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MEMORIAL/204: 11. Juli 1899 - Gründung der Fiat, einer Dynastie des italienischen Industrie-Adels (Gerhard Feldbauer)


Aus der Geschichte einer Dynastie des italienischen Industrie-Adels

Vor 120 Jahren wurde die Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) gegründet

von Gerhard Feldbauer, 6. Juli 2019



Foto: Maurizio Torchio [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Fiat 3,5 HP - das erste Automobil des 1899 in Turin gegründeten Industriekonzerns
Foto: Maurizio Torchio [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Am 11. Juli 1899, vier Jahre bevor Henry Ford in Dearborn im US-Staat Michigan seine Automobilgesellschaft gründete, wurde in Turin die Gründungsurkunde der Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) unterzeichnet. Zu den acht Unterzeichnern gehörte der Sohn eines vermögenden Grundbesitzers und Offiziers der sabaudischen Kavallerie, Giovanni Agnelli, Großvater Gianni Agnellis, der nach 1945 die erfolgreiche Entwicklung des Unternehmens gestaltete. Giovanni Agnelli stieg schon bald zum eigentlichen Beherrscher und Besitzer des Konzerns auf. Ähnlich wie Carl Benz und Gottlieb Daimler in Deutschland erkannte Agnelli, dass die Tage des Pferdes gezählt waren und an die Stelle der Droschke das Auto entscheidendes Verkehrsmittel werden würde.

Schon Ende 1899 verließ das erste Fahrzeug das Turiner Werk. Der "FIAT 1899" wirkte wie eine kleine Kutsche, die zwei bis drei Personen Platz bot. Der 12 PS-Heck-Motor mit einem Hubraum von 679 cm³ brachte das Fahrzeug auf maximal 40 km/h. Im rasanten Tempo entwickelte sich Fiat über Norditalien hinaus und exportierte schon 1901 die ersten Autos ins Renault-Land Frankreich. 1903 stellte FIAT das erste Auto für den Transport schwerer Lasten, den Fünf-Tonner "24 HP", her. 1906 wurden bereits 1149 Pkw produziert, von denen 300 nach England gingen.

Mit der Übernahme der Ansaldi-Werke 1905 entstand mit Fiat-Ansaldi, aus der die Brevetti-Fiat-Gesellschaft hervorging, das größte italienische Industrie-Unternehmen, das nicht nur Autos produzierte. Schon seit 1903 hatte Ansaldi Schiffs- und Flugzeugmotoren hergestellt. 1916 wurde die Società Italiana Aviazione (SIA) gegründet, die, 1918 in Fiat-Aviazione umbenannt, die Jagdflugzeuge Fiat G5 und Fiat G91 herstellte. Im Ersten Weltkrieg stieg das Unternehmen zum größten Rüstungskonzern (Schwerpunkte gepanzerte Fahrzeuge und Flugzeuge) auf. Hinzu kamen Werften, Eisenerzbergwerke und eisenverarbeitende Fabriken. 1917 wurde der erste Panzer Fiat 2000 (Mod. 17) hergestellt, Anfang 1918 ein zweiter (Mod. 18).


Foto: The original uploader was Riottoso at Italian Wikipedia [Public domain]

Mit dem Fiat 2000, dem schwersten Panzer seiner Zeit, entwickelte Fiat nach dem Ersten Weltkrieg den ersten Panzerkampfwagen Italiens
Foto: The original uploader was Riottoso at Italian Wikipedia [Public domain]

Die 40-Tonnen-Kampfwagen wurden vom italienischen Heer übernommen und bildeten zusammen mit den bereits vorhandenen französischen Panzern den Grundstock der ersten italienischen Panzer-Abteilung. Auf Initiative Agnellis finanzierten Ettore Conti (Elektro-Sektor), Guido Donegani (Chemie) und Alberto Pirelli (Reifen/Gummi) mit ihm zusammen 1915 das Kampfblatt Mussolinis Il Popolo d'Italia, das in offenem Chauvinismus den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente forderte. Während des Krieges stieg der Rüstungsgigant zum größten Kriegsgewinnler auf und produzierte 95 Kriegsschiffe, 3.800 Flugzeuge, 10.900 Kanonen und 10 Millionen Artilleriegeschosse.


