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BERICHT/052: Mathematik ist keine Geheimwissenschaft (Unizet - TU Dortmund)


UNIZET Nr. 397, 02/08, Technische Universität Dortmund

Interview mit Prof. Christoph Selter zum Jahr der Mathematik

Mathematik ist keine Geheimwissenschaft


Über die Bedeutung dieser Jahrtausende alte Wissenschaft sprach Angelika Willers mit Mathematikprofessor Christoph Selter, dem Leiter des Instituts für Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts.


FRAGE: Herr Prof. Selter, was erhoffen Sie sich vom Jahr der Mathematik?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Wir verstehen Mathematik nicht als trockene, für viele prinzipiell unverständliche Geheimwissenschaft von ein für alle Mal feststehenden Regeln, Verfahren und Begriffen, die den Schülerinnen und Schülern Schritt für Schritt beigebracht werden müssen. Im Gegensatz dazu propagieren wir Mathematik als lebendige, prinzipiell für alle zugängliche Wissenschaft von den Mustern und Beziehungen: Zahlenmuster, Formenmuster, kombinatorische Muster, logische Muster und so weiter. Insofern ist die Mathematik gewissermaßen eine Brille, die Menschen zunehmend besser in den Stand versetzt, statt Einzelfakten Zusammenhänge zu sehen und zu nutzen. Wir wollen mit unseren Aktivitäten im Jahr der Mathematik dazu beitragen, diese, die andere Seite der Mathematik bekannter zu machen.

FRAGE: Können Sie das an einem allgemein verständlichen Beispiel illustrieren?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Stellen Sie sich ein Lottospiel mit sechs Kugeln vor, auf denen die Zahlen von 1 bis 6 stehen. Auf Ihrem Tippzettel kreuzen Sie nun zwei Zahlen an, zum Beispiel die 3 und die 5. Zur Beantwortung der Frage nach den Gewinnchancen muss man sich überlegen, wie eine Ziehung verlaufen kann. Für die erste Kugel gibt es sechs Möglichkeiten, denn alle Zahlen von 1 bis 6 können gezogen werden. Nehmen wir an, als erstes würde die 6 gezogen, dann blieben noch 5 Kugeln für die zweite Ziehung übrig (1 bis 5). Insgesamt gibt es also 6 mal 5 verschiedene Ziehungen, denn als erste Kugel könnte nicht nur die 6, sondern jede andere Zahl gezogen werden. Beim Lotto ist es nun egal, ob Sie zunächst die 6 und dann die 3 ziehen oder umgekehrt. Das heißt, dass Sie die 6 mal 5 gleich 30 noch durch 2 dividieren müssen. Mit Ihren Zahlen 3 und 5 gewinnen Sie also in einem von 15 Fällen. Analog kann man sich nun überlegen, wie Ihre Chancen beim Lotto in der Variante '6 aus 49' aussehen.

FRAGE: Bei vielen Schülerinnen und Schülern ist das Fach Mathematik sehr unbeliebt. Woran liegt das?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Das kann man so nicht sagen. In der Grundschule haben die Kinder häufig neben Sport ein weiteres Lieblingsfach, die Mathematik. Das ändert sich häufig erst in der Sekundarstufe I. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Der Hauptgrund ist vermutlich, dass Schülerinnen und Schüler - trotz der Bemühungen der Lehrkräfte - mehr und mehr Schwierigkeiten haben, die Sinnhaftigkeit der Ihnen nahegebrachten Mathematik einzusehen und tragfähige Verständnisgrundlagen aufzubauen. Wenn man nicht weiß, was man tut und warum, dann kann sich keine positive Einstellung entwickeln.

