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MEMORIAL/179: Vor 50 Jahren ermordeten US-Soldaten über 500 Einwohner des Dorfes My Lai (Gerhard Feldbauer)


Vor 50 Jahren ermordeten US-Soldaten über 500 Einwohner des Dorfes My Lai

Noch heute sträubt sich die Feder, die sadistischen Verbrechen niederzuschreiben

von Gerhard Feldbauer, 12. März 2018


Über das Massaker der US-Army in My Lai ist schon viel geschrieben worden. Aber man kann gar nicht oft genug der Opfer gedenken und daran erinnern, welch sadistische Verbrechen damals begangen wurden und dass US-Präsidenten sie nicht nur persönlich anordneten, sondern die Mörder auch noch unbestraft davonkommen ließen.

Es war am 16. März 1968 gegen 7.30 Uhr, als Leutnant William Calley mit seiner Kompanie in das Dorf My Lai (Vietnamesisch Son My) im Norden Südvietnams einfiel. In ihrem Buch "Abels Gesichter. Vietnam. Bilder eines Krieges" mit einem Beitrag von Gerhard Feldbauer (Frankfurt/Main 1999) schilderten Gian Luigi Nespoli und Giuseppe Zambon, was sich dann zutrug. Calley befahl, "den Feind aufzustöbern und unverzüglich zu erledigen, aber auch die Hütten des Dorfes zu verbrennen, alles, was sich bewegte, zu töten und jede Form von Leben, auch die Lebensmittel, zu vernichten." Der Überfall auf My Lai war an diesem Tag "die wichtigste der vorgesehenen Operationen" der betreffenden Brigade. Deshalb begleiteten zwei Kriegsberichterstatter Calleys Einheit: Der Journalist Five Jay Roberts und der Fotoreporter Ronald L. Haeberle. Der Fotoreporter berichtete später im Prozess gegen Calley: "Einige Soldaten hatten ein etwa 15jähriges Mädchen gepackt und versuchten, ihm die Kleider vom Leibe zu reißen. Eine ältere Frau, vielleicht die Mutter, begann, die Amerikaner anzuflehen, wurde aber mit dem Gewehrkolben erledigt." Nespoli/Zambon zitieren Haeberle, der eine ganze Reihe weiterer kaltblütiger Morde schilderte.

Andere Soldaten sagten aus: "Leutnant Calley entdeckte etwa 150 Personen, die sich in einem Graben versteckt hatten, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Als einige von ihnen furchtsam aus ihrem Versteck hervor kamen, mähte er sie erbarmungslos nieder und forderte seine Soldaten auf, seinem Beispiel zu folgen. Es wurde geschossen, bis kein Lebenszeichen mehr kam. Aber nachdem das Feuer eingestellt worden war, erhob sich aus diesem Blutbad, fast wie ein Wunder, ein etwa zweijähriges Kind, das verzweifelt weinend versuchte, in Richtung Dorf zu laufen. Leutnant Calley packte es, warf es wieder in den Graben und erledigte es mit seiner Waffe." Zeugenaussagen sprachen von Menschen, die von Bajonetten und Messern verstümmelt in Blutlachen lagen. "GIs hatten Ohren oder Köpfe abgetrennt, Kehlen aufgeschlitzt und Zungen herausgeschnitten, Skalps genommen." Andernorts lagen "tote Frauen mit aufgeschlitzter Vagina, in einem Fall hatten die Täter einen Gewehrlauf eingeführt und abgedrückt."

Es gab einzelne Fälle von Verweigerungen der Mordbefehle. Bernd Greiner schreibt in "Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam" (Hamburg 2007), dass ein Gefreiter Maples es ablehnte, Zivilisten zu erschießen. Leutnant Calley wollte ihn wegen Befehlsverweigerung erschießen, ließ aber davon ab, als sich einige Soldaten schützend vor ihren Kameraden stellten. Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson vom 123. Aviation Batallion der "Americal" Division, der mit seiner Crew beim Überfliegen von My Lai die Ermordung von Zivilsten beobachtete, landete, nahm einige Dorfbewohner auf und brachte sie in Sicherheit. Es gab, so Greiner, vier weitere Fälle, in denen Bewohner von My Lai von US-Soldaten gerettet wurden.

In My Lai wurde - wie Aussagen bestätigten - kein einziger Soldat der FNL angetroffen. Die massakrierten Bewohner - offiziellen Angaben zufolge wurden 128 "Feinde" getötet, nach Untersuchungen der FNL waren es 502 Einwohner - waren allesamt Zivilisten, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Der Kommandeur des 1. Bataillons, Hauptmann Ernest L. Medina, berichtete jedoch, es seien "69 Vietcong-Soldaten getötet" worden. Im offiziellen Kriegsbulletin, das die New York Times am 17. März 1968 veröffentlichte, hieß es: Die Soldaten "näherten sich von entgegengesetzten Seiten den feindlichen Stellungen und mit schwerem Sperrfeuer und unter Einsatz von Kampfhubschraubern vernichteten sie die nordvietnamesischen Soldaten."

