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BERICHT/055: Worauf zielt Mathematik? (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 1/2 - 2008
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Die Macht der Zahlen
Worauf zielt Mathematik?
Wie Mathematiker denken

Von Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene


Wer allgemein charakterisieren will, was Mathematik ist, stößt schnell auf Schwierigkeiten. Womit beschäftigt sich Mathematik, was ist ihr Gegenstandsbereich? Ein Philosoph und Wissenschaftstheoretiker der Leibniz Universität Hannover zeigt die Eigenheiten des mathematischen Zugangs zu einer Fragestellung.


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Vielleicht haben Sie schon einmal gehört, Mathematik beschäftige sich mit "abstrakten Strukturen". Diese Angabe ist allerdings für diejenigen, die mit Mathematik nicht schon vertraut sind, nicht gerade informativ - wenn nicht einfach unverständlich. Eine verständlichere Angabe, die vielleicht an Schulerinnerungen anknüpft, wäre, Mathematik beschäftige sich mit Zahlen und geometrischen Figuren. Aber diese Angabe hat den Nachteil, dass sie heute derart hoffnungslos veraltet ist, dass sie extrem irreführend ist.

Aufgrund dieser Schwierigkeiten wähle ich einen anderen Weg zur Charakterisierung dessen, was Mathematik ist. Ich werde erläutern, durch welche Charakteristika der mathematische Zugang zu einem Gegenstandsgebiet geprägt ist; anders gesagt, worauf Mathematik zielt. Allerdings werden Mathematiker vielleicht ihre tägliche Arbeit darin nicht sogleich erkennen, denn ich werde die ganz grossen Linien der Mathematik in den Blick nehmen, gewissermaßen aus einer Außenperspektive. In der täglichen Arbeit, insbesondere in der angewandten Mathematik, sind diese allgemeinen Charakteristika der Mathematik nicht so dominant. - Und dies sind die drei zu diskutierenden Charakteristika der Mathematik: ihre Abstraktionstendenz, ihre Axiomatisierungstendenz und die Verpflichtung, aufgestellte Behauptungen lückenlos zu beweisen.

Die Abstraktionstendenz des mathematischen Zugangs zeigt sich in einer rigorosen Beschränkung auf das, was in einem bestimmten Kontext das "Wesentliche", der Kern der Sache ist. Das sind vielfach die besonderen Relationen, die zwischen verschiedenen Objekten bestehen. Die Idee dahinter ist, dass man auf diese Weise die Zusammenhänge, die zwischen verschiedenen Eigenschaften der untersuchten Objekte bestehen, am durchsichtigsten machen kann. Diese abstrakte Charakterisierung ist für jemanden, der wenig mit Mathematik vertraut ist, sicherlich nicht besonders vielsagend; betrachten wir daher konkrete Beispiele.

Beginnen wir mit einem Schulbeispiel, der Formel (a + b)2 = a2 + 2ab + b2. Vielleicht haben Sie sich schon damals in der Schule gefragt, wie man eigentlich Buchstaben addieren kann, und diese Frage hat Sie womöglich etwas ratlos zurückgelassen. Nun, die Antwort ist, dass niemand Buchstaben addieren kann, auch kein Mathematikgenie. Vielmehr sind die Buchstaben in dieser Formel sogenannte Platzhalter, d.h. sie halten jeweils einen Platz frei. Wofür? Für bestimmte Zahlen, die man statt der Buchstaben einsetzen kann, z.B. 2 für a und 3 für b; in diesem Fall ergäbe sich (2 + 3)2 = 22 + 2.2.3 + 32. Wenn man das ausrechnet, ergibt sich tatsächlich auf beiden Seiten der Gleichung 25, d.h. die Gleichung stimmt.

Was immer man für die Platzhalter a und b einsetzt, die Gleichung stimmt, denn es handelt sich um ein Gesetz für Addition und Multiplikation, und das ist der Witz der Gleichung, die mit Platzhaltern geschrieben ist. Sie drückt einen Zusammenhang aus, der für alle Zahlen gilt, weshalb man von den konkreten Zahlen abstrahieren und diesen Zusammenhang mit Buchstaben als Platzhaltern für alle möglichen Zahlen formulieren kann. Und das zeigt die Abstraktionstendenz der Mathematik: Statt eine unendliche Menge von Gleichungen (1 + 1)2 = ... und (1 + 2)2 = ... und (1 + 3)2 = ... usw. hinzuschreiben, abstrahiert man von den konkreten Zahlen und schreibt einfach (a + b)2 = ... mit den Platzhaltern statt konkreter Zahlen und kann so ein Gesetz der Addition und Multiplikation allgemein ausdrücken.

