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MEMORIAL/110: Der Tongking-Zwischenfall vor 50 Jahren (Gerhard Feldbauer)


Vor 50 Jahren

Mit dem Tongking-Zwischenfall inszenierten die USA den Vorwand zum Luftkrieg gegen Nordvietnam

US-Präsident Johnson verbreitete damals "geradezu ungeheuerliche verlogene Behauptungen"

von Gerhard Feldbauer, 29. Juli 2014



Der USA-Imperialismus war nie verlegen, Lügengebilde als Vorwände für seine kolonialen Eroberungen, Aggressionskriege oder konterrevolutionären Operationen zu erfinden. Das beginnt mit der 1898 einsetzenden Intervention gegen das damals spanische Kuba, für die eine Explosion auf dem US-Panzerschiff "Maine" den Anlass lieferte, und reicht über unzählige weitere Geheimdienstinszenierungen wie den völkerrechtswidrigen Überfall auf Irak, den George W. Busch mit der verlogenen Behauptung rechtfertigte, Bagdad verfüge über Massenvernichtungswaffen, bis zum heute mit NATO und EU in der Ukraine inszenierten Putsch zur Installierung eines Regime mit Faschisten, um an die Grenzen Russlands vorzustoßen und der Hetzkampagne, Moskau für den Absturz der malaysischen Boing MH17 verantwortlich zu machen.


Mörderischen Bombenkrieg ausgelöst

Eine der ungeheuerlichsten Provokationen war der von US-Präsident Lyndon B. Johnson mit der CIA Anfang August 1964 inszenierte sogenannte Zwischenfall vor der Küste der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) im Golf von Bac Bo (Tongking). Er diente als Vorwand für die Eröffnung des mörderischen Bombenkrieges gegen Nordvietnam und die Ausdehnung der USA-Aggression auf ganz Vietnam und wurde Monate vorher geplant. Ziel war, die Unterstützung Nordvietnams für den Befreiungskampf der Patrioten im Süden zu verhindern und Rache zu nehmen für die dort erlittenen Niederlagen.

Auf Antrag Johnsons legte eine Sicherheitsrats-Resolution 288 am 17. März 1964 "Vergeltungsaktionen gegen Nordvietnam" binnen 72 Stunden und binnen 30 Tagen ein Programm "offenen militärischen Drucks" fest. Bevor die Provokation startete, erklärten die USA, dass sie die von der DRV nach völkerrechtlich üblichen Regeln verkündete 12-Meilenzone ihrer Hoheitsgewässer nicht anerkennen und nur eine Drei-Meilenzone respektieren. Selbst die Drei-Meilenzone wurde dann während der Provokation und der gegen die DRV begonnenen Aggression systematisch verletzt.


Das Drehbuch des "Zwischenfalls"

Auf Befehl des Südvietnambefehlshabers, General William C. Westmoreland, überfielen am 30. Juli Einheiten der Saigoner Armee mit Amphibienfahrzeugen die zur DRV gehörenden Inseln Hon Me und Hon Nieu im Golf von Tongking. Der Zerstörer "Maddox" drang in die Hoheitsgewässer der DRV ein, um das Kommandounternehmen gegen das Eingreifen des nordvietnamesischen Küstenschutzes abzusichern. Am 2. August drehte die "Maddox" nach dem Auftauchen nordvietnamesischer Torpedoboote zunächst ab und verließ die Hoheitsgewässer. Präsident Johnson verfügte, die Operation fortzusetzen und einen zweiten Zerstörers "Turner Joy" in den Golf zu entsenden, der am 4. August mit der "Maddox" erneut in die nordvietnamesischen Hoheitsgewässer eindrang, wo es zum Zusammenstoß mit Torpedobooten der DRV kam. Washington verbreitete, die Nordvietnamesen hätten in internationalen Gewässern die US-Zerstörer angegriffen. Der "ungeheuerliche Aggressionsakt" werde mit "Vergeltungsschlägen" beantwortet. Daraufhin griffen 64 Jagdbomber der Air Force am 5. August Kriegsschiffe der DRV, Ortschaften im Küstengebiet und Versorgungslager an. Unter Bruch der Haager Landkriegsordnung begann ohne eine Kriegserklärung der völkerrechtswidrige Luftkrieg gegen die DRV. Systematisch wurden die Terrorangriffe in den folgenden Monaten auf das gesamte Gebiet Nordvietnams zu barbarischen Bombardements ausgeweitet. Ein Jahr später flogen 4.000 Flugzeuge monatlich 12.000 bis 15.000 Angriffe.

