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BERICHT/066: Pierre Deligne - Freude an der Mathematik (research*eu)


research*eu - Nr. 59, März 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Freude an Mathematik

Von Alexandre Wajnberg


Er wurde bereits mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, darunter auch der Fields-Medaille, und kennt die klügsten Köpfen seiner Zeit. Pierre Deligne ist einer der ganz großen Mathematiker seines Jahrhunderts und dennoch geht von ihm eine beeindruckende Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit aus. Er ist Professor am Institute for Advanced Study in Princeton (USA) und sein Talent hat ihm wieder einmal eine Auszeichnung eingebracht, den Wolf-Preis in Mathematik.


Es ist der 24. Mai 2008, ein milder Frühlingsabend. Während die Gäste beim Aperitif sind, bewegen sich zwei Silhouetten diskret hinaus auf die Terrasse des Restaurants. Pierre Deligne und seine Frau haben sich für einen Augenblick aus der Menge zurückgezogen und bewundern im Schein der Straßenlaternen die Sterne und in der Ferne Jerusalem, das sich am Fuße des Skopus erstreckt. Am nächsten Tag wird ihm zusammen mit David Mumford und Philip Griffiths in der Knesset der Wolf-Preis verliehen. Alle drei sind führend auf dem Gebiet der algebraischen Geometrie, einer Disziplin, die für ihre Anmut und ihre Schwierigkeiten bekannt ist.

Die Mathematik liegt ihm im Blut. "Ich erinnere mich noch, wie ich in der Grundschule war. Da haben wir ein Experiment gemacht, bei dem die Oberfläche des Kreises im Vergleich zur Oberfläche einer Scheibe gemessen werden sollte. Der Lehrer rollte ein Seil um die ganze Kugel und verglich seine Länge mit der Länge des gleichen Seils, das spiralenförmig auf der Fläche der Scheibe lag. Ich hatte wohl gesehen, dass dieser Beweis keiner war! Eine Fläche mit einer Länge zu messen... aber es war bereits aus mathematischer Sicht sehr interessant."

Mit zwölf Jahren etwa, als sein Bruder an der Universität studierte, las er Mathematikbücher und fragte ihn nach Erklärungen. "Ich wunderte mich, dass man Gleichungen dritten Grades durch Ziehen der Quadrat- und Kubikwurzeln in etwas komplizierten Formeln lösen konnte, und dass das auch für Gleichungen vierten Grades, aber nicht für Gleichungen fünften Grades klappte. Das fand ich erstaunlich!"

Daher gab ihm Herr Nijs, der Vater eines Freundes bei den Pfadfindern und Mathelehrer, ganz selbstverständlich ein Buch, das normalerweise niemand einem 14-jährigen Kind schenken würde: nämlich die "Mengenlehre" von Bourbaki! Diese sehr abstrakte Abhandlung erläutert methodisch von Anfang an ein ganzes Gebiet der Mathematik. "Ich habe ein Jahr gebraucht, um es zu lesen, die Übungen zu machen und es zu verstehen, denn das ist ja das Wichtigste. Aber es hat sich gelohnt! Denn darin lernte ich, was das Ideal der mathematischen Strenge ist. Und wenn man dieses Ideal erst einmal verstanden hat, fühlt man sich viel freier, davon abzuweichen, da man weiß, dass man wieder dorthin gelangen kann."

An der Freien Universität Brüssel, wo er bereits im Alter von 16 Jahren Seminare für Promotionsstudenten besuchte, wussten das alle! Später lenkte ihn Jacques Tits, einer seiner Professoren, der später die mathematische Theorie der Gebäude erfand, nach Paris an das berühmte IHES (Institut des Hautes Études Scientifiques), wo unter der Anregung von Alexander Grothendieck die mathematischen Superhirne die algebraische Geometrie überarbeiteten, um daraus ein Monument des menschlichen Denkens zu errichten.


Die algebraische Geometrie

Es dauerte Jahrhunderte, bis man verstand, dass Geometrie und Algebra in vielen Fällen Ausdruck der gleichen zugrunde liegenden Realität sind und sich dabei nur einer anderen Sprache bedienen. Pierre Deligne arbeitet überwiegend auf dem Gebiet der algebraischen Geometrie. Hierbei handelt es sich um eine vielseitige Disziplin, besonders weil sie überall dort angewendet wird, wo man es mit Polynomen zu tun hat.

"Um sich davon eine Vorstellung zu machen, kann man von bekannten Diagrammen ausgehen, bei denen ein Punkt auf der Fläche in Beziehung zu zwei lotrechten Achsen eingetragen wird und wo eine Kurve die Beziehung zwischen diesen Punkten darstellt, wie zum Beispiel die Entwicklung einer Größe im Laufe der Zeit (Temperaturkurve, Börsenkurse). Die Verwendung dieser kartesischen Koordinaten geht auf Fermat und Descartes zurück. So sind die Punkte (x, y), da x und y eine Gleichung ersten Grades wie etwa 2x + 3y - 6 = 0 erfüllen, Punkte auf einer Geraden - daher der Ausdruck lineare Gleichung. Analog dazu wird ein Punkt im Raum, der auf drei lotrechte Achsen übertragen wird, von drei Zahlen gekennzeichnet, und eine Fläche entspricht einer linearen Relation (ersten Grades) zwischen diesen Zahlen. Hier liegt der Anfang eines Lexikons mit geometrischen Figuren und algebraischen Ausdrücken. Es ermöglicht uns, auf die einen - völlig anders geartete - Intuitionen anzuwenden, die wir von den anderen haben, und diese Intuitionen zu erweitern, um unser Verständnis zu vertiefen."