Doch nun müssen wir bezüglich der Abstraktion in der Mathematik etwas zulegen. Was ist das Gemeinsame der Addition von ganzen Zahlen, den Drehungen eines Rades um einen bestimmten Winkel und dem Kartenmischen? Diese Frage mag Sie an Fragen von der Art erinnern, wie sie mir mein Vater als Kind gestellt hat: Was hast Du mit einem Seelöwen gemeinsam? "Dass sich beide nicht rasieren!", war die Antwort. Aha - also nichts. Doch das ist bei unserem Beispiel anders. Allerdings treten die Gemeinsamkeiten der Addition von ganzen Zahlen, mehrmaligen Drehungen eines Rades und dem Kartenmischen erst zu Tage, wenn man von den konkreten Details dieser drei Operationen ziemlich kräftig abstrahiert. Hier sind solche Gemeinsamkeiten (sie klingen vielleicht zunächst etwas trivial): 1. "Aus zwei wird eins": zwei ganze Zahlen addiert ergibt wieder eine ganze Zahl, zwei mal das Rad gedreht ist wieder eine Raddrehung und zwei mal die Reihenfolge der Karten geändert ist wieder eine Änderung der Reihenfolge der Karten. 2. Wenn man drei Operationen dieser Art ausführt, dann spielt es keine Rolle, ob man zuerst die erste und die zweite ausführt und dann die dritte, oder ob man zuerst die erste ausführt und ihr das Resultat der zweiten und dritten hinzufügt. 3. Es gibt eine Operation, die nichts verändert: die Null addieren, das Rad nicht drehen und nicht Mischen (ich weiß, das klingt trivial, aber in vielen anderen Situationen des Lebens gibt es keine "neutrale Operation": Auch Nichts-Tun hat oft Wirkungen). 4. Man kann alle diese Operationen rückgängig machen: das Negative der vorher addierten Zahl addieren, die Drehung in umgekehrter Richtung ausführen, die ursprüngliche Reihenfolge der Karten wieder herstellen (trivial? Dann versuchen Sie doch mal rückgängig zu machen, dass Sie soeben Zucker in Ihren Tee gerührt haben!). Wenn man nun von den konkreten Details der drei Operationen absieht, d.h. abstrahiert, und nur diese vier Eigenschaften in den Blick nimmt, dann hat man einen typischen mathematischen Gegenstand vor sich: eine Menge von abstrakten Objekten, für die eine Operation mit bestimmten Eigenschaften definiert ist. Eine Menge, für deren Elemente eine Operation definiert ist, die die obigen vier Eigenschaften hat, heißt eine Gruppe (bitte denken Sie dabei nicht an Ihre Selbsthilfegruppe vom letzten Dienstag - solche Gruppen haben mit mathematischen Gruppen nichts zu tun).


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INFO-KASTEN

Eine Gruppe ist eine Menge von Elementen zusammen mit einer Operation, die jeweils zwei Elementen der Menge ein Element der gleichen Menge zuordnet. Für Elemente a, b und c der Menge und dem Symbol ° für die Operation kann man das so schreiben: a ° b → c.
Folgende Gesetze gelten in einer Gruppe für die Operation °:
1. a ° b → c, wobei c wieder der Menge angehört.
2. a ° (b ° c) = a ° (b ° c) (das sogenannte "Assoziativgesetz").
3. Es gibt ein "neutrales" Element e in der Menge, das gar nichts bewirkt: a ° e = e ° a = a
4. Zu jedem Element a der Menge gibt es ein "inverses" Element (geschrieben a-1), das die Wirkung von a rückgängig macht: a ° a-1 = a-1 ° a = e.
Im ersten Beispiel im Text sind die ganzen Zahlen die Elemente der Menge und die Addition die Operation. Im zweiten Beispiel sind die Raddrehungen die Elemente der Menge und das Hintereinander-Ausführen von Raddrehungen die Operation. Im dritten Beispiel sind die Veränderungen der Kartenreihenfolge die Elemente der Menge und das Hintereinander-Ausführen solcher Veränderungen die Operation.


