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KULTUR/081: Das Ornament - Schlüssel zu fremden Kulturen (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 1/2010

Das Ornament - Schlüssel zu fremden Kulturen

Von Doris Kaufmann

Bastrindenstoffe, Ethnologisches Museum Berlin, Südseeabteilung - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Bastrindenstoffe, Ethnologisches Museum Berlin, Südseeabteilung

Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre lieferten sich Völkerkundler, Kunsthistoriker, Architekten, Prähistoriker, Entwicklungspsychologen und Soziologen einen erbitterten Streit über die Ornamentik insbesondere der sogenannten Naturvölker. Wie die Ornamente überhaupt Gegenstand der Wissenschaft wurden und in den Mittelpunkt der Ethnologie rückten, wird derzeit am Institut für Geschichtswissenschaft untersucht.

Mitgetragen von expressionistischen Künstlern, Reiseschriftstellern und Journalisten wurde die transdisziplinäre wissenschaftliche Debatte über Ornamente auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. So formte sich das populäre Bild von der "Kultur der Kulturlosen" - so ein Titel in der volkspädagogischen Reihe der Gesellschaft der Naturfreunde, verfasst vom Direktor des Leipziger Völkerkundemuseums 1910.

Nichts weniger als der Ursprung des Menschen und die Entwicklung der Menschheit hin zur (westlichen) Zivilisation standen im Mittelpunkt der Debatte über das geistige Leben der prähistorischen und äußereuropäischen "Primitiven". Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerte sich der Schwerpunkt des Ornamentdiskurses auf eine Neubestimmung von Kunst und Kreativität.

Körperornamentik der Naturvölker - Karl von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst, BD 1, Berlin 1925, Abbildung Seite 105 - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Karl von den Steinen,
Die Marquesaner und ihre Kunst,
BD 1, Berlin 1925, Abbildung Seite 105

Die Stunde der Ornamentik

Es waren Kapitäne, Kaufleute, Abenteurer, Globetrotter und zunehmend professionelle Völkerkundler, die von ihren Expeditionen für den europäischen Geschmack ästhetische wie außergewöhnliche, absonderliche und fremde Dinge nach Europa mitbrachten. Ihre besondere Aufmerksamkeit richtete sich von Beginn an auf ornamentierte Gegenstände.

Prominent präsent in den Sammlungen der Völkerkundemuseen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, auf Völkerschauen, in Welt-, Kolonial- und Gewerbeausstellungen, auf Kolonialpostkarten und -briefmarken, auf Sammelbildern, in illustrierten Zeitschriften wie der "Gartenlaube", auf Buchtiteln von Abenteuer-, Jugend- und Reiseliteratur, in Musterbüchern, als Motiv in belletristischer Literatur und als Gegenstand von wissenschaftlichen Monographien und Aufsätzen. Niemand hätte dem Ethnologen Karl Weule widersprochen, der 1896 in der Festschrift für den Nestor der deutschen Völkerkunde Adolf Bastian "die Stunde der Ornamentik der Naturvölker" ausrief.

Diese Stunde war nicht nur mit tätiger Hilfe der Ethnologen eingeläutet worden. Sie stand zugleich für ihren ersten großen Arbeitsschwerpunkt in der frühen Phase der professionellen Etablierung. Zwar unterschied sich die Sammlungspraxis auf Seiten aller beteiligten europäischen Interessenten nicht grundsätzlich - genauer: die gewaltsame Aneignung und der ungleiche Tausch im kolonialen Machtzusammenhang (zum Beispiel Ethnographica gegen Glasperlen). Doch grenzten sich die Völkerkundler von den Motiven der Laiensammler scharf ab. Nicht ein erwarteter Verkaufserlös auf dem boomenden Ethnographica-Markt oder das Mitbringen von exotischen Trophäen für private Schauzwecke, sondern die Rettung der materiellen Kultur der primitiven Völker, die durch den Kontakt mit der weißen Zivilisation von Zerstörung bedroht waren, sollte die Sammlungspraxis bestimmen und zugleich den Zugang zum geistigen Leben der "Primitiven" eröffnen.