Zeugenaussagen in den USA riefen eine Welle der Proteste hervor. Seymour Hersh nannte My Lai "ein Verbrechen im Stile der Nazis". Jonathan Schell schrieb im New Yorker vom 20. Dezember 1969: "Wenn wir uns daran gewöhnen, dergleichen hinzunehmen, gibt es nichts mehr, was wir nicht hinnehmen." Ein Gericht musste sich schließlich mit dem Verbrechen befassen. Als einziger wurde Leutnant Calley angeklagt und verurteilt. Seine zunächst lebenslange Haftstrafe wurde auf 20, dann auf zehn Jahre herabgesetzt. Schließlich wurde er auf Weisung von Präsident Nixon im November 1974 freigelassen. Er hat keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen, sondern nur unter Hausarrest gestanden. In einem Interview, das der US-amerikanische Journalist John Sack 1971 aufzeichnete, erklärte Calley: "Ich verkörpere nur die Vereinigten Staaten von Amerika, mein Vaterland", und bekannte: "Ich war gern in Vietnam".

My Lai war kein Einzelfall, wie Präsident Nixon während des Prozesses der Weltöffentlichkeit einzureden versuchte. Es war gängige Praxis, um die Bevölkerung Südvietnams davon abzubringen, den Befreiungskampf zu unterstützen. Lieutenant Colonel David H. Hackworth, Bataillonskommandeur der 9. Infantry Division, räumte ein, im kriegerischen Alltag in Vietnam habe es "Tausende derartiger Gräueltaten" gegeben. Viele Vorfälle wurden erst sehr spät bekannt, andere bis heute nicht. Selten waren, wie in My Lai, Journalisten dabei, die dann auch den Mut hatten, solche Massaker an die Öffentlichkeit zu bringen. Denn wer aussagte, ging ein hohes Risiko ein. Haeberle wurde als Lügner diffamiert. Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der als Zeuge gegen Calley aussagen wollte, aber nicht zugelassen wurde, erhielt Todesdrohungen. Enthüllungen der FNL und der DRV wurden in Washington als "kommunistische Gräuelpropaganda" abgetan.


Präsident Johnson befahl: So weiter machen

Operationen wie in My Lai gingen auf direkte Weisungen des Oberkommandierenden in Südvietnam, General Westmoreland, zurück, die eine Reaktion auf die Tet-Offensive der FNL im Februar 1968 waren. Darin wurde gefordert, "unterschiedslos das gesamte Terrain zu neutralisieren". In die Provinz Quang Ngai, in der My Lai lag, wurden zusätzlich 120 Experten für Aufstandsbekämpfung mit dem Auftrag geschickt, "die Jagd auf Funktionäre, Helfer und Helfershelfer der Guerilla zu forcieren". Sieben Monate nach My Lai forderte US-Präsident Lyndon B. Johnson General Creighton Abrams, seit Sommer 1968 Nachfolger Westmorelands als Oberkommandierender, auf, mit derartiger Unterdrückung jedes Widerstandes fortzufahren. "Ihr Präsident und Ihr Land erwarten von Ihnen, dass Sie dem Feind ohne Unterlass nachstellen. Gewähren Sie ihm nicht einen Moment der Ruhe. Geben Sie es ihm wie gehabt. Lassen Sie den Feind den Druck all dessen spüren, was Ihnen zur Verfügung steht." Die Armee wurde angewiesen, enger mit der CIA und allen für das Programm "Phoenix" (der CIA zur Liquidierung "Vietcong-Verdächtiger") zuständigen Stellen zu kooperieren. Die Truppen erhielten, schrieb Greiner, "eine beispiellose Handlungsfreiheit", die "einer Einladung zur unbefristeten Willkür" gleichkam.

Der Weisung folgten die entsprechenden Taten. Unter dem Kommando von Brigadier General Howard Harrison Cooksey von der "Americal" Division wurden von Mitte Januar bis Anfang Februar 1969 in zwei Distrikten der Provinz Quang Ngai zahlreiche Ortschaften niedergebrannt, 300 Bauern exekutiert, 11.000 Bewohner zwangsweise umgesiedelt, 1.300 von ihnen als Sympathisanten der Vietcong verdächtigt und ermordet. Addiert man allein die Dutzenden, wohlbemerkt bekannt gewordenen, von Greiner angeführten und akribisch belegten Operationen der systematischen Ermordung von Zivilisten, darunter immer wieder vor allem Frauen und Kinder, dann geht die Zahl in die Hunderttausend.


Barack Obama: "Die Ideale" verteidigt, "die wir als Amerikaner hochhalten"

Der demokratische Präsident der USA, Barack Obama, verkündete 2012 ein auf 13 Jahre ausgerichtetes Vietnam War Commemoration (Vietnamkriegsgedenken), in dem er erklärte, die US-Soldaten hätten im Vietnamkrieg "als stolze Amerikaner die edelsten Traditionen unserer Streitkräfte" repräsentiert und "die Ideale" verteidigt, "die wir als Amerikaner hochhalten". Eine Verurteilung von Verbrechen wie in My Lai fehlt, von einer Entschuldigung ganz zu schweigen. Daraus kann eigentlich nur geschlussfolgert werden, dass sadistische Verbrechen wie die in My Lai begangenen in diese hochzuhaltenden "edelsten Traditionen" eingeordnet werden.

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Quelle:
© 2018 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2018

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