"Großer Beitrag" zur faschistischen Machtergreifung

1919/20 trugen die Herausgeber des Popolo d'Italia mit kräftigen Finanzspritzen zum Machtantritt des Faschismus unter Mussolini bei. Zum Dank dafür, dass der ehrenwerte Agnelli "einen großen Beitrag zur faschistischen Propaganda geleistet und seine Unterstützung den Zeitungen zukommen (ließ), die für die unverfälschte Wahrheit des Faschismus stehen", berief ihn der "Duce" im September 1923 in den Senat. [1]

Mit dem Werk in Lingotto, einem Stadtteil von Turin, dem Sitz der Konzernzentrale, entstand die zu dieser Zeit modernste Auto-Fabrik Europas. Sie verstärkte das Image der Fiat, die in den 1920er Jahren in Europa und weltweit die Auto-Produktion bestimmte. Weniger bekannt wurde, dass Panzer und motorisierte Technik der eine halbe Million Soldaten zählenden Kolonialarmee, die in einem blutigen Feldzug (mit 250.000 Toten) 1935/36 Äthiopien (das damalige Abessinien) eroberte, von Fiat stammten und aus dessen Flugzeugen die mehr als 350 Tonnen des auf Mussolinis Befehl eingesetzten Giftgases Yperit abgeworfen wurden.


Foto: luce - ediz. d'arte v.e. Boeri - v. f. Corridoni, 7 Roma [Public domain]

Italienische Streitkräfte bei einem Angriff auf abessinische Stellungen in der Tembienschlacht am 1. Januar 1936
Foto: luce - ediz. d'arte v.e. Boeri - v. f. Corridoni, 7 Roma [Public domain]

Gianni Agnelli war Leutnant in der von Mussolini zur Unterstützung der Aggression Hitlerdeutschlands gegen die UdSSR geschickten Armata Italiana in Russia (ARMIR). Großvater Giovanni dürfte dafür gesorgt haben, dass er zum deutsch-italienischen Afrika-Korps nach Tunis versetzt wurde, bevor die 230.000 Mann zählende ARMIR im Dezember 1942 von der Roten Armee in der verschneiten Donezsteppe größtenteils vernichtet wurde. Auch aus Tunis wurde Gianni vor der Kapitulation der 250.000 aus Italienern und Deutschen bestehenden Afrika-Armee am 13. Mai 1943 abberufen.

Die persönlichen Erfahrungen Giannis trugen dazu bei, dass der Großvater, wie andere führende Wirtschaftskreise auch, erkannte, dass Hitlerdeutschland den Krieg nicht mehr gewinnen konnte und mit ihnen, um nicht in die Niederlage hineingezogen zu werden, auf die Seite der Palastverschwörer wechselte, die sich im Juli 1943 Mussolinis entledigten. Der Fiat-Besitzer vollbrachte ein Meisterwerk von Ambivalenz. Während er sich zu der von König Vittorio Emanuele III. eingesetzten Regierung von Marschall Pietro Badoglio in den von den Anglo-Amerikanern besetzten Süden in Salerno begab, schickte er seinen Generaldirektor Vittorio Valletta in das von der Wehrmacht besetzte Norditalien zur Konzernzentrale nach Turin.


Foto: The original uploader was Dgtmedia - Simone at Italian Wikipedia [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

Giovanni ("Gianni") Agnelli (links), 1940 mit seinem Großvater Giovanni Agnelli (rechts)
Foto: The original uploader was Dgtmedia - Simone at Italian Wikipedia [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]


Generaldirektor Valletta auf der Liste der Kriegsverbrecher

Dort hielt dieser für Hitlerdeutschland die Kriegsproduktion aufrecht, unterdrückte den Widerstand der Arbeiter dagegen und sorgte bis Kriegsende für höchstmögliche Profite. Das hatte zur Folge, dass das Nationale Befreiungskomitee für Norditalien, ein von den Alliierten anerkanntes Organ der antifaschistischen Einheitsregierung, Valletta auf die Liste der faschistischen Kriegsverbrecher setzte. Vor der Festnahme durch Partisanen retteten ihn im April 1945 amerikanische Offiziere. Vallettas Stellvertreter, Giancarlo Camerana, hatte im Auftrag Agnellis bereits ein Jahr vorher in Bern mit Allen Dulles, dem Gesandten des Strategic Service (OSS), einem Vorläufer der CIA, die Nachkriegsexistenz von Fiat geregelt. [2]