Schaubild 'Kunst und Schmuck in Neu-Melanesien' - Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920 - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920

Sammeln und ordnen

"Anleitungen für ethnographische Beobachtungen und Sammlungen" gaben den nach wie vor unverzichtbaren Zulieferern in kolonialen Handels- und Staatsdiensten, Missionaren und ausgesandten Völkerkundlern einen ausführlichen Aufgabenkatalog mit auf den Weg. Aus allen Bereichen des alltäglichen Lebens und Arbeitens, der politischen Verhältnisse und der Religion sollte gesammelt werden. Die Stücke waren zu nummerieren und mit genauen Angaben über Name und Verwendung zu versehen. Dringend erwünscht waren Auskünfte über ihre Bedeutung in religiösen und "sonst wichtigen" Vorstellungswelten.

Dass dies nicht befriedigend einlösbar sein würde, war dem Verfasser der 1899 erstmals erschienenen Anleitungsschrift Felix von Luschan durchaus bewusst. "Ohne vollständige Beherrschung der einheimischen Sprachen sowie jahrelangen intimen Verkehr mit den Eingeborenen" konnte nur eine solide empirische Materialsammlung erwartet werden. Aber genau sie bildete im zeitgenössischen ethnologischen Selbstverständnis die wichtigste Grundlage für die Arbeit der Klassifizierung, Anordnung und zeitlichen Einordnung der Ethnographica durch die Völkerkundler zu Hause.

Liebig Sammelbild, ausgegeben zwischen 1914-1917 - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Liebig Sammelbild, ausgegeben zwischen 1914-1917

Mehrheitlich als Zoologen, Botaniker und Mediziner ausgebildet, nahmen sie die Ornamente, die auf den unterschiedlichsten gesammelten Gegenständen zu finden waren, wie Objekte der Natur - also wie Tiere, Pflanzen und Mineralien - in den Blick. Sie lösten die Ornamente von ihren Trägern, von sozialen und religiösen Kontexten und damit von ihren charakteristischen Bedeutungsgehalten in den indigenen Kulturen. Sie teilten sie in verschiedene Gruppen ein und ordneten die Ornamente in eine zeitliche Entwicklungsreihe, die eine stetige Höherentwicklung der Ornamentformen konstruierte - meist von einer konkreten zu immer abstrakteren, stilisierten Darstellungen eines Natur-Motivs.

Auf Basis dieses evolutionären Konzepts wurden auch "Verkümmerungs"- und "Wucherungsprozesse" in der Ornamentik einzelner Naturvölker sowie Redundanz und mangelnde Variabilität der Ornamentik bei anderen konstatiert. In der Kunstgeschichtsschreibung galten Ornamente als "unselbständige" künstlerische Ausdrucksform. Diese Definition wurde zum übergreifenden Charakteristikum für das mangelhafte künstlerische Vermögen der "Kulturlosen" und zum Zeichen für ihr Entwicklungsdefizit gegenüber den westlichen "Kulturvölkern" erhoben.

Kolonialbriefmarke Togo - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Kolonialbriefmarke Togo

Gleiche Formen - ungleiche Bedeutungen

Der evolutionistische Ansatz jedoch blieb nicht unwidersprochen. Franz Boas, ehemaliger Mitarbeiter am Berliner Völkerkundemuseum und "Vater" der amerikanischen Kulturanthropologie, gründete die Kritik an der herrschenden Evolutionstheorie auf seine Untersuchungen der Decorative Art der amerikanischen Nordwestküsten- Indianer zwischen 1890 und 1910. Bei seinen Feldforschungen ging es Boas darum, möglichst viele Informationen vor Ort über die Bedeutung der Ornamente auf Alltags- und Arbeitsgegenständen, auf sakralen Objekten und auf der Körperhaut als eingebettet in einen spezifischen Kulturzusammenhang zu erlangen.

Kunstforschung war für die Schule von Boas ein wichtiger Schlüssel, um Singularität, Eigenwert und letztlich Essenz, also die grundlegende Idee der jeweilig untersuchten Kultur, herauszustellen und zu begreifen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Auskünfte und Erklärungen der indigenen Informanten. Die symbolische Bedeutung eines Ornaments zum Beispiel erschloss sich dem Fremden durch bloße Anschauung eben nicht.