Dem Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" war (Nr. 12/1965) zu entnehmen, dass bereits vier Monate vor der Tongking-Provokation ein als "Drehbuch" bezeichnetes Programm der Eskalation ausgearbeitet worden war, dessen dritte Stufe vorsah, "die Nordvietnammetropole Hanoi und das dichtbesiedelte Mündungsgebiet des Roten Flusses" zu bombardieren. Am 16. August verabschiedete der US-Kongress auf Ersuchen des Präsidenten, der sich auf einen 20seitigen Geheimdienstbericht stützte, mit nur zwei Gegenstimmen ein Ermächtigungsgesetz, das ihn autorisierte, "jeden bewaffneten Schlag gegen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten zurückzuweisen und weitere Aggressionen zu verhüten".


Zustimmung des Kongresses erschlichen

Im Januar 1968 kam durch eine Untersuchung des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats, die sich unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Bewegung gegen den Vietnamkrieg mit dem "Zwischenfall im Golf von Tongking" befassen musste, der wahre Sachverhalt ans Licht. Der Ausschuss stellte fest, dass Präsident Johnson mit "geradezu ungeheuerlichen verlogenen Behauptungen", die seine Geheimdienste stützten, sich die Ermächtigung des Kongresses erschlichen hatte. Eine Auswertung der Logbücher der beiden Zerstörer sowie der Aufzeichnungen des Funkverkehrs zwischen dem Kapitän der Maddox, John J. Herrick, und dem Befehlshaber der US-Pazifikflotte ergab, dass die Kriegsschiffe an einer gezielten Provokation zur Auslösung des Luftkrieges gegen die DRV beteiligt waren und den Auftrag hatten, für die anschließend geplanten Luftangriffe "die elektronischen und Radarsysteme Nordvietnams zu stimulieren, um deren Ortung zu erleichtern". Sie waren in die Drei-Meilen-Hoheits-Zone Nordvietnams eingedrungen und hatten, wie der damalige Senator Albert Gore es ausdrückte, "unmittelbar vor der Küste die Wellen gepflügt". Die Untersuchung bestätigte weiter, dass sie den Angriff der südvietnamesischen Kriegsschiffe auf die beiden nordvietnamesischen Inseln gegen Küstenschutzboote der DRV abzusichern hatten. Es kam ferner heraus, dass keiner der beiden angeblich von nordvietnamesischen Torpedos getroffenen Zerstörer irgendwelche Beschädigungen aufwies. "Maddox"-Kapitän Herrick hatte obendrein Zweifel an der verbreiteten Darstellung geäußert und empfohlen, "eine umfassende Bewertung vor Einleitung weiterer Schritte" durchzuführen. Im Ergebnis der Senatsuntersuchung musste Präsident Johnson am 1. November 1968 die Einstellung der Terrorangriffe auf Nordvietnam erklären. Im Juni 1970 annullierte der Kongress das Ermächtigungsgesetz vom 16. August 1964.