Nach 1945 erwirtschaftete Fiat seinen gewaltigen Umsatz nur noch etwa zur Hälfte im Autosektor. Sie verfügte über einen Raumfahrtkonzern Snia, der seit den 80er Jahren SDI-Aufträge erhielt, war an Raumfahrtprojekten von Arianespace und Eureka beteiligt, lieferte Motoren und Hitzeschilde für Satelliten und produzierte Raketentreibstoff für das US-Space Shuttle und Militär-Raketen. FIAT Aviazione stellte Flugzeugtriebwerke, Schiffsantriebe und Gasturbinen her. Die breit gefächerte Produktion des in fast 60 Ländern mit 1.051 Gesellschaften und 1,2 Millionen Beschäftigten präsenten Konzerns reichte darüber hinaus vom Hoch- und Tiefbau über Maschinen und Anlagen, Telekommunikations- und Automatisierungstechnik, Eisen, Stahl und Kraftstoffanlagen bis zur Lebensmittelbranche, schloss Verlage, Werbung und die hauseigene renommierte Tageszeitung La Stampa ein. FIAT war als Banker und an der Börse dabei, sponserte Kunst- und Forschungsprojekte.


Foto: Istituto Centrale per gli Archivi [Public domain]

Vittorio Valletta in Turin neben einem Fiat 500 D - Aufnahme von 1964
Foto: Istituto Centrale per gli Archivi [Public domain]

Im Auto-Sektor konkurrierte Fiat in den 1970er Jahren mit Volkswagen um den ersten Platz in Europa. Sie erwarb Alfa Romeo und Ferrari, kaufte sich bei Maserati ein, übernahm die Mehrheit des Kleinwagenhersteller Innocenti und hatte damit Anfang der 90er nahezu die gesamte italienische Auto-Produktion in ihrer Hand. Nach dem Untergang des Ostblocks gehörte FIAT-Auto zu den ersten, die in Ungarn, Jugoslawien und Polen Fuß faßten und in der UdSSR, später Russland, ihrem alten langjährigen Partner, neue Absatzmärkte gewannen.

Nach dem Tod des 81jährigen Patriarchen Giovanni Agnelli im Januar 2003 trat der 13 Jahre jüngere Bruder Umberto an die Spitze des Familienunternehmens. Als er bereits ein Jahr später verstarb, übernahm der zu den Fiat-Erben gehörende Luca Cordero di Montezemolo die Präsidentschaft. Ihm folgte 2010 der Enkel Agnellis, John Elkann, der bereits seit 2004 Vizepräsident war.

Nachdem ein 1999 mit General Motors geschlossenes "Joint Venture" gescheitert war, übernahm der Turiner 2014 den US-amerikanischen Autobauer Chrysler und bildete mit Alfa Romeo, Lancia und Abarth sowie den amerikanischen Modellen Jeep, Dodge und Ram unter Turiner Leitung die Fiat Chrysler Automobile (FCA). 2019 wollte der US-Italiener eine Allianz mit Renault schließen, um hinter Toyota und Volkswagen drittgrößter Automobilkonzern Europas, unter Einschluß von Renault-Partner Nissan sogar der weltgrößte zu werden. Der Vorstoß scheiterte, zumindest vorerst, am Einspruch der französischen Regierung, die Garantien für den Erhalt der Standorte von Renault und der Arbeitsplätze forderte. Mehr noch dürfte, wie Medien, so der Sender Franceinfo, kommentierten, eine Rolle gespielt haben, dass mit einem bunten Gemisch sehr verschiedener Automarken von Renault, Dacia und Lada über Fiat, Alfa Romeo und Lancia bis zu Chrysler und Jeep, vielleicht sogar bis zu Nissan und Mitsubishi, ein Riesenimperium entstanden wäre, das zwar neue Märkte hätte erschließen können, aber auch schwer zu lenken und zu beherrschen gewesen wäre.


