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MEMORIAL/203: Italien - Reformistischer Wandel der IKP nach Berlinguers Tod im Jahr 1984 (Gerhard Feldbauer)


Vor 35 Jahren starb der Generalsekretär der IKP, Enrico Berlinguer

Nach seinem Tod wandelten die Reformisten die IKP in eine sozialdemokratische Linkspartei um
1989/90 folgten SED-Politiker wie Gregor Gysi und Hans Modrow ihrem Kurs

von Gerhard Feldbauer, 11. Juni 2019


Dem 35. Jahrestag des Todes von IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer am 11. Juni 1984 folgten in wenigen Monaten die Ereignisse vor 30 Jahren (1989/90), die zur Einverleibung der sozialistischen DDR durch die imperialistische BRD führten. Ich möchte das zum Anlass nehmen herauszuarbeiten, wie die dabei agierende Konterrevolution Schützenhilfe von der sich formierenden revisionistischen Gruppe um Gregor Gysi erhielt, die sich am Beispiel der Entwicklung in der IKP orientierte, und dabei gravierende Unterschiede aufzeigen.

Zunächst zu Berlinguer, an dessen herausragende Rolle in der italienischen Politik die römische La Repubblica am Montag als "eines Pfeiler der Demokratie, einer Hoffnung der Zukunft, Garant gegen die Drohung eines atomaren Vernichtungskrieges" erinnerte. Sie berichtete ausführlich, dass Berlinguer am 7. Juni 1984, während er auf einer Kundgebung seiner Partei in Padua sprach, einen Herzinfarkt erlitt. Der anwesende sozialistische Staatspräsident Sandro Pertini ließ den im Koma liegenden Berlinguer in seiner Präsidentenmaschine nach Rom fliegen. Vier Tage später starb Berlinguer. La Repubblica führt an, dass an der Trauerfeier auf der Piazza San Giovanni in Rom, auf der er so oft gesprochen hatte, am 13. Juni über zwei Millionen Menschen teilnahmen, darunter Pertini, die Sekretäre der demokratischen Parteien und der internationalen Arbeiter- und der nationalen Befreiungsbewegungen, die sein hohes Ansehen nicht nur in Italien, sondern weltweit bezeugten.

Vier Tage später fanden Wahlen zum Europaparlament statt. "Die tiefe Ergriffenheit, die der Tod Berlinguers 'sul campo' (auf dem Feld des Kampfes) im Lande herrief, begünstigten den ersten Platz der IKP" hieß es damals in den Wahlanalysen. Mit 33,3 Prozent erreichte die IKP noch einmal ihre Spitzenergebnisse von 1975/76, diesmal knapp vor der DC liegend, die mit 33 Prozent den zweiten Rang belegte.


Berlinguer hatte die Reformisten gebremst

Während die Reformisten in der Zeit des Compromesso storico die IKP bereits in eine sozialdemokratische Partei umwandeln wollten, hatte Berlinguer unter "eurokommunistischen" Vorzeichen auf den Erhalt der revolutionären Potenzen und ihre Nutzung in der Regierungszusammenarbeit (dem Compromesso storico) mit der DC gesetzt. Wenn die Basis der Partei sich in den 70er Jahren mit vielen Vorbehalten letzten Endes dem reformistischen Kurs unterordnete, geschah das im Vertrauen darauf, dass Berlinguer sich auf diese kämpferischen Potenzen stützte. Die Zeitung der Partei der Kommunistischen Wiedergründung (PRC) [1] "Liberazione" schätzte ein, er habe den Ausgleich zwischen dem linken und dem rechten Flügel gesucht, sei ein "Mann der Vermittlung" und als solcher ein "Zentrist" gewesen. [2]

Wie Giorgio Galli in seiner "Storia del PCI" schrieb, litt Berlinguer schwer unter der Niederlage, welche die IKP mit dem Scheitern des Historischen Kompromisses einstecken musste. Er fühlte sich dafür persönlich verantwortlich, was auch in seinem sich verschlechternden Gesundheitszustand zum Ausdruck kam. Wenn er seine wiederholt geäußerten Rücktrittsabsichten nicht verwirklichte, dann vor allem deshalb, weil kein befähigter Nachfolger zur Stelle war. [3] Man darf als sicher annehmen, dass Berlinguer den von seinen Nachfolgern Achille Occhetto und Massimo D'Alema eingeschlagenen Weg der Umwandlung der IKP in eine sozialdemokratische Partei und der Aufgabe nicht nur kommunistischer, sondern auch aller sozialistischen Traditionen nicht gegangen wäre.