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Im Info-Kasten oben habe ich die vier Eigenschaften noch einmal zusammengefasst und eine Definition der mathematischen Gruppe gegeben.

Aber wozu sollen solche Abstraktionen gut sein? Was ist mit ihnen gewonnen? Dreierlei kann hier genannt werden. Einmal kanalisiert eine Abstraktion den Blick: Das, wovon abstrahiert wurde, ist verschwunden, übrig bleibt etwas, was man für wichtig hält: und das kann man nun in aller Reinheit betrachten, und wird nicht von den Zufälligkeiten irgendwelcher konkreter Objekte abgelenkt. Dann kann man oft Gemeinsamkeiten zwischen bisher als grundsätzlich verschieden gesehenen Gebieten entdecken, und dies ist ein wesentliches Element des Fortschritts in der Mathematik: Wenn die abstrakte Betrachtung gezeigt hat, dass bislang als verschieden angesehene Gebiete strukturell gleich sind, dann lassen sich die Methoden des einen Gebiets auf das andere übertragen. Als Beispiel möchte ich die analytische Geometrie nennen, die im 17. Jahrhundert von René Descartes begründet wurde. Sie stiftet eine Verbindung zwischen der Algebra, die sich z.B. mit Gleichungen beschäftigt, in denen Platzhalter vorkommen, und einem dem Augenschein nach absolut andersartigen Gebiet, der Geometrie, die sich mit Punkten, Geraden, Kreisen, Dreiecken und Ähnlichem beschäftigt. Descartes konnte zeigen, dass man viele geometrische Probleme, für deren Lösung man Zeichnungen und die Anschauung braucht, in algebraische Probleme überführen kann, für deren Lösung man nur zu rechnen braucht. Umgekehrt kann man viele algebraische Probleme geometrisch veranschaulichen - und auch das kann nützlich sein. Als dritten Nutzenpunkt mathematischer Abstraktionen kann man feststellen, dass mathematische Strukturen (wie z.B. die Gruppe) in ungeahnt vielen Bereichen höchst fruchtbar angewendet werden können, z.B. in der Chemie und der Physik.