Handornamentik der Naturvölker - Karl von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst, BD 1, Berlin 1925 - Abbildung Seite 177 - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Karl von den Steinen,
Die Marquesaner und ihre Kunst,
BD 1, Berlin 1925, Abbildung Seite 177

Körperornamentik der Naturvölker - Karl von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst, BD 1, Berlin 1925 - Abbildung Seite 103 - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Karl von den Steinen,
Die Marquesaner und ihre Kunst,
BD 1, Berlin 1925, Abbildung Seite 103

Seine Erfahrungen im ethnologischen Feld brachten Boas auch dazu, die zur selben Zeit in Deutschland und Österreich entwickelte Kulturkreislehre zurückzuweisen. Auch hier war das Ornament zentrales wissenschaftliches Objekt. Es diente als Beweismaterial für die These, dass gleiche Formen und Muster aus entfernten Kulturräumen und Zeiten den gleichen Gehalt trügen. Boas frühe Untersuchungen der Verbreitung oder Diffusion bestimmter wiederkehrender Ornamentformen in den benachbarten Kulturen der Nordwestküste Amerikas zeigten vielmehr, dass zwar die Formen der Ornamente wanderten. Sie erhielten jedoch eine neue, eigene Bedeutung, die den Werten und Weltsichten der aufnehmenden Kultur entsprach.


Die ästhetische Dimension

Der transnationale Ornamentdiskurs erhielt 1907 einen frischen Impuls durch die Veröffentlichung eines vieldiskutierten Buches, das Boas' kulturrelativistische Perspektive teilte und zudem eine neue ästhetische Begriffsbildung einforderte. Emil Stephan, Autor der Monographie "Südseekunst", hatte bei seinen Reisen als Marinearzt auf einem kaiserlichen Küstenvermessungsschiff ethnographische Studien und Sammlungen im Bismarck-Archipel im damaligen Kolonialgebiet Deutsch-Neuguinea betrieben.

Stephan kritisierte die herrschenden westlichen ästhetischen Wertmaßstäbe, die - selbst Produkt der Geschichte - nicht in der Lage seien, die "vorhandene Schönheit" der Südseekunst, wie er die Südsee- Ornamentik bezeichnete, wahrzunehmen. Es müsse jetzt darum gehen, die "Kenntnisse der seelischen Vorgänge beim Kunstschaffen unsrer eignen Rasse" zum Ausgangspunkt einer Erforschung der kreativen Prozesse auch der Südseekünstler zu machen. Stephan hoffte, dass es gelingen könnte, hier "dieselben Wurzeln nachzuweisen", um die Auffassung zu stützen, dass "die Menschheit, trotz aller Verschiedenheit der Rassen, in ihrem ursprünglichen Denken und Fühlen übereinstimmt".

Maske in Form eines Entenkopfes mit Ornamentverzierung - Ethnologisches Museum Berlin, Südseeabteilung - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Maske, Ethnologisches Museum Berlin, Südseeabteilung

Stephan begann mit ersten Formen der teilnehmenden Beobachtung. Er ließ sich von einheimischen Künstlern und Informanten in Gesprächen und durch demonstrierendes Zeichnen im Verfertigen und Erklären von Ornamenten unterrichten, um dann, nachdem er die lokale Sprache gelernt hatte, weitere indigene Stimmen über die Bedeutung der verschiedenen vorgefundenen Ornamente zu sammeln. Sein opulentes Buch, im kolonialen Kontext entstanden und finanziert vom kaiserlichen Marineamt, führte in die Ornamentikdiskussion der Ethnologen eine neue Blickrichtung ein. Es erstaunt nicht, dass der Gouverneur von Deutsch-Neuguinea Albert Hahl dem Buch zu seinem Verdruss keinen Anwendungsbezug für die Kolonialpraxis abgewinnen konnte, und er Mühe hatte - wie er dem Autor schrieb - beim Lesen wach zu bleiben.

Stephan vollzog einen klaren Bruch mit dem Konzept einer evolutionären Stufenleiter der Zivilisationsentwicklung und folgte auch nicht der im deutschsprachigen Raum entwickelten Kulturkreislehre, die vom singulären kulturellen Entstehungs- und Bedeutungskontext der Ornamentik weitgehend absah. Er öffnete den ethnologischen Diskurs über die Ornamentik der Naturvölker um eine ästhetische und kunstwissenschaftliche Dimension. In der folgenden Zeit wird es auch die Kunstwissenschaft sein, die unter Verwendung des gesammelten völkerkundlichen Materials die Diskussion um "primitive" Kunst als Kultur beherrschen wird.

Schaubild 'Waffen und Schnitzwerke' - Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920 - © für alle Fotos by Doris Kaufmann

Heinrich Schnee (Hg.), Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920

Doris Kaufmann ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen. Sie arbeitet über Wissenschaftsgeschichte als Kulturgeschichte und schreibt derzeit an einem Buch über Primitivismus im transdisziplinären Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts.


© für alle Fotos by Doris Kaufmann


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 1/2010, Seite 10 - 13
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2009