FRAGE: Wie könnte denn guter Mathematikunterricht an Schulen aussehen?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Es gibt schon eine ganze Reihe von Schulen, an denen guter Mathematikunterricht realisiert wird - ein Unterricht, der den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit gibt, in mathematischen Lernumgebungen eigene Lernwege gehen zu können, um so die durch die Lehrpläne vorgegebenen Ziele erreichen zu können. Guter Mathematikunterricht hat stets zwei Dinge im Blick, vereinfacht gesagt: Die Schüler sollen rechnen lernen, und sie sollen denken lernen. Die neuen Lehrpläne formulieren demzufolge nicht nur sogenannte inhaltsbezogene, sondern auch prozessbezogene Kompetenzen. Wir hoffen, im Jahr der Mathematik durch Veranstaltungen für Schüler, Lehrer und für die interessierte Öffentlichkeit, dieses neue Bild von Mathematikunterricht noch bekannter zu machen.

FRAGE: Wie könnte dieser Transfer von den Hochschulen zu den Lehrern geleistet werden?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Indem man die Kernaufgabe der Didaktik darin sieht, auf wissenschaftlicher Grundlage praxistaugliche Konzeptionen, Materialien und Lernumgebungen zu entwickeln und zu erforschen. Dieser Aufgabe kommt unser Institut seit vielen Jahrzehnten nach. Ganz zentral dabei sind intensive und nachhaltige Kontakte zur Praxis durch die Organisation von Lehrerfortbildungen, die Teilnahme an Lehrertagen oder das Engagement in der Entwicklung von Schulbuchwerken.

FRAGE: Was geben Sie Ihren Lehramts-Studierenden mit auf den Weg?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Wir legen einerseits großen Wert auf den Erwerb des aus unserer Sicht notwendigen berufsbezogenen Hintergrundwissens, das sie darauf vorbereiten soll, in der Praxis reflektiert zu reagieren und nicht kurzfristigen didaktischen Moden anzuhängen. Andererseits geht es uns darum, dass die Studierenden ihre eigene Schulerfahrung kritisch hinterfragen und ein anderes Bild von Mathematik (Mathematik als Aktivität), von Schülerinnen und Schülern (Kinder sind kompetent) und von Mathematikunterricht (Zielgerichtete Auseinandersetzung mit substanziellen Lernumgebungen) entwickeln.

FRAGE: Mit dem Jahr der Mathematik wird diese Disziplin in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Wird sich das künftig auch positiv auf die Zahl der Studierenden auswirken?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Im Lehramtsbereich haben wir viele Studierende, im Bereich der Grundschule sind es sogar deutlich zu viele, denen wir aufgrund unserer Personalsituation trotz gewisser Entspannungen in den letzten zwei Jahren kaum wirklich gerecht werden können. Für unsere Fachstudiengänge hoffen wir natürlich auf steigende Zahlen.

FRAGE: Wie werden Sie am 1. Januar 2009 auf das Jahr der Mathematik zurück blicken?

PROF. CHRISTOPH SELTER: Ich hoffe natürlich zum einen, dass es nicht nur in Dortmund, sondern auch bundesweit viele gut verlaufene Aktionen gegeben haben wird, die zu einem Wandel des Bildes von Mathematik und von Mathematikunterricht einen je spezifischen kleinen Beitrag geleistet haben werden. Bei aller Begeisterung muss man da natürlich realistisch bleiben. Entwicklungen benötigen Zeit. Daher hoffe ich zum zweiten, dass das Mathematikjahr nicht nur als Jahr in Erinnerung bleiben wird, in dem es das ein oder andere öffentlichkeitswirksame Event gab, sondern als Jahr, von dem nachhaltige Impulse ausgehen. Für uns wird 2009 wieder ein Jahr der Mathematik sein.


Info:
www.jahr-der-mathematik.de
www.mathematik.uni-dortmund.de/ieem
www.kira.uni-dortmund.de


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Quelle:
Unizet Nr. 397, 02/08, Seite 7
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit der TU Dortmund
Baroper Str. 285, 44221 Dortmund
Telefon: 0231/755-54 49
E-Mail: redaktion.unizet@tu-dortmund.de
Internet: www.tu-dortmund.de/unizet

UNIZET erscheint neun Mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2008