Die zweite für die Mathematik charakteristische Tendenz besteht in der Axiomatisierung. In einer ersten Annäherung besteht die Axiomatisierung darin, dass man in die Menge der Aussagen, die in einem bestimmten Gebiet gelten, Ordnung bringt. Diese Ordnung besteht darin, dass man eine möglichst kleine Teilmenge aller dieser Aussagen isoliert, die die Eigenschaft hat, dass die anderen Aussagen aus ihnen logisch folgen; in dieser (kleinen) Teilmenge von Aussagen, den Axiomen, ist dann das ganze Wissen über das Gebiet repräsentiert. Die Aussagen über das Gebiet fallen somit in zwei Klassen, einmal die Axiome und dann die Theoreme, die man aus den Axiomen ableiten und damit beweisen kann. Die Axiome selbst lassen sich natürlich nicht beweisen, eben weil ein Beweis aus der Ableitung aus Axiomen besteht. Bis zum 19. Jahrhundert glaubte man insbesondere in Arithmetik und Geometrie die Wahrheit der Axiome auf direkte Weise einsehen zu können, also ohne Beweis. Aber das 19. Jahrhundert brachte für die Mathematik eine tiefgreifende Revolution, und an seinem Ende hatte sich die Auffassung von den Axiomen grundlegend gewandelt. Der Grund ist der Abstraktionsschritt, den ich oben für den Begriff der Gruppe vorgeführt habe und der in analoger Weise auch für andere Gebiete der Mathematik durchgeführt worden war, insbesondere auch für die Geometrie. Die Axiome, die für eine mathematische Gruppe gelten, sind im Kasten aufgelistet. Kann man fragen, ob sie wahr sind? Das kann man nicht, denn a, b und c sind nur eine Art Platzhalter - ebenso wie die Operation °. Sobald ich aber für a, b und c z.B. ganze Zahlen und für ° die Addition einsetze, oder für a, b und c Drehungen eines Rads um einen bestimmten Winkel und für ° das Hintereinander-Ausführen solcher Drehungen, dann werden die Axiome wahrheitsfähig - tatsächlich sind sie dann wahr. Mit dem Abstraktionsschritt von konkreten Gegenständen zu Platzhaltern verlieren alle Aussagen ihre Wahrheitsfähigkeit, die Axiome natürlich eingeschlossen, weil sie keinen Gegenstandsbezug mehr haben, also von nichts mehr wahr sein können. Damit stellt sich die Frage nach der Wahrheit der Axiome gar nicht mehr. Vielmehr ist die Frage jetzt, welche Theoreme man aus bestimmten Axiomen ableiten kann, wobei man die Axiome als gegeben voraussetzt. Zum Beispiel: Wenn für irgendwelche Objekte a und b und für die Operationen + und die Rechenregeln der üblichen Addition und der üblichen Multiplikation gelten, dann kann ich die Formel (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 beweisen. Die Aussagen der Mathematik werden wesentlich konditional: Wenn die und die Axiome gelten, dann gelten die folgenden Theoreme. Die Wahrheitsfrage für die Axiome selbst verschwindet; sie tritt erst bei der Konkretisierung eines Axiomensystems für eine bestimmte, z.B. physikalische Situation auf, aber das ist dann keine mathematische Frage. Im Prinzip können Mathematiker jedes beliebige widerspruchsfreie Axiomensystem untersuchen. Tatsächlich aber untersuchen sie nur solche, die aus irgendeinem Grunde interessant sind, z.B. aus Anwendungsgesichtspunkten oder wegen innermathematischer Fruchtbarkeit. Mathematiker können in der Einschätzung, welche Axiomensysteme interessant sind, durchaus verschiedener Meinung sein, aber der Streit darüber ist kein mathematischer Streit. So werden in der Mathematik völlig problemlos verschiedene Axiomensysteme untersucht, die sich gegenseitig widersprechen.

Ein drittes Charakteristikum der Mathematik besteht darin, dass für alle aufgestellten Behauptungen lückenlose Beweise gegeben werden müssen (das gilt natürlich nicht für Axiome und Definitionen, die den Status von Konventionen haben, also keine Behauptungen sind). Dieses Charakteristikum steht in engstem Zusammenhang mit der gerade genannten Tendenz zur Axiomatisierung. In einem axiomatisierten System ist klar, was alles in den Beweis einer Behauptung eingehen darf: die Axiome, Definitionen, und bereits bewiesene Sätze. Sind zudem die Schlussregeln explizit angegeben, die bei Beweisen verwendet werden dürfen (was in der Mathematik normalerweise nicht der Fall ist, aber typischerweise sind sie völlig unkontrovers), so kann jeder Schritt eines Beweises explizit gemacht werden. Allerdings ist hier anzumerken, dass die Vorstellungen darüber, was in der Mathematik als ein lückenloser Beweis angesehen wird bzw. wurde, einem gewissen historischen Wandel unterliegen. So war in der Geometrie vor dem 19. Jahrhundert der Rekurs auf anschauliche Verhältnisse in Beweisen ein völlig legitimer Schritt, was nach dem oben skizzierten Wandel der Mathematik im 19. Jahrhundert nicht mehr der Fall war. Mit diesen drei Tendenzen zu Abstraktion, Axiomatisierung und lückenlosen Beweisen kann man verstehen, wie sich die Mathematik aus ihren einfachsten Anfängen des Zählens und Figurenzeichnens bis zu ihrer heutigen fast unübersehbaren Fülle und Abstraktheit entwickelt hat.


Danksagung

Ich danke Prof. Herbert Breger, Prof. Klaus Hulek und Dr. Thomas Reydon für konstruktiv-kritische Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.

Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene, Jahrgang 1946, ist Philosoph und Physiker und seit 1997 Leiter der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik der Leibniz Universität Hannover.


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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 1 / 2 - 2008, Seite 6-8
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
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Herausgeber: Das Präsidium der Leibniz Universität Hannover in
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2008