Neil Sheehans "Pentagon-Papiere"

Weitere Einzelheiten über die Ausweitung des USA-Krieges auf Nordvietnam kamen 1971 durch die sogenannten "Pentagon-Papiere" ans Licht, welche die "New York Times" ab 13. Juni 1971 veröffentlichte. Sie erschienen unter der Redaktion von Neil Sheehan als Buch "Die Pentagon-Papiere. Die geheime Geschichte des Vietnamkrieges", München/Zürich 1971. Danach hatte Präsident Johnson bereits im Februar 1964 einem von der CIA vorgelegten Operationsplan 34-A zugestimmt. Er beinhaltete Spionageflüge über Nordvietnam, Diversionsakte eingeschleuster Kommandos der von der CIA geführten Special Force, Überfälle von See aus, Entführungsaktionen im Küstenbereich sowie Sabotageakte auf Eisenbahnlinien und Brücken. Am 17. März hatte Johnson zwei weitere Pläne für "selektive Bombenangriffe" auf Nordvietnam und im April das bereits erwähnte "Drehbuch" für die "Eskalation des Krieges" bestätigt. Das Ermächtigungsgesetz, das Johnson als angebliche Reaktion auf den "Tongking-Zwischenfall" dem Kongress vorgelegt hatte, war bereits am 25. Mai 1964 ausgearbeitet worden.


Luftkrieg sollte Marsch nach Norden vorbereiten

Laut der "Pentagon-Papiere" flog die US Air Force bis Ende Oktober 1968 rund 107.700 Angriffe gegen Nordvietnam. Dabei wurden insgesamt 2.581.876 Tonnen Bomben abgeworfen bzw. Raketen abgeschossen. Das war eine weit größere Masse, als die USA insgesamt während des zweiten Weltkrieges eingesetzt hatten. Der westdeutsche Mediziner Erich Wulff, der im südvietnamesischen Gesundheitswesen arbeitete, schilderte, wie die reiche Saigoner Oberschicht den Beginn der Luftangriffe auf Nordvietnam als Signal dafür sah, dass der "Marsch nach Norden in greifbare Nähe" rücke. Er zitierte aus dem Stimmungsbarometer: "Nun werden die drüben binnen kurzem am Ende sein." Die Saigoner Generäle versuchten, "eine Kriegs- und Krisenstimmung" zu schaffen (George W. Alsheimer, (Pseudonym Erich Wulfs): Vietnamesische Lehrjahre. Bericht eines Arztes aus Vietnam 1961-1967. Frankfurt/Main 1968, 1972).


Orientiert am SS-Überfall auf den Sender Gleiwitz

Provokationen wie die im Golf von Tongking gehörten während des gesamten Kriegsverlaufs zur Strategie des Pentagon und der CIA. Sie ahmten den Angriff eines deutschen SS-Kommandos am 31. August 1939 in polnischen Uniformen auf den Sender Gleiwitz, der als Vorwand des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen diente, nach. Um ihre verbrecherische Okkupationspolitik in Südvietnam und die Entsendung ihrer Truppen, die auf über eine halbe Million Mann anstiegen, zu verdecken, erfanden sie bereits seit 1954/55 die These vom "Aggressionskrieg des Nordens". Es war eine plumpe Lüge. Denn "die meisten derjenigen, die zur Waffe griffen, waren Südvietnamesen, und die Gründe, um derentwillen sie kämpften, wurden durchaus nicht in Nordvietnam erfunden", hieß es in den "Pentagon-Papieren". Einem Geheimdienstbericht war zu entnehmen, dass 80-90 Prozent des "VietCong" in Südvietnam angeworben werden und "wenig für eine Verstärkung des Vietcong von außen spricht." Es hieß weiter, dass die "antikommunistische Denunziationskampagne" auch viele Nichtkommunisten traf, insgesamt 50.000 bis 100.000 Personen, und dass "Neutralisten" polizeilich verfolgt wurden. Das Dokument sprach von der "Beschneidung der Meinungsfreiheit und Verhaftung Andersdenkender" und davon, dass es die Amerikaner selber sind, die in Saigon kommandieren.


