zu kompliziert angesehen wird.

FRAGE: Wie lassen sich europäische Mentalitäten verändern?

BERTIL ANDERSSON: Das von EU-Kommissar Potocnik veröffentlichte Grünbuch stellt eine sinnvolle Wiederbelebung dar, da es verschiedene europäische FuE-Akteure direkt in die Formulierung von Initiativen miteinbezieht, die zur Konkretisierung des EFR durchzuführen sind. Heutzutage beschränkt sich die Vision eines "Binnenmarkts" der Forschung auf ein paar noch recht unscharfe große politische Linien. Aber Standpunkte können sich nur unter dem Druck der aktuellen wirtschaftlichen Globalisierung herausbilden.

FRAGE: Ursprünglich war der EFR ein "top-down"-Konzept, eine Art Bergspitze, die von der Europäischen Kommission erarbeitet und den Mitgliedstaaten und der europäischen Wissenschaftsgemeinschaft vorgeschlagen wurde. Hat sich die Forschergemeinschaft des Ziels angenommen und Druck auf die nationalen Einrichtungen ausgeübt, um den EFR zu verwirklichen?

BERTIL ANDERSSON: Ja, im Fall einiger neuester großer Initiativen. Nein, hinsichtlich des erwähnten mentalen Bruchs, in dem sie gefangen bleibt. Die Errichtung des Europäischen Forschungsrates (European Research Council, ERC) und die unabhängige Finanzierung seiner Aktivitäten unter dem RP7 im Dezember 2006 gehen auf den Druck zurück, der an der Basis auf die politisch Verantwortlichen ausgeübt wurde. Bereits im Jahr 2000 hatte die Wissenschaftsgemeinschaft die Idee des Forschungsrates vorgebracht, und zunächst standen die Politiker diesem in Hinblick auf seine Belange sehr skeptisch gegenüber. Aber dank ihrer Ausdauer konnten die Forscher klarstellen, welchen Nutzen die Finanzierung der Grundlagenforschung haben kann und wie sie sich insbesondere auf die Schaffung von Spitzenforschungsprofilen in Europa auswirkt.

Dennoch ist die Bereitschaft der Wissenschaftler, die Errichtung des EFR bei ihren nationalen Organen zu unterstützen, oft abhängig von ihrem eigenen Forschungsbereich. Die Physiker beispielsweise sind sehr anspruchsvoll, da sie für ihre Forschungsarbeiten sehr teure Technologien benötigen. In technologisch weniger anspruchsvollen Bereichen oder in den Geisteswissenschaften liegen die benötigten, wesentlich geringeren Finanzmittel eher im Rahmen der nationalen Finanzierungsmöglichkeiten. Folglich ist der Druck hier weniger stark.

FRAGE: Ein immer wieder erhobener Vorwurf zur Forschung in Europa ist, dass ihre Innovationskapazität schwach sein soll. Wie sehen Sie das?

BERTIL ANDERSSON: Das ist eine wichtiger Punkt und ich verbinde ihn mit der Schaffung des ERC, da große technologische Entwicklungen in erster Linie aus der Grundlagenforschung hervorgehen - selbst wenn jeder weiß, dass das Risiko, gar nichts zu entdecken, in den noch unbekannten wissenschaftlichen Domänen größer ist.

In seinem Bestreben, eine innovative Forschung voranzutreiben, besteht der Fehler des europäischen Systems zur Bewertung von Projektvorschlägen in der Tendenz, die Risikofreudigkeit zu ersticken. Da europäische Projekte ständig neue Tätigkeitsberichte abgeben müssen, von denen die Weiterfinanzierung abhängt, stehen sie weit mehr als anderswo unter dem Druck, "Ergebnisse produzieren zu müssen". Das führt paradoxerweise dazu, dass die Wissenschaftler risikounfreudig werden. Sie entscheiden sich für bekanntere Forschungsbereiche, bei denen sie sich sicher sind, dass sie den Kriterien standhalten können. Risikobereitschaft wird nur ungenügend gefördert. Das gilt sowohl auf der Ebene der Europäischen Union als auch auf jener der Mitgliedstaaten. Dies ist ein Faktor, mit dem sich zweifellos erklären lässt, weshalb die Amerikaner mehr Nobelpreise erhalten als die Europäer.

FRAGE: Hängen die Schwierigkeiten bei der Realisierung des EFR auch mit dem Investitionsmangel im Bereich des Bildungswesens und der Förderung wissenschaftlicher Laufbahnen zusammen?

BERTIL ANDERSSON: Die Abwanderung europäischer Hochschulabsolventen lässt sich nicht nur aus den persönlichen finanziellen Vorteilen erklären, die sie im Ausland vorfinden. Natürlich stellt daher das Ziel, 3 % des BIP jedes Mitgliedstaates für die wissenschaftliche Forschung einzusetzen, einen wesentlichen Beitrag zur Bremsung dieses Phänomens dar. Jedoch trägt die unzureichende akademische Freiheit, mit der junge Forscher in Europa konfrontiert sind, genauso zur Abwanderung der besten Wissenschaftler bei wie die geringen öffentlichen Finanzmittel, unter denen sowohl das Bildungswesen als auch die Forschung leiden. Einen Postdoc in den USA 'dranzuhängen', bedeutet nicht nur mehr Chancen für große Subventionen, sondern auch die Möglichkeit, Forschungsarbeiten autonom durchzuführen und große Verantwortung zu übernehmen. Ganz klar, dass diese jungen Forscher im Exil hinsichtlich einer Rückkehr nach Europa zögern, wo man ihnen trotz ihrer hervorragenden Ausbildung meist nur vorschlägt, sich einer Forschungsgruppe unter Leitung eines erfahreneren Forschers anzuschließen. Wenn man jetzt auch noch die mageren Einkommen zur mangelnden Autonomie hinzuzählt, kann man verstehen, weshalb viele es vorziehen, ihre Laufbahn woanders zu gestalten...


Von Straßburg nach Singapur

Bertil Andersson war Leiter der Europäischen Wissenschaftsstiftung (European Science Foundation, ESF) und von 2004 bis 2007 Mitglied des Europäischen Forschungsbeirats, EURAB. Der schwedische Biochemiker hat erst vor kurzem seine europäischen Funktionen niedergelegt, um den Posten des Rektors der Technologischen Universität von Nanyang in Singapur zu übernehmen.

"Meine Abreise bedeutet kein mangelndes Interesse an Europa, absolut nicht. An dem Tag, an dem der EFR Wirklichkeit geworden ist, werde ich zu den ersten gehören, die vor Freude in die Luft springen", führt er aus. "Aber in Asien bewegen sich die Dinge in unfassbarer Weise. Riesige Investitionen aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor fließen in die Forschung. Ich habe mich für einen Posten entschieden, der es mir ermöglicht, diese 'asiatische Revolution' aus der Nähe mitzuerleben.

Für einen Wissenschaftler ist Mobilität ein wichtiger Weg, um sich im Laufe seines Lebens kontinuierlich weiterzubilden."

Weitere Informationen:
www.esf.org/ec.europa.eu/research/eurab/


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Quelle:
research*eu Nr. 53 - September 2007, Seite 16-17
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2008