Gorbatschow - Leitfigur und Hoffnungsträger

Berlinguers Tod stürzte die IKP in eine tiefe Krise, die in ihren Untergang mündete. Die von ihm in bestimmtem Maße gezügelte sozialdemokratische Strömung bekam freie Hand für die weitere Sozialdemokratisierung. Als Gorbatschow 1985 das Amt des Generalsekretärs der KPdSU antrat, setzte sie sich endgültig als die Partei beherrschende Fraktion durch. Bereits auf dem 17. Kongress im April 1986 in Florenz schlug Berlinguers Nachfolger, Alessandro Natta, den Sozialisten vor, sich mit den Kommunisten zu einer neuen linken Partei zu vereinigen. ISP-Chef Craxi lehnte jedoch ab. Der sozialdemokratische Kurs verstärkte sich, als Achille Occhetto im Mai 1988 an die Spitze der IKP trat. Italien erlebte das Phänomen, dass seine KP, die besonders seit den 70er Jahren ihre Unabhängigkeit von Moskau betont, jegliche Führerrolle oder Übernahme sowjetischer Erfahrungen abgelehnt und 1982 gegenüber der KPdSU auch offiziell den "strappo" (Bruch) verkündet hatte, plötzlich "moskauhörig" wurde und sich völlig am Kurs Gorbatschows orientierte.

Unmittelbar nach seiner Wahl kündigte Occhetto den für März 1989 einberufenen Kongress als "Parteitag der Wende" an. Dessen Leitfigur war dann Gorbatschow, auf den sich Occhetto bereits in seiner Eröffnungsrede zehnmal als Hoffnungsträger berief. Die auf Video übermittelte Rede des KPdSU-Generalsekretärs wurde von der sozialdemokratischen Strömung, welche die Mehrheit der Delegierten stellte, stürmisch gefeiert. In seinen Beschlüssen erklärte der Kongress einen "Riformismo forte" (tiefgreifenden Reformismus) zur "Leitlinie der Partei". [4] Occhetto erhielt bei seiner Wiederwahl nur zwei Gegenstimmen. Selbst die kommunistische Strömung, die im neuen Zentralkomitee acht Sitze belegte, hatte mehrheitlich für ihn gestimmt. Der ISP schlug Occhetto vor, die DC-Regierung zu verlassen und mit der IKP eine Reformkoalition zu bilden. Craxi lehnte postwendend ab. [5]


Gregor Gysi und Hans Modrow in den Fußstapfen der Revisionisten

Wie wirkte sich der von den Reformisten in der IKP nach Berlinguers Tod eingeschlagene Kurs 1989/90 auf die SED in der DDR aus? Dabei geht es nicht um eine umfassende Analyse, sondern um einige Aspekte einiger der handelnden Akteure im Vergleich mit dem, was sich seit den 1970er Jahren in Italien abgespielt hatte. Mit dem Unterschied, dass die Weichen dafür jetzt in Berlin in Monaten gestellt wurden und die inhaltlichen Aussagen bei weitem die Zugeständnisse, die Berlinguer einst gemacht hatte, übertrafen. Ähnlich wie in Italien war zunächst - von der Basis unbemerkt und auch von der Parteiführung nicht autorisiert - diesem nun abrupt einsetzenden revisionistischen Prozess ausgerechnet im ideologischen Führungszentrum der SED, ihrer Akademie für Gesellschaftswissenschaften, von einer Gruppe mit ihrem leitenden Mitglied Prof. Rolf Reißig (seit Februar 1990 ihr Direktor) an der Spitze, mit dem 1987 veröffentlichten Positionspapier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" der Weg bereitet worden. [6]

Kurz einige Fakten zur weiteren Entwicklung: Mit dem Parteiputsch im Oktober 1989 riss die reformistische Gruppierung mit Gregor Gysi an der Spitze die Führung der SED an sich und begann, die Parteistrukturen vor allem in den Betrieben aufzulösen. Gysi orientierte sich an dem auf sozialdemokratische Positionen übergegangenen Gorbatschow, dessen politischer Kurs sich verheerend auf den Ostblock und besonders auf die DDR als ihren bis dahin engsten Verbündeten auswirkte. Gysi besuchte zunächst den noch KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow und eilte dann im Januar 1990 nach Rom, wo er bei Achille Occhetto, dem letzten IKP-Generalsekretär, Erfahrungen bei der bereits vor sich gehenden Liquidierung der IKP durch ihre unter der Losung der "Heimkehr zur Sozialdemokratie" erfolgende Umwandlung in eine sozialdemokratische Linkspartei PDS studierte. [7]

Er scheute sich auch nicht, mit ISP-Chef Bettino Craxi zusammenzutreffen, der schon zu dieser Zeit der Korruption verdächtigt wurde. 1992 begann die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen ihn, die 1994 zu einer lebenslangen Haftstrafe führten. Insidern war der Hintergrund klar. Gysi trug sich mit dem Gedanken, auch hier das IKP-Modell aufzugreifen und der SPD den Beitritt seiner PDS anzutragen. Aber während die CDU der BRD, wie auch die Liberalen ohne Bedenken ihre ostdeutschen Schwesterparteien vereinnahmten, fehlte der SPD zu solch einem Schritt der strategische Weitblick, mehr wohl noch der Mut. Aber auch Craxi, der bereits 1986 das Angebot Alessandro Nattas, des ersten Nachfolgers Berlinguers im Amt des Generalsekretärs, zur Vereinigung der IKP mit der ISP zu einer neuen Linken Partei abgelehnt hatte, war auch diesmal nicht bereit. So konnte Gregor Gysi diesbezüglich nicht mit einem entsprechenden Signal aus Rom nach Berlin zurückkehren.