Es handelt sich also um ein Hin und Her zwischen Algebra und Geometrie. Eine komplexe, multidimensionale Form, die so kompliziert ist, dass man sie sich nicht mehr vorstellen kann, lässt sich jedoch in algebraischen Begriffen ausdrücken und umgekehrt. Indem man sich also auf das eine Gebiet stützt, kann man Fortschritte auf dem anderen machen.


Eine berühmt gewordene Vermutung

Im Jahr 1970 wird Pierre Deligne mit 25 Jahren ständiges Mitglied des IHÉS, an dem er die Arbeiten seines Professors Alexander Grothendieck weiterführt. 1973 wird er auf spektakuläre Weise durch den Beweis einer Reihe von sehr schwierigen Vermutungen, die 1949 von André Weil aufgestellt wurden und die insbesondere die Analogien der Riemann'schen Zeta-Funktion betreffen, bekannt.

Ein Teil der kreativen Arbeit des Forschers auf dem Gebiet der Mathematik besteht darin, Theoreme vorzuschlagen, bei denen es sich, solange sie nicht bewiesen sind, um Vermutungen handelt. Sie können teilweise durch Intuition, durch deduktive und induktive Überlegung aufgestellt werden, müssen aber zu einem Beweis führen, bei dem Strenge unerlässlich ist. Eine einfach zu formulierende Vermutung kann jahrhundertelange Arbeit erfordern, entweder um sie mit einem Gegenbeispiel zu widerlegen oder um sie zu bestätigen, wie die berühmte Fermat'sche Vermutung, die im 17. Jahrhundert aufgestellt, aber erst 1994 von Andrew Wiles bewiesen wurde.

Den drei Weil-Vermutungen zufolge müsste es möglich sein, Informationen über die Anzahl der Lösungen bestimmter Gleichungssysteme (polynominale Gleichungen über einen endlichen Körper) zu erlangen, und zwar über die Formen, die die Graphen der Lösungen haben müssten. Auf diese Weise konnte man ausgehend von topologischen Konzepten algebraische Ergebnisse erhalten. Weil war davon überzeugt, aber der Beweis ist ihm nie gelungen.

Deligne kombinierte einen neuen Zweig der von Grothendieck entwickelten Topologie (die etale Kohomologie) mit den Teilergebnissen, die Robert Rankin an einer alten Vermutung von Ramanujan erzielt hatte und die scheinbar "nichts damit zu tun hatten", und 1973 gelang ihm sein berühmter Beweis. Mit diesem einmaligen Ergebnis wurde zum einen ein wichtiges mathematisches Problem gelöst, aber zum anderen auch bewiesen, dass disparate Themen in Wirklichkeit miteinander verknüpft sind. Damit wurde Deligne im Handumdrehen berühmt. Für seine Verdienste um die Beziehungen zwischen algebraischer Geometrie und Zahlentheorie wurde ihm von der Internationalen Mathematischen Union 1978 die Fields-Medaille verliehen.

Pierre Deligne hat auch selbst Hypothesen aufgestellt, die von anderen Forschern bewiesen wurden und die verschiedene Bereiche der Mathematik und sogar der Physik, wie beispielsweise die Stringtheorie, verständlich machen.


Das IAS in Princeton

Im Jahr 1980 heiratete Deligne Elena Wladimirowna Alexjewa, mit der er jetzt zwei Kinder hat, und ging mit seiner Familie in die USA, wo er seine Forschungsarbeiten am Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton fortsetzt. Bei ihm findet man diese unbändige Freude, scheinbar verschiedenartige Bereiche miteinander zu verknüpfen - Gruppentheorie, Topologie, Grothendieck'sche Theorie der Motive -, was eine umfassende mathematische Bildung, intellektuelle Flexibilität und eine außergewöhnliche Kreativität voraussetzt: "Ich finde, wenn verschiedene Personen die gleiche Sache beschreiben, gibt es verschiedene Gesichtspunkte, und beim Aufeinandertreffen der Punkte kommt Licht in die Sache! Wenn meine Kinder Schwierigkeiten in Mathe hatten, ging es ihnen immer sehr auf die Nerven, wenn ich ihnen das Problem aus fünf verschiedenen Sichtweisen erklärte, denn sie wollten doch nur DIE richtige Lösung!"

Pierre Deligne fühlt sich sehr der russischen Mathematikschule verbunden, mit der er seit 1971 zusammentrifft. Sie gehört zu den brillantesten Einrichtungen des 20. Jahrhunderts, doch leidet auch sie heute unter der Abwanderung von Forschern. Damit junge Mathematiker in ihrem eigenen Land arbeiten können, hat er mithilfe des Balzan-Preises, den er im Jahr 2004 erhielt, den Pierre-Deligne-Preis ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um Stipendien, die alle drei Jahre von der Unabhängigen Universität Moskau vergeben werden.

Deligne mag einfache Freizeitbeschäftigungen wie Gartenarbeiten, Wandern oder Radfahren. Pierre Deligne, warum beschäftigen Sie sich also mit Mathematik? "Na, weil es schön ist!"


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Pierre Deligne: "Die Lösung von Aufgaben mithilfe von Methoden, die auf den ersten Blick rein gar nichts mit der gestellten Aufgabe zu tun haben, ist für mich eine der größten Freuden, die die Mathematik professionellen Mathematikern bietet."


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Quelle:
research*eu - Nr. 59, März 2009, Seite 32-33
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2009