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GUTE-NACHT/2272: Maria ist verschwunden (SB)


Fünfundzwanzig Tage bis Ostern

Bekümmert liegt Maria im Bett. In dem großen alten Holzbett, das Maria von ihrer Großmutter bekommen hat, sieht sie ganz verloren aus. So fühlt sie sich auch. Mama hat sie ins Bett geschickt und geschimpft. Im Nachbarhaus ist zur Zeit Besuch. Mit den Nachbarsleuten hat Marias Familie nicht viel zu tun. Jedes Haus liegt für sich geschützt mit eigener Ausfahrt zur Straße, so begegnen sich die Familien kaum. Über den Zaun hinweg haben die Kinder, Maria und die kleine Klara, sich jedoch angefreundet. Beide verabredeten sich für den Nachmittag. Das war auch soweit okay. Mama war damit einverstanden, daß Maria mit dem jüngeren Mädchen im Garten zusammen spielt. Sie sagte ihr aber: "Maria, ich möchte nicht, daß du in das Haus der Nachbarsleute gehst. Wir kennen sie noch nicht gut. Du kannst mit dem Mädchen spielen, aber du gehst nicht in ein fremdes Haus und läufst auch nicht auf die Straße." Maria war damit einverstanden und sah nach, ob Klara schon im Garten spielte.

Zuerst kam Klara zu Maria in den Garten, die kleine schwarze Nachbarskatze lief immer hinterher. Dann wollte Klara Maria die Schaukel im Garten des Nachbarn zeigen. Maria fragte, ob ihre Mama es ihr erlaubte. Mama nickte und fand es okay. Da klingelte das Telefon, Mama lief ins Haus. Nach ein paar Minuten kam sie wieder heraus. Da war Maria nirgends zu sehen. "Maria, Maria", rief die Mama. Und noch einige Male rief sie. Da kam Maria mit einem schlechten Gewissen und einem Schokoladenosterhasen in der Hand um die Ecke. Mit weinerlichem Ton sagte sie: "Ich wollte ja gar nicht mit rein!" Mama nahm Maria mit ins Haus und fragte, wo Maria gesteckt habe. Maria berichtete: "Klara ist in den Graben gerutscht und hat ganz nasse Füsse bekommen. Sie wollte sich andere Sachen anziehen. Da wollte ich ja gar nicht mit rein, aber dann sagte Klaras Mama, ich könne ruhig mitkommen. Sie gab mir den Schokoladenosterhasen."

Mama war sauer. Nicht, daß sie geglaubt hätte, die Nachbarsleute würden Maria etwas tun. Dann hätte Maria ja erst gar nicht mit dem Nachbarskind spielen dürfen. Aber Mama war sauer, daß Maria sich so einfach einladen und mitnehmen ließ. Das erklärte sie auch Maria, die mit ihrem traurigen Gesicht an dem warmen Kachelofen lehnte. "Ich bin vorsichtig, weil ich nicht möchte, daß dir etwas passiert. Es ist einfach wichtig, daß wir uns aufeinander verlassen können. Und du weißt doch nie, was jemand, den du nicht kennst, auch wenn er sich noch so freundlich anhört oder dir gar etwas verspricht, wirklich von dir will."


*


Jetzt liegt Maria also in ihrem Bett. Der Schokoladenosterhase starrt sie vom Regal aus an. Es scheint als ob er flüstert: "Da habe ich dich heute Nachmittag aber schön angelacht!" - "Sei still, du bist kein Osterhase, du bist ein Lockhase", schimpft Maria. "Du meinst wohl Lockvogel", flüstert es wieder. "Ja." Aber Maria weiß, daß den Hasen keine Schuld trifft. Keiner hat sie gezwungen mitzugehen. Sie hat es freiwillig getan.

Schritte auf der Treppe zeigen an, daß Marias Mama kommt. "Ob sie nochmal schimpft," fragt sich Maria und zieht die Decke über die Nasenspitze. Mama setzt sich auf die Bettkante und nimmt Maria in den Arm: "Morgen gehen wir zusammen zum Nachbarn und lernen sie einmal kennen. Dann kannst du wieder mit Klara spielen." Maria drückt sich ganz fest an ihre Mama und sagt: "Bist du nicht mehr böse?" - "Als ich gerufen habe und du nicht da warst, das war ein ganz großer Schreck für mich. Das weißt du jetzt auch. Und du sollst auch wissen, daß ich dich auf jeden Fall ganz doll lieb habe." Maria verspricht, in Zukunft immer Bescheid zu sagen und zu fragen, ob sie etwas darf. Da schaut der Schokoladenosterhase vom Regal herunter und scheint den Kopf zu schütteln. Er glaubt Maria wohl nicht. "Du wirst es schon sehen", flüstert Maria zurück.


Erstveröffentlichung am 8. April 1998

14. März 2007

Gute Nacht