Foto: US Governement [Public domain]

Allen W. Dulles, späterer Chef der CIA, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Dienste des OSS als Fiat-Protegé tätig
Foto: US Governement [Public domain]


Wechsel an den Hebeln der Macht

Nach 1945 passte sich Fiat erneut an die Machtverhältnisse an und sicherte so seinen Einfluss darauf. La Stampa wies wiederholt die Einmischung Washingtons in die Innenpolitik zurück. Italien sei "kein Protektorat der USA, in dem es erlaubt sei zu begünstigen und zu intervenieren oder Regierungen zu stürzen und zu machen", schrieb die Fiat-Zeitung am 28. Oktober 1975. Damit ergriff der Wirtschaftsgigant offen Partei für die Politik der "Historischer Kompromiss" genannten Regierungszusammenarbeit zwischen dem Vorsitzenden der Democrazia Cristriana (DC), Aldo Moro, und IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer. Nach der Umwandlung der IKP in eine sozialdemokratische Linkspartei (Partito Democratico della Sinistra - PDS, später Democratici di Sinistra - DS) favorisierte Fiat lange Jahre deren reformistischen Kurs. Agnellis Schwester Susanna war Staatssekretär im Außenministerium und stieg nach dem mit Fiat-Hilfe 1996 errungenen Wahlsieg zur Chefdiplomatin auf.

Ein Höhepunkt dieses Zusammenwirkens war 2000 Agnellis Teilnahme als Ehrengast auf dem DS-Parteitag in Turin, bei dem er im Fernsehen auf der Bühne in brüderlicher Umarmung mit DS-Chef Veltroni und Regierungschef D'Alema zu sehen war. Die Sozialdemokraten wollten Fiat für geleistete Wahlhilfe ihren Dank demonstrieren.

Gleichzeitig gehörte Fiat zu den Protegés der 1991 von Umberto Bossi gegründeten Lega Nord. Das entsprach realistischen Wirtschaftsinteressen, denn Leuten wie Agnelli war klar, dass die Korruptionspraxis der DC vom Staatshaushalt nicht länger verkraftet werden konnte und die Konkurrenzfähigkeit der italienischen Wirtschaft in der EU bedrohte. Deshalb unterstützte Fiat die Entmachtung der Christdemokraten durch die Partei Umberto Bossis in der Lombardei.


Den Fall Berlusconis bewerkstelligt

Agnelli widersetzte sich mit Erfolg dem Versuch des von der faschistischen Putschloge P2 an die Macht gehievten Medien-Unternehmers und Chefs der faschistischen Partei Forza Italia (FI), Silvio Berlusconi (erstmals Ministerpräsident für neun Monate 1994, nochmals 2001-2006 und zuletzt 2008-2011), ihn als Nummer Eins des italienischen Kapitals auszuschalten. Dass Berlusconi "den alten Industrieadel" ausschalten wolle, sorge "für Zwiespalt im Unternehmerlager", warnte die FAZ am 4. Juni 2002. Die Auseinandersetzung endete anders als von Berlusconi erwartet. Am 6. April 2010 schrieb die Financial Times Deutschland, dass an einem "Bündnis gegen Berlusconi" gebastelt werde. Die Fäden zum Fall des Medientycoons im November 2011 zog kein Geringerer als der Fiat-Erbe Luca Cordero di Montezemolo, damals FIAT-Präsident, der Berlusconi "die Schuld am Bankrott" des Landes und der "beispiellosen Staatskrise" gab.


Foto: GianAngelo Pistoia [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

Luca Cordero di Montezemolo - hier am 7. Januar 1998 in Maranello bei der Präsentation des Formel-1-Rennwagens Ferrari F300
Foto: GianAngelo Pistoia [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

Damit ging ein Kapitel faschistischer Regierungspolitik zu Ende, ohne dass ein neues verhindert wurde. Berlusconi spielt zwar nicht mehr die erste Geige, die hat der Chef der faschistischen Lega, Matteo Salvini, seit März 2018 Vizepremier, übernommen, der den Ex-Premier noch braucht, wenn er selbst Regierungschef werden will. Was Fiat betrifft, so herrscht seit der Gründung des neuen Unternehmens FCA in Italien eher der Eindruck vor, dass mit Übernahme des US-Amerikaners die Ära Fiat als Repräsentant des "alten Industrie-Adels", der maßgeblich die Geschicke des kapitalistischen Landes mitbestimmte, zu Ende ist.


Fußnoten:

[1] Alan Friedman: Agnelli - Das Gesicht der Macht. Dt. Ausgabe München 1989, S. 48.

[2] Marcella e Maurizio Ferrara: Cronache di Vita italiana 1944-1958, Rom 1990, S. 125.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2019

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