Gregor Gysi versuchte dennoch, die DKP im Vorfeld des "Vereinigungsprozesses" auszuschalten. Sie sollte sich auflösen und ihre Mitglieder einzeln in die PDS eintreten. Wortführer dieser Version war in der DKP Wolfgang Gehrke, der bewirkte, dass etwa 10.000 der zu dieser Zeit rund 30.000 Mitglieder zählenden DKP die Partei verließen, von denen jedoch die wenigsten sich bei der PDS einfanden. Zum Lohn dafür erhielt Gehrke einen Listenplatz der PDS zur Kandidatur für ein Mandat des Bundestages, das er noch heute innehat. [8]


Hans Modrow: Den "Schlüssel zur Einheit gefeilt!"

Fast zeitgleich mit Gysis Italienreise unterbreitete Regierungschef Hans Modrow (seit November 1989 bis April 1990) nach Gesprächen mit Gorbatschow am 1. Februar 1990 in Moskau sein Konzept "Deutschland einig Vaterland", mit dem faktisch die DDR zur Disposition gestellt wurde. [9] Modrow äußerte später: "Kohl behauptet, er habe den Schlüssel zur Einheit aus Moskau geholt. Wenn das so sein soll, dann habe ich den Schlüssel gefeilt!" [10] Gregor Gysi rühmte sich 2015 gar, die reibungslose Integration der DDR-Bürger ins politische System der BRD sei seiner Partei und auch ihm persönlich zu verdanken. [11]

Hier ist einzublenden, dass sicher folgendes feststeht: Nachdem die DDR von Gorbatschow fallengelassen wurde und damit der wichtigste außen- und militärpolitische Faktor ihrer Existenzsicherung entfiel, war sie nicht mehr zu retten. Doch ihr Anschluss an die BRD hätte nicht in jene kampf- und bedingungslose Kapitulation münden müssen, die von der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére von der ostdeutschen CDU vollzogen wurde, aber bereits unter der Regierung Modrow und der PDS unter Gregor Gysi mit zu verantworten war. Doch Modrow war nicht nur zu dieser Zeit, sondern auch Jahre später nicht in der Lage, den verräterischen Kurs Gorbatschows einzuschätzen und sah in ihm lediglich "Unaufrichtigkeit", hinter der sich seine "wachsende Unfähigkeit, die Prozesse im wohlverstandenen Interesse der UdSSR und der DDR zu beherrschen", gezeigt habe. [12]


Fußnoten:

[1] Nach der Umwandlung der IKP in eine sozialdemokratische Linkspartei (PDS) im Dezember 1990 gegründet.

[2] "Liberazione", 11. Juni 1999; 13. Sept. 2003.

[3] Giorgio Galli: Storia del PCI, Mailand 1993, S. 294 ff., 303 f.

[4] Ebd.

[5] "La Repubblica", Rom, 23. März 1989.

[6] Reißig wurde später Mitglied des Willy-Brandt-Kreises der SPD.

[7] Partito Democratico della Sinistra, woraus sich auch noch die Namensgleichheit mit dem deutschen Parteikürzel PDS ergab.

[8] Zwar gehört er nicht der Kommunistischen Plattform (KPF) in der Partei Die Linke an, bezieht aber in Grundsatzfragen heute antiimperialistische Positionen.

[9] Nachzulesen in dem Buch, "Ich wollte ein Neues Deutschland" (Dietz Verlag Berlin 1998), das Modrow zusammen mit Hans Dieter Schütt, dem früheren Chefredakteur der jungen Welt und späteren langjährigem Ressortchef des Neuen Deutschland, schrieb. Siehe Rezension des Autors in den Weißenseer Blättern 1/1999 "Zu Hans Modrows Buch 'Ich wollte ein Neues Deutschland'".

[10] "Keine Zeit für Illusionen". Karl-Heinz Arnold: Mit Hans Modrow erlebt: das vorletzte Kapitel der DDR-Geschichte. "Wochenpost", Nr. 38/1990.

[11] Junge Welt, 30. Dezember 2015.

[12] "Hans Modrow über verpasste Chancen und das Ende der DDR". ND zur Modrow-Initiative "Deutschland einig Vaterland", 1. Februar 2000.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2019

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