CIA organisierte "Vietcongmassaker" von Hue

Erich Wulff, der als von der Bundesregierung nach Südvietnam entsandter Mediziner als ein Vertrauter galt, erfuhr von einem CIA-Agenten, dass sogenannte Liquidationstrupps aufgestellt wurden, die in Uniformen der Befreiungsfront die Landbevölkerung durch Mord, Raub und Brandschatzung terrorisierten, um so "den Hass gegen die Kommunisten zu schüren". Solche "Trupps" wüteten auch, als während der Tet-Offensive 1968 Hue von der südvietnamesischen Befreiungsfront FNL besetzt war. In der Presse wurde dann über die sogenannten "Vietcong-Massaker von Hue" berichtet, denen nahezu 3.000 Menschen zum Opfer gefallen seien. Das "Vietcongmassaker" von Hue wurde genau zwei Tage nach der Aufdeckung der Massenmorde von My Lai der Öffentlichkeit präsentiert und dazu "gerade aufgefundene Vietcong-Dokumente" vorgelegt, welche die Verantwortung der Kommunisten beweisen sollten.


Vom Golf von Tongking in die Dominikanische Republik

Bereits acht Monate nach der Tongking-Provokation bediente sich Washington einer anderen Variante der "Begründungen" für eine Intervention auf der anderen Seite des Erdballs. Als patriotische Kräfte in der Dominikanischen Republik die ihnen nach dem Sturz des rechtmäßig gewählten Präsidenten Juan Bosch 1963 mit USA-Hilfe aufgezwungene Militärkamarilla davon gejagt hatten, intervenierte Washington unter dem Vorwand, das Leben dort "befindlicher US-Bürger zu schützen" am 28. April 1965 mit 23.000 Mann seiner berüchtigten Ledernacken und Fallschirmjägern, um die Volksbewegung nieder zu schlagen und ein neues, Washington höriges Regime einzusetzen. Das "Hilfsersuchen" dazu war von einigen Washingtoner Marionetten in der USA-Botschaft verfasst und dann über den Botschaftsfunk nach Washington gesendet worden. Von der planmäßig vorbereiteten Intervention zeugte u. a., dass das Expeditionskorps des Pentagon bereits eine Stunde danach in geplanter Stärke in Marsch gesetzt wurde.

Zur Begründung wurden Horror-Meldungen verbreitet, die "Rebellen" hätten in Santo Domingo "rund 1.500 unschuldigen Menschen die Köpfe abgeschnitten". Juan Bosch erklärte: "Von der Revolution wurde niemand erschossen oder enthauptet." Senator J. William Fulbright bestätigte als Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses, dass "in Santo Domingo keine Amerikaner ihr Leben verloren, bis die Marines das Feuer eröffneten." Während Fallschirmjäger und Ledernacken die Patrioten, wo sie ihrer habhaft wurden, niedermachten, installierte USA-Botschafter Tapley Bennet eine Notstandsjunta. Zur Tarnung des blutigen Überfalls wurde die US-amerikanische Interventionstruppe pro Forma dem Befehl eines brasilianischen Generals unterstellt und ihren Einheiten einer Anzahl USA-höriger südamerikanischer OAS-Mitgliedsstaaten zur Seite gestellt. Das Ganze wurde als "Interamerikanische Friedenstruppe" deklariert. Der damalige UNO-Generalsekretär Sithu U Thant erklärte, es handele sich um ein von den USA inszeniertes "Hilfeersuchen" mit dem ein "gefährlicher Präzedenzfall" geschaffen werde.

Dass sich heute niemand mehr im US-Senat bereitfindet, die ungeheuerlichen Verleumdungen die von Präsidenten und Regierungen verbreitet werden, zu entlarven, zeugt von einem beispiellosen Verfall der bürgerlichen Demokratie in Washington wie anderswo, wo diesem Vorgehen Schützenhilfe geleistet wird.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2014